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Die Marke Guido Reil | AfD-Zugpferd bei Arbeitnehmern

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Professorenpartei war gestern. Die Partei der kleinen Leute soll die AfD sein, hat ihr Vize Alexander Gauland dekretiert. Einer wie das Ex-SPD- und Immer-noch-Gewerkschaftsmitglied Guido Reil kann dabei helfen.

Die NRW-Wahlen gewinnt oder verliert die AfD an der Ruhr. „Ich glaube, dass das Ruhrgebiet deutlich unsere stärksten Ergebnisse haben wird“, meint Landeschef Marcus Pretzell. „Ich kann mir vorstellen, dass wir in einzelnen Städten auch die 20 Prozent knacken.“ Vor allem auf ehemalige SPD-Wähler hat er es abgesehen. „Das ist ein bisschen martialisch ausgedrückt. Aber hätte von mir sein können“, sagt er auf die Frage, ob man der SPD im Ruhrgebiet — einst „Herzkammer der Sozialdemokratie“ — das Herz herausreißen wolle.

Die AfD ist auf dem Weg, unter Arbeitnehmern stärkste Partei zu werden, schon ein gehöriges Stück vorangekommen. Bei der Abgeordnetenhauswahl im September in Berlin, wo sie insgesamt auf 14 Prozent kam, waren es unter den Arbeitern 28 und unter den Arbeitslosen 22 Prozent. Ähnlich im März, als die Partei in Baden-Württemberg insgesamt 15 Prozent erreichte, unter den Arbeitern aber 30 und den Arbeitslosen 32 Prozent.

Reil ist bei diesem Versuch ein Glücksfall für die AfD. „Guido Reil hat sich inzwischen zu einer Marke entwickelt: Ein ehemaliger Vorzeige-Sozi, Gewerkschafter, Arbeiter auf einer der letzten Steinkohlenzechen in Deutschland, Steiger und sozial engagiert. Dieser Mann wechselt plötzlich die Seite. Ein Mann, der Volkes Sprache spricht, der hilft, die Vorurteile gegen die AfD aufzubrechen und Probleme ohne ,political correctness’ beim Namen nennt“, jubelt Stefan Keuter, Chef der AfD in Reils Heimatstadt Essen.

Sein Parteiwechsel war nicht zuletzt ein Mediencoup. Talkshow-Redakteure wollten ihn im Studio haben, Radio und TV hefteten sich an seine Fersen, Zeitungsreporter ließen sich von ihm durch seine Heimat im Essener Norden führen.

Dabei war er in der AfD zunächst misstrauisch beäugt worden. Ob ein Quereinsteiger, erst seit ein paar Monaten Mitglied, gleich nach einem Sitz im Landtag gieren und sich in Talkshows herumreichen lassen sollte, fragten sich manche. Ob denn Reil nicht doch beim ersten Gegenwind seine neue Partei verrate, wie er es mit der alten getan habe. Ob man sich mit ihm nicht eine Quelle ständigen Ärgers einhandele. Sein Kreisvorsitzender Keuter meint, als Landtagsabgeordneter werde Reil „mit seiner lauten und ehrlichen Ruhrpottschnauze den Altparteien graue Haare bescheren“. Reils Gegner in der AfD fürchteten eher um die eigene Haarfarbe. Er sollte, so deren Vorstellung, Zugpferd bei Arbeitnehmern sein, sich aber mit eigenen, höheren Ambitionen zurückhalten.

Das war mit Reil nicht zu machen. Den Delegierten, die ihn auf Platz 26 ihrer Liste wählten, diente er sich als „nationaler Sozialdemokrat“ an. Sowas kommt inzwischen an in der AfD. Dass er die Sprache seiner neuen politischen Heimat spricht, hatte er wenige Wochen vorher bei einer AfD-Demo in Paderborn bewiesen. Über die nach Deutschland gekommenen Flüchtlinge sagte er: „Die kriegen alles in den Arsch geblasen!“ Und zu deren Beweggründen: Sie seien „eben nicht vor Krieg und Verfolgung“ geflüchtet, sondern „vor der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit in ihren eigenen Ländern. Und vor nichts anderem“.

Kommt die AfD am 14. Mai in die Nähe von 15 Prozent, ist ihm das ersehnte Landtagsmandat nicht zu nehmen. Und selbst wenn nicht: Die „Marke“ Reil trägt dazu bei, die AfD ins Parlament zu befördern.


„Musik ist eine Waffe“ | Die Band „Flak“ im Portrait

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Die RechtsRock-Band „Flak“ aus dem Rheinland existiert seit fast zehn Jahren. Gegründet als lokale Haus- und Hofband des „Aktionsbüros Mittelrhein“ (ABM) hat sich die Gruppe einen überregionalen Ruf im RechtsRock-Business erspielt. Dies ist nicht zuletzt auf ihren umtriebigen Sänger Philipp Neumann zurückzuführen.

„Musik ist eine Waffe“:  So die ersten Worte auf dem 2015 erschienenen Flak-Album „Der Maßstab“. In einem pathetisch inszenierten Intro heißt es, dass man „auch in den schwersten Stunden, im dunkelsten Kerker und im Angesicht der größten Übermacht nicht aufgeben“ werde. Dabei ist es kein Zufall, dass dieses Intro von Sven Skoda eingesprochen wurde. Der Düsseldorfer Neonazi gehört zu den ursprünglich 33 Beschuldigten im Verfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen das Aktionsbüro Mittelrhein (ABM), das bis heute vor dem Koblenzer Landgericht läuft. Die Aufnahmen für das Flak-Album dürften nicht lange nach der Entlassung Skodas aus der Untersuchungshaft erstellt worden sein. Ebenfalls in U-Haft waren die in Koblenz angeklagten Philipp Neumann und Erik Höllger. Beide gehören seit deren Gründung und bis heute zu Flak.

Haus- und Partyband des ABM

Gegründet wurde die Band im Jahr 2007. Die Mitglieder stammen aus der Region Bonn und dem nördlichen Rheinland-Pfalz. Parallel zur Gründung von Flak etablierte sich Mitte bis Ende der 2000er das Aktionsbüro Mittelrhein im Hinterland zwischen Bonn und Koblenz. Fest verbandelt mit dem ABM waren die beiden RechtsRock-Bands Flak und Exitus. Letztere existierte nur wenige Jahre und hat das Ermittlungsverfahren gegen das „Aktionsbüro“ nicht überstanden. Die frühen Konzerte von Flak waren von stumpfer NS-Verherrlichung und Rumpelsound geprägt. Neben wenigen eigenen Stücken bestanden die Auftritte aus Coversongs von neonazistischen Kultbands wie Landser oder Radikahl. Der Nazigassenhauer „Blut muss fließen“ durfte bei Konzerten der Band auch nicht fehlen, wie Live-Aufnahmen, die in der Szene kursieren, zeigen. „Hier schlafen ja alle ein, viel zu wenig Sieg Heil und Verfassungswidrigkeit“, ist dabei von der Bühne zu vernehmen.

Veröffentlichungen und Besetzung

Eine erste Veröffentlichung mit dem Titel „Feuertaufe“ ist im Jahr 2010 auf dem sächsischen RechtsRock-Label PC-Records von Yves Rahmel erschienen. Das Debüt-Album wurde von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert, was bei Textzeilen wie „Nürnberg Erwache“, „Alle Verräter werden hängen“ oder Titeln wie „AJAB“ („All Jews Are Bastards“) nicht verwundern dürfte. Die zweite Veröffentlichung „Der Maßstab“ aus dem Jahr 2015, ebenfalls bei PC-Records erschienen, stellt dagegen ein musikalisch abwechslungsreicheres und deutlich professioneller produziertes Album dar, das in der Szene durchweg positiv aufgenommen wurde.

Zur aktuellen Besetzung gehören neben Sänger bzw. Gitarrist Philipp Neumann und Bassist Erik Höllger auch Jens Herder aus dem Oberbergischen Kreis. Gitarrist Herder betreibt zudem das RechtsRock-Projekt Der Oberberger und war zuvor treibende Kraft bei der Band Rufmord. Als Schlagzeuger fungiert in der vierköpfigen Besetzung von Flak ein „Tim“, der aus der Region Magdeburg stammen soll.

„Phil“

Von Anfang an war Sänger und Gitarrist Philipp Neumann zentrale Figur und Aushängeschild der Band. Der 27-Jährige, der aus dem Rhein-Sieg-Kreis stammt, ist nur selten auf neonazistischen Aufmärschen anzutreffen. Häufiger tritt er seit mehreren Jahren unter dem Namen „Phil“ als Liedermacher in Erscheinung. Dabei schafft er es, sich innerhalb verschiedener Spektren der extremen Rechten und auch jenseits der klassischen RechtsRock-Szene zu bewegen. So trat er beispielsweise 2010 beim „Südwestdeutschen Kulturtag“, einer der zentralen Veranstaltungen der völkischen NS-Szene, in Ludwigshafen auf. Neben Events der extremen Rechten im gesamten Bundesgebiet ist „Phil“ mittlerweile auch im europäischen Ausland als Liedermacher gefragt. So stand er am 1. Oktober 2016 bei einem Konzert der bulgarischen Blood & Honour-Sektion auf der Bühne.

Für überregionale Schlagzeilen sorgte Neumann aufgrund eines Auftrittes am 22. Oktober 2016 bei der neonazistischen Partei PNOS in Kaltbrunn/Kanton St. Gallen (Schweiz). Schweizer Behörden versuchten im Vorfeld, ein Einreiseverbot für Neumann zu verhängen. Dies scheiterte, Neumann reiste zusammen mit Sven Skoda dennoch an. Dass die Veranstaltung in der Schweiz im Vorfeld für ein größeres Medienecho sorgte, lag an einem RechtsRock-Konzert, das am 15. Oktober 2016 in Unterwasser (Schweiz) mit rund 5.000 BesucherInnen stattfand. Unter anderem trat hier nach neun Jahren Bühnenabstinenz die neonazistische Kultband Stahlgewitter um Sänger Daniel „Gigi“ Giese (Niedersachsen) und Frank Krämer (Rhein-Sieg-Kreis) auf. Bei dem wohl bisher größten neonazistischen Indoor-Konzert stand auch „Phil“ auf der Bühne: als Gitarrist bei Stahlgewitter.

„Hammerskin“-Connection

Dass Philipp Neumann bei Stahlgewitter ausgeholfen hat, überraschte nicht. Neben seiner Aktivität als Flak-Leadsänger, ist der bestens innerhalb der RechtsRock-Szene vernetzte „Phil“ seit geraumer Zeit noch mit einer weiteren Band unterwegs. Mit Division Germania um ihren aus Mönchengladbach stammenden Frontmann Andreas Koroschetz bereiste Neumann jüngst verschiedene internationale Events der RechtsRock-Szene. Die beiden Musiker pflegen seit geraumer Zeit einen guten Kontakt, Koroschetz war bereits auf dem Flak-Album „Der Maßstab“ bei zwei Liedern als Gastsänger zu hören. Er und sein Bandprojekt Division Germania zählen zur internationalen rassistischen „Bruderschaft“ der Hammerskin Nation. Auch Neumann scheint den Hammerskins nahe zu stehen. So ließ er sich bei einem Konzert mit einem „Crew 38“-T-Shirt auf der Bühne ablichten. Unter dem Label „38“ („crossed hammers“) sammelt sich das Unterstützungsumfeld der Hammerskins.

Gesteigerte Aktivität

Im Laufe des letzten Jahres ist eine gesteigerte Aktivität rund um Flak zu verzeichnen (siehe auch S. 45). Am 5. November 2016 stand die Band zum ersten Mal seit vier Jahren wieder auf der Bühne. Beim „Lichtbringer Festival“, das aus dem direktem Umfeld der Band „tief im Westen des Reiches“ organisiert wurde, trat Flak zusammen mit den Bands Brainwash und Frontalkraft  auf.

Die Mitglieder von Flak sind jenseits des RechtsRock-Business auch weiterhin in neonazistischen Strukturen im Rheinland aktiv. So trug Erik Höllger am 12. November 2016 beim letzten Neonazi-Aufmarsch in Remagen (Rheinland-Pfalz) das Fronttransparent. Dass die Band den Ruf einer authentischen Szene-Band genießt, zeigte sich auch bei der medienwirksam inszenierten „Besetzung“ der Dortmunder Reinoldikirche durch Neonazis am 16. Dezember 2016. Das im Nachgang veröffentlichte „Aktionsvideo“ wurde mit dem Song „Voran“ aus dem ersten Flak-Album „Feuertaufe“ unterlegt. Eine weitere Veröffentlichung ist bereits in Planung. So wird ein gemeinsames Balladen-Album von „Phil“ und Jens Herder mit dem Titel „Kämpfernatur“ angekündigt. Dies soll bezeichnenderweise auf dem Label Gjallarhorn Klangschmiede des führenden deutschen Hammerskins Malte Redeker erscheinen.

Auf den Spuren von Führer, Volk und Vaterland | Die NS-verherrlichende „exklusive Ein Fähnlein-Erlebnisfahrt für Kameraden“

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Für das Wochenende 21. bis 23. April 2017 planen Neonazis eine „historische Exkursion“ in die Eifel und ins Rheinland. Auf dem Programm stehen für den Nationalsozialismus und die völkische Bewegung bedeutende Orte. Im Hintergrund der Reise agiert das Zeitungsprojekt „Ein Fähnlein“, das versucht, eine Brücke zwischen den „alten Kämpfern“ des Nationalsozialismus und heutigen Neonazis zu bauen. Ein entsprechender Personenkreis darf erwartet werden.

Eingeladen zu der „exklusiven Ein Fähnlein-Erlebnisfahrt für Kameraden“ mit den Stationen „Ordensburg Vogelsang – Nibelungenhalle Königswinter – Arno Breker – Auf den Spuren Schlageters – Ausstellung ‚Schaffendes Volk’“ hat der in Bremen lebende Henrik Ostendorf. Ostendorf ist schon seit den 1980er Jahren in der neonazistischen Szene aktiv, sei es im Umfeld der 1995 verbotenen „Freiheitlich Deutschen Arbeiterpartei“ (FAP), der 1992 verbotenen „Nationalistischen Front (NF)“ oder später in der NPD. In den 2000er Jahren arbeitete er für die NPD und schrieb für deren Parteizeitung „Deutsche Stimme“ (DS). Schon in dieser Zeit ließ sich sein Interesse an den „Veteranen“ des Nationalsozialismus feststellen. 2006 berichtete er für die DS über ein Treffen zum Andenken an Soldaten der Waffen-SS auf dem Ulrichsberg in der Nähe von Klagenfurt in Österreich.

„Erhaltung von Tugend und Tradition“

2012 erschien die erste Ausgabe des Magazins „Ein Fähnlein“, das von Ostendorf herausgegeben wurde. Im Untertitel wird das Anliegen der Zeitschrift benannt: „Zur Erhaltung von Tugend und Tradition“. Welche „Tugend und Tradition“ gemeint ist, wird beim Durchblättern schnell klar. In einem in „Ein Fähnlein“ publizierten Gedicht wurde beispielsweise unter Verwendung des verbotenen Wahlspruchs der SS – „Meine Ehre heißt Treue“ – das mörderische Agieren der Nazis legitimiert: „Was wäre denn heute, wenn sie nicht gewesen? Die Antwort kann nur sagen, der selbst dabei gewesen. Es wäre gekommen, wie es keiner gewollt, die Masse aus dem Osten hätte Europa überrollt. Darum gaben sie alles und ganz ohne Reue, sie kannten nur eins: ‚Meine Ehre heißt Treue‘.“ In dem vierfarbigen Magazin finden sich vor allem Berichte von „Veteranentreffen“, Erlebnisberichte aus dem 2. Weltkrieg – selbstverständlich nur von Truppenteilen, die auf Seiten der Deutschen kämpften –, aber auch Berichte von Aktionen, die an die Tradition von Wehrmacht und Waffen-SS anknüpfen.

Wie zum Beispiel über den „Ausbruchsmarsch“ 2012 in Budapest, der „im Gedenken an die Einheiten von Heer und Waffen-SS der Verteidigung von Budapest 1945“ stattfand. Die NS-verherrlichenden Gedenkveranstaltungen anlässlich der Jahrestage des gescheiterten Ausbruchsversuches aus der von der Roten Armee eingekesselten Stadt vom 11. Februar 1945 werden in Budapest unter anderem vom in Deutschland verbotenen „Blood & Honour“-Netzwerk organisiert. Derartige Berichte in „Ein Fähnlein“ sind Programm. Zum Erscheinen der ersten Ausgabe hieß es, man werde „nicht nur über die Vergangenheit, sondern auch über unsere Gegenwart berichten“. Man wolle „nicht zum reinen Konsumieren, sondern zum Mitmachen einladen. Es gibt viel zu tun, packen wir’s an! Wir sind nicht nur Schreibtischtäter, sondern lassen den Worten auch Taten folgen.“

Verbindungen nach NRW

Der Kreis um „Ein Fähnlein“ hat beste Verbindungen nach NRW, das zeigen schon die Werbeanzeigen von „Balmung Ausrüstungen“, dem Versand von Ralph Tegethoff. In seinem in Bad Honnef-Ägidienberg (Rhein-Sieg-Kreis) ansässigen Versand bietet der seit den 1980er Jahren in der neonazistischen Szene aktive Neonazikader und „Kameradschaftsführer“ der „Kameradschaft Rhein-Sieg“ (auch mit Bezug auf die SA als „Sturm 8/12“ auftretend) unter anderem Nachbildungen von Wehrmachtsbekleidung und -ausrüstungen an.

Wer die Website von „Ein Fähnlein“ aufruft, wird weitergeleitet auf „soldatenbiographien.de“. Verantwortlich zeichnet hier Ostendorf, angemeldet ist die Website aber auf Dennis Krüger aus Bottrop. Auch Krüger ist seit vielen Jahren in der Neonazi-Szene aktiv, er agiert aber seit Jahren weniger auf der Straße, sondern eher „kulturell“ im Hintergrund. Er gehörte einst dem Herausgeberkreis der neonazistischen Zeitschrift „Der Förderturm“ an, war federführend an der Postille „Trojaburg“ beteiligt, betreibt den „Forsite-Verlag“ und „Parzival-Versand“ und wirkt am Zeitschriftenprojekt „Reconquista“ mit. Er bietet esoterische, okkulte und germanophile Schriften an, die teilweise aus dem Nationalsozialismus stammen oder diesen verherrlichen.

Die Fahrt – Freitag und Samstag

„Diese Information ist NICHT für das Internet/facebook und die Öffentlichkeit bestimmt!“, heißt es in der internen Einladung zu der „Erlebnisfahrt“. Zu offensichtlich ist der NS-verherrlichende Charakter der Fahrt und das politische Milieu, aus dem heraus sie organisiert wurde, als dass Interesse an einer öffentlichen „Würdigung“ bestünde. Man möchte unter sich bleiben und sich in diejenigen Zeiten zurück katapultieren, die man glaubt verpasst zu haben. Das Programm führt die Teilnehmer_innen zu entsprechenden Orten.

Am Freitagmittag steht ab 13 Uhr eine Besichtigung der ehemaligen NS-Ordensburg Vogelsang in der Eifel auf dem Programm, nicht nur „eines der größten Bauwerke des Nationalsozialismus, sondern auch Ausdruck seiner Überheblichkeit und Menschenverachtung“, wie die Homepage „vogelsang-ip.de“ aufklärt (siehe auch Günter Born: In Stein gehauene Ideologie, in: LOTTA #24, Herbst 2006, S. 4-6). Es bestünde – so Ostendorf – auf dem Vogelsang-Gelände ab 12 Uhr „die Möglichkeit einer kurzen Erfrischung […] im alten Schwimmbad“, in dem bis heute unter anderem ein großes Wandmosaik aus der NS-Zeit zu sehen ist. Das Bad ist öffentlich zugänglich und wird unter anderem auch von Geflüchteten genutzt, die in einer Unterkunft des Landes NRW auf dem Gelände untergebracht sind.

Kaum zu vermuten ist, dass die neonazistische Reisegruppe anschließend an einer Führung durch die sehenswerte, 2016 eröffnete Dauerausstellung „Bestimmung: Herrenmensch. NS-Ordensburgen zwischen Faszination und Verbrechen“ interessiert ist. Stattdessen dürfte man eher das „Herrenmenschen“-Ambiente atmen wollen, die Welt – oder zumindest den Nationalpark Eifel – zu Füßen herunter ins Tal blicken und über das Gelände wandeln, begleitet von Kurzreferaten ihres „Reise-Führers“.

Apropos „Führer“: Abends soll es dann, so verrät das Programm, zur Übernachtung in eines „der absoluten Lieblingshotels Adolf Hitlers“ gehen: „Spitzenlage direkt am Rheinufer, meist mit herrlichem Blick auf den Fluß und das Siebengebirge“. In dem „außergewöhnlichen Hotel der Spitzenklasse“ soll nicht nur geschlafen werden, sondern es sind noch ein „kameradschaftliches Beisammensein & Einsatzbesprechung des nä. Tages“ vorgesehen.

Am Samstagvormittag soll dann die Nibelungenhalle in Königswinter (Rhein-Sieg-Kreis) besucht werden, um anschließend in den „Großraum Düsseldorf“ weiterzufahren. Dort steht am Nachmittag eine „militärhistorische Überraschung“ auf dem Programm, anschließend ist eine „geführte Besichtigung durch das Arno-Breker-Atelier“ in Düsseldorf-Lohhausen geplant („alternativ: Breker-Museum, Nörvenich“ im Kreis Düren). Arno Breker war einer der bedeutendsten Bildhauer des Nationalsozialismus. Der anschließende „Besuch“ des im Programm zum „Blitzschleuderer“ degradierten „Blitzeschleuderers“, einer im Kreisverkehr vor der Düsseldorfer „Esprit-Arena“ stehenden, fünf Meter hohen Bronzeskulptur des Breker-Lehrers Hubert Netzer, die den „germanischen Donnergott Donar“ abbilden soll, passt zur Breker-Verehrung der NS-Reisegruppe.

Weitergehen soll es danach im nördlichen Düsseldorfer Stadtteil Kaiserswerth, der idyllisch am Rhein gelegenen und 1929 eingemeindeten ehemaligen „Reichsstadt“. Ziel ist hier die direkt am Rhein gelegene „Barbarossa-Kaiserpfalz, der späteren Schlageter-Gedenkstätte der HJ“, wie es im Programm heißt. Das Gelände und die Ruinen der Kaiserpfalz waren von der „Hitlerjugend“ als Treffpunkt und Gedenkort sowie für Selbstinszenierungen genutzt worden.

Den Samstag ausklingen lassen möchte man mit einem „gemeinsamen Abendessen (auf eigene Kosten) mit Vortrag über Albert Leo Schlageter“, dem „Bezug des Quartiers“ und dem bereits bekannten Programmpunkt „Kameradschaftliches Beisammensein & Einsatzbesprechung des nä. Tages“. Wer den Vortrag halten soll, wird nicht verraten. Daran interessiert sein könnte der Düsseldorfer Neonazikader und Schlageter-Verehrer Sven Skoda, der seine Verlautbarungen gerne mal mit „Sven Skoda, Schlageterstadt“ unterzeichnet und schon in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre Artikel über sein Vorbild in neonazistischen Periodika veröffentlichte.

Neonazistische Spurensuche am Sonntag

Auch am Sonntag, 23. April 2017, soll bis 14 Uhr der in der extremen Rechten allseits verehrte Freikorps-„Held“ Albert Leo Schlageter im Vordergrund stehen. Wegen durchgeführter Sabotageaktionen gegen die französische Besetzung des Ruhrgebiets in Folge nicht geleisteter Reparationsleistungen wurde Schlageter nach einem nicht sonderlich geglückten Sprengstoffanschlag auf eine Eisenbahnbrücke zwischen Duisburg und Düsseldorf am 7. April 1923 in betrunkenem Zustand von der französischen Polizei in Essen festgenommen. Er hatte dort trotz mitgeführter gefälschter Papiere mit seinem richtigen Namen in einem Hotel eingecheckt – mit einem Koffer voller Sprengkörper im Gepäck. Er wurde in Düsseldorf inhaftiert, zum Tode verurteilt und am 26. Mai 1923 in der Golzheimer Heide hingerichtet.

Vielen galt er schon vor der Machtübertragung an die NSDAP als „Volksheld“ und „Freiheitskämpfer“, es entstand ein regelrechter Kult um den „letzten Soldaten des Weltkriegs und ersten Soldaten des Dritten Reichs“. Die Nationalsozialisten bauten diesen Mythos aus und nutzten ihn (vgl. hierzu LOTTA #18, S. 50-53). Das „Wirken und Sterben von Albert Leo Schlageter“ sollen – so verrät das „Ein Fähnlein“-Programm – am 23. April 2017 „nacherlebt“ werden, ebenso, „wie sich der aktive Widerstand der Kameraden im Ruhrkampf gestaltete“. Nach einer „Einführung in die Thematik“ an einer „geeigneten Stelle zur Unterbrechung der Eisenbahnverbindung, an der aber im Endeffekt doch kein Anschlag erfolgte“ sollen dann in kleineren Gruppen mehrere Punkte angefahren werden, die für das „Wirken und Sterben Schlageters“ stünden. Zum einen die Stelle in Düsseldorf-Kalkum, an der der „verhängnisvolle Anschlag im April 1923 von Schlageter und seinen Männern durchgeführt wurde“. Zum anderen „das Gefängnis, in dem Schlageter bis zu seiner Hinrichtung durch die Franzosen schmorte“ – die seit 2012 nicht mehr als JVA genutzte und derzeitig im Abriss befindliche „Ulmer Höhe“ in Düsseldorf-Derendorf – und abschließend die „Hinrichtungsstelle auf der Golzheimer Heide, die später zum Schlageter-Nationaldenkmal wurde“.

Das Denkmal – 50 Meter von der Hinrichtungsstelle entfernt – war 1931 eingeweiht worden, 1946 wurde es gesprengt. 1958 wurde an dieser Stelle des Nordfriedhofs das städtische „Drei Nornen“-Mahnmal eingeweiht, das bis heute den „Opfern des Krieges und der Gefangenschaft“, „den Opfern in der Heimat, den Vermissten und Hinterbliebenen“ und „den Opfern des politischen Terrors“ gedenkt.

Um 14 Uhr am Sonntag ist dann das Hauptprogramm der Fahrt zu Ende, schließlich haben einige „Kameraden“ noch eine weite Heimreise vor sich. Für die ganz Harten aber gibt es noch ein „Bonusprogramm nach dem offiziellen Abschluss auf der Golzheimer Heide“: „der Besuch der NS-Mustersiedlung und Ausstellung ‚Schaffendes Volk’“. Hierzu zählt ein „geführter Rundgang über das Gelände der ehemal. Ausstellung ‚Schaffendes Volk‘ und zweier NS-Mustersiedlungen (ca. 2 ½ Stunden zu Fuß)“. Die „Reichsausstellung Schaffendes Volk“, die von über sechs Millionen Menschen aus dem In- und Ausland besucht wurde, präsentierte 1937 propagandistisch das „neue deutsche Wohnen“, das „neue deutsche Arbeiten“ und die „neue deutsche Kunst“.

Auf dem in Fußnähe des Nordfriedhofs gelegenen Gelände befinden sich heute der Düsseldorfer „Aquazoo“, der „Japanische Garten“ und der auch damals schon existierende Nordpark. Am Rand des damaligen Ausstellungsgeländes gelegen waren die beiden „NS-Mustersiedlungen“ – die „Wilhelm-Gustloff-Siedlung“ (heute „Nordparksiedlung“) für Arbeiter und die „Schlagetersiedlung“ (heute „Golzheimer Siedlung“) für Bessergestellte in der „Volksgemeinschaft“, zu denen auch der Düsseldorfer NSDAP-„Gauleiter“ Friedrich Karl Florian zählte.

„Volksgemeinschaft“ für Besserverdienende


Das „Komplettpaket Freitag bis Sonntag“ mit zwei Übernachtungen, Frühstück und Eintritten kostet im Doppelzimmer 220 Euro, im Einzelzimmer 270 Euro. Die weniger gut verdienenden in der „Volksgemeinschaft“ werden hier eher abwinken. Oder erst – wie angeboten – am 22. April in Königswinter hinzustoßen, also erst ab Samstag am Programm teilnehmen. Diejenigen aber, die es sich leisten können, werden am Tag nach dem 128. „Führergeburtstag“ in die Eifel reisen, sofern die Mindestteilnehmer_innenzahl der „Ein Fähnlein-Erlebnisfahrt“ – acht Personen – erreicht wird. Die maximale Teilnehmer_innenzahl beträgt 20 Personen.

„Skinhead Way of Life“ und Nazi-Inhalte | Die Band „Smart Violence“

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In den vergangenen Jahren erfreuten sich RechtsRock-Bands, die sich stilistisch an Metalcore und Hardcore orientierten, einer großen Beliebtheit in der Szene. Die nordrhein-westfälische Band „Smart Violence“ hält hingegen weiterhin den Skinhead-Kult hoch und möchte zurück zu den angeblichen „glory days of R.A.C.“ Ihre Songtexte drehen sich aber nicht nur um den „Skinhead Way of Life“, sondern sind ebenso deutliche Bekenntnisse zur neonazistischen Ideologie.

Die Band Smart Violence gründete sich 2012 und brachte noch im selben Jahr die Demo-CD „hard hitting skinhead rock“ bei Old School Records, einem der führenden deutschen Label für RechtsRock, heraus. Die Bandmitglieder sind keine Szene-Neulinge, sondern können zum Teil auf jahrelange Erfahrung im neonazistischen Musik-Bereich zurückgreifen. Der Kern der Band besteht aus ehemaligen Mitgliedern der 2002 gegründeten Angry Boot Boys. In Interviews erklärte Smart Violence, sie habe sich gebildet, weil Angry Boot Boys eine längere Pause absolvieren würde. Aufgelöst hätte sich die Band aber nicht.

Nachfolge-Band der „Angry Boot Boys“

Bereits Teil der Angry Boot Boys waren der Sänger und Gitarrist von Smart Violence, der aus Marl (Kreis Recklinghausen) stammende Michael Brosch, sowie deren Schlagzeuger Patrick Gerstenberger. aus Hamm. Sie gehören mittlerweile der Ü30-Fraktion der RechtsRock-Szene an und wirk(t)en auch in anderen Projekten mit. Gerstenberger trat beispielsweise 2011 beim Deutsche Stimme-Pressefest als Schlagzeuger der Band Rotte Charlotte auf und war zuletzt bei Liveauftritten von Division Germania dabei. Unterstützt werden die Angry Boot Boys-Mitglieder im Studio und auf der Bühne unter anderem durch Patrick Carstensen von der Berliner Band Punkfront und dem aus Oberfranken stammenden Reiko Öttinger. Als Smart Violence am 4. Oktober 2015 beim „Hammerfest“ in den USA auftrat, reiste mit ihnen auch Martin Böhne. Der Neonazi aus Hamm ist derzeit ein gefragter Gitarrist, der bei zahlreichen RechtsRock-Bands aushilft.

Musikalisch klingt Smart Violence ähnlich wie ihre inoffizielle Vorläuferband, die ebenfalls den Musikstil englischer Oi-Bands kopierte. Auch thematisch weisen die Bands, vor allem durch die Bezugnahme auf den Skinhead-Kult in Songs wie „Skinhead“, „Gekreuzigt“ oder „Albtraum in Orange“, große Parallelen auf.

Im Fanzine Feindkontakt führte Smart Violence über ihre Namenswahl aus: „Gewalt gehört zum Way of life dazu wie das Amen in der Kirche. Da wir immer noch den ‘Clean-British-Look’ bevorzugen passt der Bandname vorzüglich zu unserer Kombo. Musikalisch kann man das Ganze im harten Oi!/RAC Sektor einstufen.“ Vorbilder seien Bands wie Condemned 84 oder English Rose.

Mit neueren Entwicklungen im rechten Musikbereich können die Bandmitglieder wenig anfangen. Ihre Ablehnung für NS-Rap brachte bereits Angry Boot Boys auf ihrer letzten Veröffentlichung aus dem Jahr 2012, einer Split-CD mit Punkfront, zum Ausdruck. In einem Song heißt es: „Wir haben keinen Bock auf NS Hip Hop, (…) Skinheads haben keinen Bock auf Hip Hop“. Im Interview mit dem Online-Fanzine Hail the new dawn stellte ein Bandmitglied klar, dass Kameraden, die glücklich damit würden, sich im Stil von „Hardcore Kids“ zu kleiden, dies eben tun sollten. Ebenso bliebe er mit einigen alten Freunden, die mittlerweile „Autonome Nationalisten“ seien, befreundet. Er sei aber weiterhin ein Skinhead.

Nazi-Ideologie

Dass Smart Violence nicht bloß eine Skinhead-Band, sondern eine ideologisch gefestigte Neonazi-Combo ist, wird bereits im Intro des ersten Albums „Herkunft & Idenität“ aus dem Jahr 2014 deutlich. Darin ist eine Rede des NSDAP-Politikers Gregor Strasser aus dem Jahr 1932 zum Wesen des nationalsozialistischen Staates mit pathetischer Musik unterlegt. Das Cover der CD zeigt einen Skinhead, der eine schwarze Fahne trägt. Die schwarze Fahne fand beim vermeintlich „antikapitalistischen“ Flügel der NS-Bewegung um die Brüder Strasser ebenso symbolische Verwendung wie sie sich aktueller Beliebtheit in der Neonazi-Szene erfreut (vgl. LOTTA #63: Die Symbolgeschichte der schwarzen Fahne). Die Grafik des Covers macht die Agenda der Band deutlich: die positive Bezugnahme auf den Skinhead-Kult mit neonazistischen Bildwelten und Inhalten zu verbinden.

Im titelgebenden Song des Debüt-Albums beschwört die Band nicht nur die Identität als Sohn der „mit den Händen schaffenden Arbeiterklasse“, sondern ebenso den „Stolz Deutscher zu sein“: „Deine Herkunft ist deine Identität.“ Im Song „White Pride“ bekennt sich Smart Violence offen zur „Rassenideologie“ und singt: „They preach us equality, but we don`t believe in diversity. White pride, we are the sons of this land. Working for race and nation. And we take a stand.“ Ihren homophoben Standpunkt drückt die Band im Song „We don`t need“ aus; ihren Antisemitismus offenbart sie durch ein T-Shirt-Motiv mit der Aufschrift „I love beer — I hate juice“, bei dem die Band mit dem ähnlichen Klang der Wörter „juice“ (Saft) und „jews“ (Juden) spielt.

2016 veröffentlichte Smart Violence ihr zweites Album „For to the glory days of R.A.C.“, das ebenso wie Split-CDs mit den Bands Lemovice (Frankreich) und Orgullo Sur (Chile) bei Old School Records erschien.

„Grauzone“ und „Hammerskins“

Trotz der inhaltlich unmissverständlichen Texte und ihren engen Verbindungen in die Neonazi-Szene versuchen einige Bandmitglieder, sich auch in der „Grauzone“ vermeintlich unpolitischer, sich aber nur unzureichend von extrem rechten Szene-Akteuren und Inhalten abgrenzenden Oi-Bands zu bewegen. 2011 wurde ein Konzert der Angry Boot Boys in Borken, bei dem die Band versuchte, unter dem Namen Kids from the streets in einem Kulturzentrum aufzutreten, durch eine antifaschistische Intervention unterbunden. Smart Violence-Frontmann Michael Brosch ist als Sänger für die Oi-Band Drencrom Skins, die jüngst beim Label Subcultural Records eine Split-CD mit den Bands Sankt Oi! und Prolligans veröffentlichte, aktiv. Die CD wird auch von Neonazi-Versänden wie OPOS Records vertrieben. In der Allgäuer Band Prolligans, seit einigen Jahren wegen Kontakten zu Neonazis umstrittenen, spielt er die zweite Gitarre. Prolligans ist ebenfalls eine Labelband von Subcultural Records. Die Firma aus Memmingen gibt sich den Anschein eines Oi-Labels, hat aber neonazistische Bands wie  Pitbullfarm (Schweden) und Noie Zeit aus Rheine im Programm.

Im Interview mit dem Online-Fanzine Hail the new dawn erklärte Smart Violence, dass sie keine Crew oder Organisation unterstützen würde, sondern eine unabhängige Band sei. Gleichwohl ist auffällig, dass drei ihrer wenigen Live-Auftritte bei Konzerten der Hammerskins stattfanden. Neben dem bereits erwähnten „Hammerfest“ spielte die Band 2015 bei zwei Hammerskin-Konzerten in Thüringen. Für den 22. April 2017 ist sie für ein Konzert der serbischen Blood & Honour-Division angekündigt. Auch Angry Boot Boys trat bereits bei Blood & Honour-Konzerten auf, so im Oktober 2011 beim „Ian Stuart Memorial“ in Belgien.

Keine umfassende Aufklärung | NSU-Untersuchungsausschuss NRW legt seinen Abschlussbericht vor

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Nach 54 Sitzungen, bei denen 75 ZeugInnen gehört wurden, hat der Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) des nordrhein-westfälischen Landtags seine Arbeit mit der Veröffentlichung seines Schlussberichts beendet.

Einen besonders guten Start hatte der erst im November 2014 nach einer Initiative der Piraten-Abgeordneten Birgit Rydlewski eingesetzte PUA nicht hingelegt. Zuerst tat sich — abgesehen von durchaus interessanten Sachverständigen-Hearings — wenig. Bauliche Maßnahmen zum Geheimschutz verzögerten den Beginn der Akten-Arbeit. Zudem musste die Vorsitzende des PUA, die SPD-Politikerin Nadja Lüders, ihr Amt niederlegen, als bekannt wurde, dass sie Ende der 1990er Jahre den späteren PolizistInnenmörder Michael Berger in einem Arbeitsrechtsverfahren anwaltlich vertreten hatte.Erst nach den Sommerferien 2015 konnte die eigentliche Beweisaufnahme, nun unter dem neuen Vorsitzenden Sven Wolf (SPD), beginnen.

Bis zum Beginn der Sommerferien 2016 tagte der PUA dann häufig. Neben den drei dem NSU zugerechneten Taten — den Bombenanschlägen in der Probsteigasse 2001 und in der Keupstraße 2004 sowie dem Mord an Mehmet Kubaşık 2006 — wurden außerdem ZeugInnen zu den Morden des Michael Berger (vgl. LOTTA #63, S. 44-47) sowie zu den Todesumständen des V-Mannes „Corelli“ gehört (vgl. LOTTA #63, S. 48-49) vernommen. Laut Einsetzungsbeschluss sollte sich der PUA zudem mit den Ermittlungen und der behördlichen Aufarbeitung nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 sowie mit der Frage nach möglichen Unterstützungsstrukturen in der nordrhein-westfälischen Neonazi-Szene befassen. Ein Programm, für das eine Beweisaufnahme-Zeitspanne von ein bis eineinhalb Jahren zu kurz bemessen war.

Steinbruch mit Leerstellen

Die AutorInnen des Schlussberichts haben teils akribisch das vorliegende Aktenmaterial ausgewertet.1 Dies gilt beispielsweise für das Kapitel über drei 1992/1993 in Köln verübte Bombenanschläge, die zum Teil große Parallelen mit dem Probsteigassen-Anschlag aufweisen (S. 84-104). Der PUA behandelte diese Taten, nachdem NSU-Watch NRW öffentlich auf sie hingewiesen hatte. Die Ausführungen im Bericht stehen aber oftmals unverbunden und vielfach ohne Bewertung nebeneinander. Politische Schlussfolgerungen müssen weitestgehend ohne Unterstützung des PUA gezogen werden. Der Bericht verzichtet weitestgehend darauf, kritische Fragen zu bündeln — trotz vorhandener Materialbasis.

Aber nicht alle offenen Fragen lassen sich auf Aktengrundlage beantworten. So bleiben im Bericht inhaltliche Leerstellen. Hier hätte es weiterer ZeugInnen-Vernehmungen bedurft, selbst wenn diese mit Blick auf die bei vielen BehördenvertreterInnen verbreiteten „Erinnerungslücken“ nicht die Garantie größerer Aufklärung geboten hätten. Zeit für weitere Befragungen hätte der PUA noch gehabt, wenn er nicht nach der Sommerpause 2016 nur noch auf „Sparflamme“ gearbeitet hätte.

Vollkommen unzureichend hat sich der PUA mit dem Bombenanschlag auf dem Düsseldorfer S-Bahnhof Wehrhahn im Jahr 2000 (siehe S. 4 in dieser LOTTA-Ausgabe) befasst. Bis zur Verhaftung des Tatverdächtigen Ralf Spies im Februar 2017 waren die Verfahrensakten als vertrauliche Verschlusssachen eingestuft. Der PUA beschäftigte sich aus Rücksicht auf die laufenden Ermittlungen erst anschließend und damit viel zu spät mit dem Anschlag. So hörte der PUA am Ende nur drei Zeugen von Polizei und Staatsanwaltschaft. Eine umfassende Untersuchung der Ermittlungen unterblieb.

Überhaupt nicht aufgeklärt ist die Rolle des NRW-Verfassungsschutzes (NRW-VS), der mit Andre M. einen V-Mann im unmittelbaren Umfeld von Spies führte, dies der Polizei aber bis ins Jahr 2012 verschwieg — dann allerdings sogleich ein vorgebliches Alibi seines Schützlings für den Tattag präsentierte. Der PUA machte sich nicht die Mühe, diese Zusammenhänge zu untersuchen, obwohl bereits am 1. Juli 2016 einstimmig Beweisbeschlüsse gefasst worden waren, wonach Andre M., dessen V-Mann-Führer, ein weiterer Verfassungsschutzmitarbeiter sowie eine V-Person der Polizei und eine polizeiliche V-Personen-Führerin als ZeugInnen gehört werden sollten (S. 977-982). Im Dezember 2016 wurden zwei dieser Beweisbeschlüsse sogar noch einmal konkretisiert (S. 1009f). Die Befragungen dieser ZeugInnen hätte die laufenden Ermittlungen der Polizei vermutlich nicht gestört, zumal sie ohnehin nicht in öffentlicher Sitzung stattgefunden hätten — wie so oft, wenn es im Ausschuss um ZeugInnen aus dem Tätigkeitsfeld des V-Leute-Systems und der VS-Ämter ging.

Erkenntnisse zu den NSU-Taten

Die Ermittlungen zu den drei dem NSU zugerechneten Taten sind dagegen umfangreich im PUA-Schlussbericht dargestellt. Deutlich wird, dass bei den Ermittlungen zu den Anschlägen in der Probsteigasse und in der Keupstraße sowie zum Mord an Mehmet Kubaşık ein möglicher rassistischer Hintergrund der Taten von Polizei und Staatsanwaltschaft nur unzureichend untersucht oder, wie im Falle der Keupstraße, schlicht ignoriert wurde. Die Erkenntnis ist nicht neu, auch der Bundestags-PUA hatte dies bereits festgestellt.

Mit den Ermittlungen nach 2011 hat sich der Ausschuss nicht intensiv befasst. Eine Ausnahme stellt das Kapitel zum Anschlag in der Probsteigasse dar. Hier stellt sich der Ausschuss gegen die Trio-Theorie der Bundesanwaltschaft, meldet „erhebliche Zweifel“ an einer Täterschaft von Mundlos bzw. Böhnhardt an und zieht stattdessen „eine weitere — bislang nicht identifizierte — Person als mögliches Mitglied oder Unterstützer des NSU“ oder eine „völlig andere, nicht dem NSU zuzurechnende Person“ als Täter in Betracht (S. 313ff).

Als zeitweise tatverdächtig galt der stellvertretende „Kameradschaftsführer“ der Kameradschaft Walter Spangenberg, Johann H., ein V-Mann des VS NRW. Diese Spur haben die BKA-Ermittlungen nach Meinung des Ausschusses nur unzureichend verfolgt. Zudem habe der VS NRW die Ermittlungen massiv „beeinträchtigt“. So verschwand ausgerechnet jenes Foto, auf dem eine Mitarbeiterin des Bundesamtes für Verfassungsschutz im Februar 2012 eine Ähnlichkeit von H. mit dem Phantombild des Täters erkannt hatte, in der Schublade des NRW-Geheimdienstes. Stattdessen recherchierte der VS NRW Fotos im Internet, stufte selbige aber als Verschlusssache ein und übersandte sie an die Bundesanwaltschaft. Ergebnis dieses Vorgehens: Die Fotos von H. erreichten die ermittelnden BKA-BeamtInnen mit Ausnahme eines qualitativ schlechten Ganzkörperfotos nicht (S. 326f). Das BKA musste mit einer fragwürdigen Fotomontage arbeiten, die AugenzeugInnen konnte keine Person als Täter identifizieren.

Deutlich arbeitet der Bericht auch die tragende Rolle heraus, die der V-Mann H. für die Kölner Kameradschaft spielte (S. 113-125). Hier tritt der Ausschuss der Behauptung des Anwalts von H. entgegen, sein Mandant sei ein „geheimer Mitarbeiter“ und somit so etwas wie ein Undercover-Agent gewesen. Im Bericht wird klargestellt, dass der Begriff „geheimer Mitarbeiter“ ein älteres Synonym für V-Mann ist (S. 700).

„Umgang mit den Opfern“

Der PUA hörte als erster NSU-Untersuchungsausschuss auch Betroffene der NSU-Taten und Angehörige des Mordopfers Kubaşık. Emotionale Worte findet das Geleitwort des Schlussberichts zur Würdigung und Anerkennung der Opfer. Die „Gedanken“ der VerfasserInnen seien bei den Überlebenden und Angehörigen „In der unbedingten Hoffnung“, so heißt es weiter, „dass sie [die Betroffenen] einen Weg finden, mit den schrecklichen Taten und ihren Folgen leben zu können“ (S. 3). Leider wird auf den über tausend Seiten des Berichtes immer wieder deutlich, dass den PolitikerInnen an kaum einem Punkt klar geworden ist, dass auch gerade ihre Arbeit Teil der für die Betroffenen, Überlebenden und Angehörigen überlebenswichtigen Ver- und Bearbeitung des Geschehenen ist.

Dass der Ausschuss dieser Verantwortung im Ganzen nicht gerecht geworden ist, wird dort besonders augenscheinlich, wo es um die ausdrückliche Darstellung und Bewertung des „Umgangs mit den Opfern“ — so die Kapitelüberschriften — geht, also um die Frage, wie Polizei, Justiz sowie behördliche oder polizeinahe Opferschutz-Einrichtungen den Überlebenden und Angehörigen begegnet sind. Zum Bombenanschlag auf das Lebensmittelgeschäft in der Probsteigasse etwa gibt der Bericht lediglich wieder, dass die damals 14-jährige Tochter der InhaberInnenfamilie ohne eine erziehungsberechtigte Person von der Polizei verhört worden ist. Die BeamtInnen konnten sich nicht mehr daran erinnern, was damals die Gründe dafür waren, dass von den gesetzlichen Bestimmungen zur Befragung von Minderjährigen abgerückt wurde (S. 329).

Eine (positive) Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang die zusammenfassende Darstellung zum Umgang mit den Überlebenden und ZeugInnen des Anschlags in der Keupstraße dar. So heißt es dort, dass „das Verhalten der Polizei zu einer erneuten Viktimisierung der Opfer“ geführt hätte und die Ermittlungen als „versuchte Kriminalisierung der Opfer“ zu werten seien (S. 412).

Im Kapitel zum Umgang mit den Angehörigen von Mehmet Kubaşık hingegen zeigt sich, dass die VerfasserInnen nicht nur der Empathie nicht fähig sind, sondern ihnen sogar jeder wiederholt und nachdrücklich beschworene Wille, den Betroffenen und Angehörigen zugewandt zu sein, vollständig abgeht. Regelrecht abgebrüht wird hier die Glaubwürdigkeit der Berichte der Zeuginnen Elif und Gamze Kubaşık, Ehefrau und Tochter des Ermordeten, gegen die Aussagen von PolizeibeamtInnen und des Oberstaatsanwalts gestellt. Den „Vorwurf“ (sic!), den „die Zeugin Gamze Kubaşık […] erhoben hat, die Polizei habe es [bei der Befragung ihrer Familie und des Umfelds in der Nachbarschaft] an der nötigen Sensibilität fehlen lassen, vermag der Ausschuss nicht abschließend zu bewerten“, schreiben die AutorInnen. Es ließe sich nicht entscheiden, „inwieweit diese Kritik zutrifft“ (S. 516).

Hier wird auf brutale Art und Weise deutlich, dass die AutorInnen dieser Zeilen kein Verständnis davon haben, dass es hier nicht um eine Frage von Beweisen, sondern um die Anerkennung der Wahrnehmungen von Opfern massiver Gewalt geht. Die Angehörigen sahen ihren Vater bzw. ihren Mann mit dem Verdacht der Täterschaft stigmatisiert, ganz gleich, wie sehr sich die PolizeibeamtInnen, die seinerzeit danach gefragt hatten, ob Mehmet Kubaşık an Drogengeschäften beteiligt gewesen sei oder eine heimliche Geliebte gehabt habe, als sensible VernehmungsexpertInnen empfunden haben mögen. Der Ausschuss aber folgt in seinem Bericht eben dieser Erzählung und unterstellt zwischen den Zeilen, dass die Familie Kubaşık die Polizeiarbeit bis heute auf überzogene Weise schlecht gemacht oder zumindest missverstanden habe und nun unangemessene Ansprüche zu ihrer Unterstützung gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaft formuliere. Die Polizei, so resümiert der Bericht, habe ihr Möglichstes getan, um auch die heikelste Befragung der Familie für diese transparent zu machen und Unterstützung zu leisten.

Es macht fassungslos, dass die Gesten der Zugewandtheit und Empathie, die den Zeuginnen Elif und Gamze Kubaşık am Tag ihrer Aussagen vor dem PUA entgegengebracht worden sind, am Ende so wenig Substanz haben. Dazu passt, dass lediglich die Piraten und Bündnis 90/Die Grünen in ihren Sondervoten die Art der polizeilichen Ermittlungen als Ausdruck eines institutionellen Rassismus erkannt haben.

Die Rolle des Verfassungssschutzes

Vom Anschlag in der Probsteigasse will der VS NRW vor der NSU-Selbstenttarnung nie etwas erfahren haben, obwohl der Staatsschutz der Polizei Köln nachweislich eine Anfrage an ihn adressierte (S. 297f). Mit der Frage, ob es sich beim Keupstraßen-Anschlag möglicherweise um eine rechtsterroristische Tat handeln könnte, hat sich der NRW-Geheimdienst selbst nie befasst — eine Analyse des Bundesamtes für Verfassungsschutz, in dem der Anschlag mit dem Vorgehen von Combat 18 und den Bomben des David Copeland verglichen wurde, leitete der VS NRW nicht an die ermittlende Kölner Polizei weiter (S. 374ff). Beim Mord an Mehmet Kubasik will der damalige VS-Leiter Hartwig Möller einen rechten Hintergrund für möglich gehalten und eine Quellenabfrage in Auftrag gegeben haben. Doch weder dieser Auftrag noch die Antworten der Quellen sind in den Akten dokumentiert. Die Erklärung des Zeugen Möller, dies sei alles mündlich erfolgt, überzeugt nicht, zumal die dem PUA vorgelegte Akte zum Mord aus dem Bestand der Gruppe für „Ausländerextremismus“ stammt (S. 471ff).

Bereits 2006 war dem NRW-Verfassungsschutz bekannt, dass Dortmunder Neonazis über die Oidoxie Streetfighting Crew eng mit militanten Neonazis aus Kassel vernetzt waren, wobei über einzelne Kasseler Crew-Mitglieder auch eine Verbindung zu Benjamin Gärtner, dem von Andreas Temme geführten V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes, bestand (S. 141ff). Auch wusste der VS NRW, dass aus diesem Kreis eine Combat 18-Zelle gebildet worden war. 2006 führte der VS deshalb unter anderem Observationsmaßnahmen durch (S. 272ff, S. 290). Mit den Morden in Dortmund und Kassel will man diese Entwicklung im Jahr 2006 aber nicht in Verbindung gebracht haben. Die Beobachtung der C18-Gruppe sei, so der heutige VS-Chef und damalige Gruppenleiter Burkhard Freier, schließlich zurückgefahren worden, weil man die beteiligen Neonazis als „Maulhelden“ einschätzte — obwohl in der Dortmunder Szene bereits Waffen kursierten und eine Rohrbombe gefunden wurde. (S. 200ff).

Nach der NSU-Selbstenttarnung kam der VS NRW nach einer erneuten Durchsicht der Akten nun zu der Einschätzung, dass die C18-Zelle 2006 noch nicht so weit gewesen sei, um „zur Tat zu schreiten“. Unabhängig davon, ob die C18-Zelle tatsächlich nicht fähig war, eigene Anschläge durchzuführen, ist nicht nachvollziehbar, warum der Verfassungsschutz daraus schloss, dass dieser Personenkreis auch nicht für Unterstützungshandlungen wie Ausspähungen in Frage komme. In der Folge hatte der VS NRW weder das BKA noch die Bundesanwaltschaft über die Dortmunder Combat 18-Zelle oder die Verbindung zwischen den Dortmunder und Kasseler Neonazis informiert. Der Schlussbericht kritisiert deshalb: „Im Übrigen hätten bei der Suche nach potentiellen Unterstützern des NSU-Trios in Dortmund bereits solche neonazistischen Gruppen und Personenkreise in den Fokus genommen werden müssen, die ein terroristisches Vorgehen propagierten und denen somit Unterstützungshandlungen zuzutrauen gewesen wären. Auf den Personenkreis um die ‚Oidoxie Streetfighting Crew‘ trifft dies zu.“ (S. 621)

Die Arbeit des NRW-Verfassungsschutzes hätte im Schlussbericht eigentlich als Totalversagen oder Verweigerungshaltung bewertet und kritisiert werden müssen. Eine solche Wertung fehlt im Bericht ebenso wie der Versuch, sich einen Reim auf die Motive des Geheimdienstes für sein Verhalten zu machen. Einzig die Piraten-Fraktion stellt fest, dass die VS-Behörden die versprochene Aufklärung der NSU-Taten „mit zahlreichen Mitteln verhindert“ hätten. Sie fordert deshalb deren Abschaffung (S. 788 ff). Die Piraten kritisieren zudem, dass die Ergebnisse der Überprüfung des Fehlverhaltens des NRW-VS im Bericht „nur in einem völlig unzureichendem Maße“ dargestellt werden konnte, „da zahlreiche Akten und Aussagen von Mitarbeiter*innen aus ‚Quellenschutzgründen‘ und ähnlichem nicht öffentlich dargestellt werden dürfen“. Die Arbeit des PUA bleibe somit wirkungs- und sinnlos (S. 790).

Die FDP kritisiert Streichungen im Schlussbericht. Nach Informationen des WDR hatte das Düsseldorfer Innenministerium noch wenige Tage vor Beschluss des Berichts umfangreiche Kürzungen von Passagen, vor allem über die Führung von V-Leuten, durchgesetzt. Dass ausgerechnet diejenige Behörde, deren Handeln vom PUA überprüft und kontrolliert werden soll, auf die Ausführungen und Wertungen des PUA Einfluss nehmen kann, führt dessen Arbeit und Ergebnisse an die Grenzen des Absurden. Aufklärung kann es so nicht geben.



1 Die folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf den Schlussbericht des NSU-PUA, Drs. 16/14400.

„Freiheitskämpfer“ in Riga | Die Rechte und die Kollaborateurstradition in Lettland

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Gebrechlich sind sie geworden, die alten Männer, die am 16. März 2017 unter wehenden rot-weiß-roten Fahnen vor dem lettischen Nationaldenkmal im Herzen von Riga stehen. Wie jedes Jahr haben sie sich an der lutherischen Johanniskirche in der Altstadt getroffen, um von dort in einer Art Prozession, angeführt von einem Pfarrer und mehreren Fahnenträgern mit der lettischen Nationalflagge, bis zu dem Denkmal zu ziehen und dort ihrer im Zweiten Weltkrieg umgekommenen Kameraden zu gedenken. Sie sind die letzten noch lebenden Soldaten der lettischen Waffen-SS.

72 Jahre nach Kriegsende sind sie nicht mehr viele, und ihr „Marsch der Legionäre“ sähe wohl ziemlich kläglich aus, würden nicht zahlreiche Freunde, Unterstützer und Anhänger sie, alte Lieder singend, durch die Gassen und Straßen der lettischen Hauptstadt begleiten. Alles in allem nehmen rund 2.000 Personen an dem Marsch zum ehrenden Gedenken an die lettischen NS-Kollaborateure teil, darunter junge Faschisten aus Polen und der Ukraine; viele weitere schauen wohlwollend zu. Für ein kleines Land wie Lettland, das nur knapp zwei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählt, ist das eine ganze Menge; und in der Tat: Die Erinnerung an die lettische Waffen-SS ist dort keineswegs unpopulär.

Lettland ist eines derjenigen Länder Ost- und Südosteuropas, in denen völkischer Nationalismus heute wieder prägend ist; er reicht bis in die Grundstrukturen der lettischen Staatlichkeit. Lettland ist zudem eines der Länder, in denen NS-Kollaborateure wieder öffentlich verehrt werden. Beides ist kein Zufall; es hat damit zu tun, dass die alten Kollaborateure, die einst an der Seite der Nazis gegen die Sowjetunion kämpften und sich am deutschen Judenmord beteiligten, im Kalten Krieg im Westen überwintern konnten. Um 1990 kehrten so manche von ihnen nicht nur in ihre alte Heimat zurück; sie waren auch in der Lage, das politische Klima dort nicht unmaßgeblich zu beeinflussen. Dass in Lettland eine Partei der extremen Rechten seit Jahren an der Regierung beteiligt ist und ein prominentes Mitglied dieser Partei inzwischen sogar mit der ungarischen Jobbik kooperiert, das passt zur politischen Grundströmung im Land.

Der Holocaust in Lettland

Die NS-Kollaboration in Lettland ist stark gewesen. Als die Wehrmacht im Juni 1941 die Sowjetunion überfiel und in das Land einmarschierte, wurde sie von vielen begeistert begrüßt. Der antisemitische Terror, mit dem die Deutschen das gesamte Baltikum sofort überzogen, traf ebenfalls bei vielen Lettinnen und Letten zumindest auf Verständnis, wenn nicht sogar auf Sympathie: Antisemitismus war verbreitet, die Aussicht auf ein „ethnisch reines“ Lettland kam gut an. Viele waren zudem erfreut, als die NS-Besatzer ihnen die Gelegenheit boten, sich am Hab und Gut ihrer jüdischen Nachbarn zu bereichern; man müsse „von einem Bündnis zwischen den Deutschen und einem Teil der lettischen Bevölkerung beim Raub des jüdischen Eigentums“ sprechen, schreibt die Historikerin Katrin Reichelt in einer Untersuchung über die lettische NS-Kollaboration. Lettische Antisemiten wie der „Selbstschutz“, Einheiten der Hilfspolizei oder das berüchtigte „Kommando Arājs“ beteiligten sich darüber hinaus am Holocaust. Viktors Arājs, ein ehemaliger Jurastudent, Mitglied der Rigaer Studentenverbindung Lettonia, hatte das Kommando gegründet, um die Deutschen zu unterstützen; die Organisation, die zunächst 200, später bis zu 1.200 Mitglieder zählte, wird für annähernd 30.000 Morde an lettischen Jüdinnen und Juden verantwortlich gemacht.

Von den rund 70.000 Jüdinnen und Juden, die beim Einmarsch der Wehrmacht noch in Lettland lebten, wurden fast alle ermordet, zusätzlich noch rund 20.000, die aus dem Deutschen Reich nach Riga verschleppt worden waren. Knapp 1.000 lettische Jüdinnen und Juden überlebten in deutschen Lagern, rund 150 in Verstecken bei nichtjüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, einige Dutzend als Partisaninnen und Partisanen.

In den Jahren 1943 und 1944 sind aus Kollaborateuren, teilweise aber auch aus zwangsrekrutierten Letten zwei Waffen-SS-Einheiten gegründet worden, die an der Seite der Deutschen in den Krieg gegen die Sowjetunion zogen. Die Zahl ihrer Soldaten wird auf bis zu 140.000 geschätzt. Bei einer Vorkriegsbevölkerung von insgesamt 1,9 Millionen Menschen, von denen man eigentlich noch die rund 94.000 Jüdinnen und Juden abziehen muss, die zum Zeitpunkt der Zählung noch in Lettland lebten, ist das eine äußerst hohe Zahl. Bis zu 50.000 lettische Waffen-SS-Männer kamen im Krieg oder in sowjetischer Gefangenschaft zu Tode; von den Überlebenden flohen, als die Rote Arme vorrückte, nicht wenige nach Westen, unter anderem in die spätere Bundesrepublik.

Lettische Displaced Persons, zu denen auch zahlreiche geflohene NS-Kollaborateure gehörten, gründeten Einrichtungen wie das Lettische Gymnasium Münster, in dem Lettisch als Unterrichtssprache zugelassen war, damit der Nachwuchs im Exil lettische Traditionen bewahren konnte. In einem Displaced-Persons-Lager in Belgien schlossen sich lettische Waffen-SS-Veteranen Ende Dezember 1945 zu der Organisation Daugavas Vanagi („Habichte der Düna“) zusammen. Daugavas Vanagi gibt es bis heute.

Die „Habichte der Düna“

Das wiederum liegt daran, dass Daugavas Vanagi sich als Hilfsorganisation für ehemalige Soldaten der lettischen Waffen-SS erfolgreich etablieren konnte, und zwar nicht nur in Westeuropa, sondern auch in Nordamerika, in Kanada und vor allem in den USA; dorthin waren viele lettische NS-Kollaborateure bald nach dem Zweiten Weltkrieg übergesiedelt. Der US-Publizist Christopher Simpson hat Ende der 1980er Jahre festgestellt, dass einige Führungsfiguren von Daugavas Vanagi — alte Waffen-SS’ler also — sich nicht nur in Verbänden wie der American Latvian Association oder dem CIA-finanzierten Committee for a Free Latvia erheblichen Einfluss hatten sichern können, sondern dass manche sogar direkt von der CIA gefördert wurden. Wieso? Es ging darum, das lettische Exil — ganz wie die Emigration aus anderen Ländern Ost- und Südosteuropas — zu nutzen, um im Kalten Krieg politischen Druck auf die realsozialistischen Staaten auszuüben.

Kollaborationsvergangenheiten standen dem nicht im Wege. So fand Simpson heraus, dass die CIA beispielsweise Vilis Hāzners förderte, einen SS-Veteranen, der für Massenmorde an Juden in Riga verantwortlich gemacht wurde, der aber in den USA zeitweise das Committee for a Free Latvia leitete — und Mitglied des US-Ablegers von Daugavas Vanagi war. Von der CIA unterstützt wurde laut Simpson auch der Daugavas Vanagi-Aktivist Boļeslavs Maikovskis. Der Mann, der im deutsch besetzten Lettland als Polizeifunktionär gearbeitet hatte, betätigte sich in den USA in lettischen Exilorganisationen sowie im Umfeld der Republikanischen Partei. Wegen seiner Kollaborationsverbrechen schließlich doch noch vor Gericht gestellt — ihm wird die Beteiligung am Mord an 170 lettischen Juden zugeschrieben –, floh er 1987 in die Bundesrepublik. Dort wurde der Prozess gegen ihn 1994 eingestellt: Er sei verhandlungsunfähig, hieß es.

Daugavas Vanagi hat in den 1950er Jahren begonnen, im lettischen Exil einen Gedenktag zu Ehren der Waffen-SS zu begehen, und zwar jedes Jahr am 16. März; das ist der Jahrestag einer Schlacht aus dem Jahr 1944, bei der die beiden lettischen Waffen-SS-Divisionen gemeinsam eine Anhöhe an der Welikaja, einem Fluss im heutigen Russland, gegen die anstürmende Rote Armee zu verteidigen suchten. In den Umbrüchen um 1990 ist Daugavas Vanagi nach Lettland heimgekehrt — und hat den „Marsch der Legionäre“, das Exilgedenken zur Ehrung der lettischen Waffen-SS am 16. März, dorthin mitgebracht. Bis heute organisiert der Waffen-SS-Traditionsverein die Zeremonie. Und er fährt gut damit. Wieso? Nun, Lettland hat sich 1990/91 nicht nur aus der Sowjetunion gelöst; es hat auch alles Mögliche abgeschüttelt, was man mit der Sowjetunion verband, und dazu gehörte die sowjetische Geschichtsschreibung. An deren Stelle ist das getreten, was es als Alternative gab — im Wesentlichen die Geschichtsschreibung, die lettische Exilhistoriker meist an nordamerikanischen Universitäten entwickelt hatten. Dort gab und gibt es durchaus unterschiedliche Lesarten der lettischen Geschichte; doch eines fällt auf: Der lettische Nationalismus, ja sogar die lettische NS-Kollaboration — das alles kommt, wohl wegen einschlägiger Biographien einflussreicher lettischer Exilpersönlichkeiten, im Durchschnitt erstaunlich gut weg.

Ethno-Staatsbürgerschaft

So war im Exil — auch, aber keinesfalls nur bei Organisationen wie Daugavas Vanagi — die Behauptung verbreitet, die lettischen Waffen-SS-Soldaten seien „Freiheitskämpfer“ gewesen; es sei ihnen bei all ihren Aktivitäten nur um die „Befreiung“ Lettlands von der sowjetischen Herrschaft gegangen. Diese Einstufung hat sich für die lettischen Waffen-SS’ler nach 1990 in Lettland selbst stark durchgesetzt; man findet sie zum Beispiel im offiziösen Rigaer „Okkupationsmuseum“. Parallele Auffassungen gibt es heute auch in anderen ost- und südosteuropäischen Ländern, etwa in der Ukraine, wo die NS-Kollaborateure von der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) von vielen als angebliche „Freiheitskämpfer“ verherrlicht werden. In Lettland fand der 16. März als Gedenktag zur Erinnerung an die Soldaten der lettischen Waffen-SS entsprechend rasch breite Anerkennung und wurde 1998 sogar offiziell zum staatlichen Gedenktag erklärt, wenngleich dieser Schritt wegen massiven Drucks aus dem Ausland nach zwei Jahren wieder rückgängig gemacht werden musste. Viele bedauern das; im Jahr 2016 ist die Latvijas Universitāte in Riga in einer Umfrage zu dem Ergebnis gekommen, dass rund die Hälfte aller ethnischen Letten den 16. März gern wieder als offiziellen staatlichen Gedenktag zur Ehrung der „Freiheitskämpfer“ sähen.

Ethnische Letten? Laut der Rechtsposition des 1990/91 neugegründeten lettischen Staates ist keineswegs jeder und jede, die in Lettland geboren wurde, auch lettische Bürgerin. Lettland gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu den Umbrüchen des Jahres 1990/91 zur Sowjetunion. Das hatte zur Folge, dass es einen spürbaren Wechsel in der Zusammensetzung der Bevölkerung gab: Man zog innerhalb der Sowjetunion um, heiratete, gründete Familien, und die wenigsten interessierten sich dabei für die vermeintliche ethnische Abstammung ihrer Liebsten, umso weniger, als etwa Riga ohnehin eine reiche Tradition der Mehrsprachigkeit und der Multikulturalität besaß. Als 1990/91 der lettische Staat neugegründet wurde, stellte sich die Frage, wer denn nun alles die lettische Staatsbürgerschaft erhalten sollte. Damals setzte sich nicht die Option durch, die Staatsbürgerschaft einfach allen zu verleihen, die auf lettischem Territorium lebten; es gewannen — unter dem Einfluss des alten lettischen Nationalismus — diejenigen Kräfte die Oberhand, die dafür plädierten, unmittelbar an den lettischen Staat der Zwischenkriegszeit anzuknüpfen. Das bedeutete: Alle, die glaubhaft machen konnten, dass ihre Vorfahren bereits vor dem Zweiten Weltkrieg auf lettischem Territorium gelebt hatten, konnten Bürger oder Bürgerin des neuen Lettlands werden, darunter viele, die im Exil geboren worden waren und das Land ihrer Vorfahren nie gesehen hatten. Alle anderen aber, die in der sowjetischen Ära ihren Wohnsitz in die Lettische SSR verlegt hatten, blieben ausgeschlossen.

Dieser — völkische — Grundsatz ist seither die Basis des lettischen Staatsbürgerschaftsrechts. Er führt dazu, dass bis heute eine Viertelmillion Einwohnerinnen und Einwohner Lettlands, darunter auch solche, die erst nach 1991 geboren wurden, die Staatsbürgerschaft nicht besitzen. Im EU-Mitglied Lettland ist daher ein Achtel der Bevölkerung staatenlos, hat keine Bürgerrechte, darf zum Beispiel — anders als EU-BürgerInnen, die sich etwa zum Studium in Lettland aufhalten — nicht einmal kommunal wählen.

Vaterland und Freiheit

Staatlich verankerter völkischer Nationalismus, eine dominante Geschichtsschreibung, die NS-Kollaborateure als „Freiheitskämpfer“ ehrt — das ist ein Nährboden, der für die Rechte, auch für die extreme Rechte, überaus günstig ist. Heute äußert sich das zum Beispiel darin, dass eine Partei der äußersten Rechten stark und sogar Teil des lettischen Establishments ist: die Nationale Allianz. Politiker der Partei, darunter auch Parlamentsabgeordnete, haben im Laufe der Jahre immer wieder am Rigaer Waffen-SS-Aufmarsch zum 16. März teilgenommen; die Organisation, die gern als ultranationalistisch, manchmal auch als rechtspopulistisch bezeichnet wird, hat enge Bindungen zu dem nach Lettland heimgekehrten Waffen-SS-Traditionsverein Daugavas Vanagi. Sie hat eine verwickelte Entstehungsgeschichte, die auf die Spaltungen der lettischen Rechten zurückzuführen ist.

Eine ihrer Wurzeln ist die Partei Tēvzemei un Brīvībai/LNNK („Vaterland und Freiheit“/LNNK), die ihrerseits 1997 aus unterschiedlichen kleineren Gruppierungen gegründet wurde; diese gingen vor allem auf den nationalistischen Untergrund in der Lettischen SSR Ende der 1980er Jahre zurück, der — politisch ähnlich orientiert wie das Exil — in der Sowjetunion überwintern konnte und ab 1990 vom Exil politisch, ideologisch und finanziell kräftigst gefüttert wurde. Aus deutscher Perspektive könnte man erwähnen, dass in der LNNK (Latvijas Nacionālās Neatkarības Kustība, „Lettische Nationale Unabhängigkeitsbewegung“) eine Zeitlang Joachim Siegerist tätig war, ein ehemaliger Aktivist der rechts der Unionsparteien angesiedelten Kleinorganisation Die Deutschen Konservativen; Siegerist hatte einen lettischen Waffen-SS-Veteran zum Vater, konnte deshalb die lettische Staatsbürgerschaft erlangen, zog 1993 für die LNNK in das Parlament, die Saeima, ein, zerstritt sich dann aber mit seiner Partei und verlor nach einigen Jährchen die Lust an der lettischen Politik. Tēvzemei un Brīvībai/LNNK tat sich dann im Jahr 2010 mit der als Jugendorganisation gegründeten, kleinen, aber heftigen Visu Latvijai! („Alles für Lettland!“) zur Nationalen Allianz zusammen. Visu Latvijai! hatte sich unter anderem dadurch einen Namen gemacht, dass sie gegen das Verbot von Hakenkreuzdarstellungen auf die Straße gegangen war.

Die Nationale Allianz, zu deren Doppelspitze bis heute der frühere Visu Latvijai!-Chef Raivis Dzintars gehört, ist erfolgreich; bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2014 erzielte sie 16,6 Prozent der Stimmen. Sie ist seit 2011 durchweg an den — unterschiedlichen — lettischen Regierungskoalitionen beteiligt gewesen; sie stellt Minister und weitere hochrangige FunktionsträgerInnen, unter anderem seit 2014 mit Ināra Mūrniece die Parlamentspräsidentin. Nach rechts kennt sie keinerlei Berührungsängste. Zuletzt bestätigte das der Fall Konstantīns Pupurs. Pupurs arbeitet im Rahmen einer extrem rechten Initiative aus Ost- und Südosteuropa, die sich die Angleichung der miserablen Löhne dort an das westeuropäische Wohlstandsniveau auf die Fahnen geschrieben hat, unter anderem mit der extrem rechten ungarischen Jobbik zusammen. Das gab jüngst ein wenig Ärger — aber nur deswegen, weil Jobbik Beziehungen nach Russland unterhält. Pupurs scheint’s nicht zu schaden: Die Rigaer Außenstelle der Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU) kündigte für den 23. März eine Diskussionsveranstaltung mit ihm an.

Bei alledem sollte nicht unerwähnt bleiben: Es gibt Menschen in Lettland, die sich der Rechten offen entgegenstellen; viele von ihnen gehören der russischsprachigen Minderheit an. Einige wenige gingen am 16. März mit Transparenten auf die Straße, um gegen den Waffen-SS-Aufmarsch zu protestieren. Sie wurden von einigen deutschen Antifaschistinnen und Antifaschisten unterstützt. Und es soll niemand sagen, dass die lettischen Behörden dem Aufmarsch tatenlos zusahen: Sie griffen durch und nahmen fünf Personen fest. Es waren fünf Antifaschisten. Sie hatten es gewagt, mit lauten Rufen am Rande des SS-Gedenkens die Feier und die öffentliche Ordnung zu stören.

NSU-Prozess und -Untersuchungsausschüsse | Entwicklungen im vierten Quartal 2016

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Seit dreieinhalb Jahren läuft das NSU-Verfahren vor dem Münchener Oberlandesgericht. Nach über 300 Prozesstagen ist absehbar, dass in den nächsten Monaten das Urteil gesprochen wird. Zentrale Fragen werden aber offen bleiben.

Nach allem, was das Gerichtsverfahren bislang ergeben hat, werden die meisten Angeklagten hart verurteilt werden, für die Hauptangeklagte ist eine lebenslange Haftstrafe absehbar. Dennoch werden wichtige Fragen offen bleiben: Wie wurden die Opfer ausgewählt? Warum wurde in Nürnberg, Rostock, München, Dortmund, Hamburg, Kassel, Heilbronn und nicht in anderen Städten gemordet? Wer hat bei der Auswahl der Tatorte geholfen? Warum endete die rassistische Mordserie mit dem Mord an Halit Yozgat in Kassel? Warum wurde ein Jahr später der Mord an Michèle Kiesewetter und der Mordversuch an ihrem Kollegen verübt? Und vor allem: Welche weiteren, bis heute unbekannten Helfer_innen und Helfershelfer_innen hatte der NSU? All dies ist bis heute offen. Dabei sind es gerade diese Fragen, die von zentraler Bedeutung für viele der Opfer und die Angehörigen der Toten sind.

Neue Erkenntnisse werden ignoriert

Die heute öffentlich bekannten Erkenntnisse zeigen ein anderes Bild als die Bundesanwaltschaft (BAW), die den NSU weiterhin als lediglich aus drei Personen bestehende Terrorgruppe, die weitestgehend isoliert von der Neonazi-Szene und dem Unterstützungsnetzwerk lebte und mordete, es darstellt. Und auch bei den Münchener Richter_innen mangelt es an Interesse, dies aufzuklären. So legen im Frühjahr dieses Jahres veröffentlichte Recherchen nahe, dass die drei untergetauchten NSU-Mitglieder in Zwickau durchaus enge Beziehungen zur örtlichen Neonazi-Szene rund um den früheren Zwickauer Neonazi Ralf Marschner hatten. Dieser berichtete als V-Mann „Primus“ über Jahre dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) über die Szene. Die Nebenklage stellte dazu einen umfangreichen Beweisantrag, um die Vorgänge weiter aufzuklären und im Prozess zu thematisieren. Doch nachdem schon die BAW die Aussagen im Antrag als „Gerüchte“ abgetan und mitgeteilt hatte, es sei bereits alles ausermittelt, verwahrte sich auch das Gericht dagegen, Marschner oder seinen damaligen V-Mann-Führer als Zeugen zu laden und die entsprechenden Akten hinzuzuziehen. Wie viele andere Beweisanträge auch wurde dieser Antrag mit der Begründung abgelehnt, die Beweisaufnahme sei für die „Schuld- und/oder Straffrage bei den Angeklagten“ nicht von Bedeutung, eine Aufklärung nicht geboten. Anders ausgedrückt heißt das: Selbst wenn der V-Mann vom NSU-Kerntrio gewusst hätte, würde dies für ein Urteil gegen die fünf Angeklagten keine Rolle spielen, folglich braucht sich das Gericht aus seiner Perspektive damit nicht weiter auseinanderzusetzen. Hier zeigen sich deutlich die juristischen Grenzen des NSU-Strafverfahrens.

Doch in ihrer Ablehnung des Nebenklageantrags ging das Gericht noch einen Schritt weiter und wies eine mögliche Mitverantwortung der Geheimdienste durch das Wissen ihrer V-Leute zurück. Selbst wenn V-Leute des Verfassungsschutzes Informationen über den Aufenthaltsort gehabt hätten, sei dies nach Ansicht des Gerichts irrelevant, da dieses Wissen „nicht zwangsläufig dazu [führe], dass eine Festnahme der gesuchten Personen durchgeführt werden konnte und dass damit eine Verhinderung angeklagter Taten für die Behörden möglich gewesen wäre“. Kurzum: Was V-Leute und Behörden möglicherweise gewusst haben, spielt im Prozess keine Rolle mehr und wird auch nicht mehr aufgeklärt werden. „Wenn das Gericht meint, dass eine ursächliche Mitverantwortung des Verfassungsschutzes für die Morde, Anschläge und Raubüberfälle des NSU zwar möglich, aber nicht zwingend sei, mag das juristisch spitzfindig der Ablehnung der Anträge dienen. Eine Aufklärung des Netzwerkes NSU und der Möglichkeit der Verhinderung der Morde und Anschläge wird damit unterbunden: nicht weil man eine Aufklärung nicht betreiben könnte, sondern weil man sie nicht weiter betreiben will“, kommentierte der Nebenklagevertreter Sebastian Scharmer die Entscheidung des Gerichts.

Fragen an die Angeklagte

Das Verfahren hat im letzten Jahr deutlich an Dynamik verloren. Prozesstage werden kurzfristig abgesagt, andere enden bereits zur Mittagspause. Ein Grund war die mühsame Befragung Beate Zschäpes, die auf schriftlich erfolgte und sich seit Dezember 2015 hinzog. Die Hauptangeklagte könnte wichtige Fragen klären, doch hat ihre Aussage bislang nichts Neues zu Tage gefördert, was relevant wäre. Nach Abschluss der Befragung durch die Richter_innen konnten Anfang Juli 2016 endlich die anderen Prozessbeteiligten ihre Fragen an die Angeklagte richten. Während es von den Verteidiger_innen nur sehr wenig Nachfragen gab und die BAW keine einzige Frage an Zschäpe richtete, wurden von der Nebenklage mehrere hundert Fragen gestellt. Die Fragen dokumentieren eindrücklich, welche großen Lücken es noch im NSU-Komplex gibt. Sie reichen von den großen ungelösten Komplexen bis hin zu kleinteiligen Fragen: Warum und wie wurden die zehn Getöteten als Mordopfer ausgesucht? Warum wurden zweimal in Köln Anschläge verübt? Wie viel Geld haben Sie durchschnittlich im Monat verbraucht? Antworten wird es wohl nicht geben, Zschäpe weigert sich, die Fragen der Nebenklage zu beantworten. Auch Fragen der Sachverständigen beantwortete sie erst, nachdem das Gericht sich diese zu eigen gemacht hatte.

In den Medien sorgten Ende September Berichte für Aufsehen, dass Zschäpe im Prozess erstmals selbst gesprochen habe. Tatsächlich verlas die Hauptangeklagte eine nur wenige Zeilen lange Erklärung, in der sie davon sprach, dass sie für das „nationalistische Gedankengut“, mit dem sie sich mal in Teilen identifiziert habe, heute keine Sympathien mehr hege. Sie beurteile Menschen nach ihrem „Benehmen“, nicht nach ihrer Herkunft. Außerdem verurteile sie, was Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos den Opfern und ihren Familien angetan hätten. Wie weit es her ist mit diesen Worten, zeigte sich direkt im Anschluss, als ihre Verteidigung sich erneut weigerte, Fragen der Nebenklage zu beantworten. Ihre letzte Handlung, das Verschicken der Bekenner-DVDs mit klarem neonazistischem Bekenntnis, spricht zudem eine völlig andere Sprache als das Bild, das andere Zeug_innen von ihr zeichneten.

Für die Prozessbeteiligten und alle anderen, die den Prozess im Gerichtssaal oder von draußen verfolgen, ist das schleppend verlaufende Verfahren enorm ermüdend. Auch das lange Zeit hohe Medieninteresse hat spürbar abgenommen, zumal es wenig zu berichten gibt. Den Komplex NSU komplett aufzuklären, kann der NSU-Prozess nicht leisten – und will es auch nicht, wie der Vorsitzende Richter Manfred Götzl immer wieder deutlich macht. Auch die BAW wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Prozess kein Untersuchungsausschuss sei. Dabei verkennt sie die zentrale Bedeutung des Prozesses, gerade für viele Angehörige der Opfer. Der Prozess ist für sie die einzige Möglichkeit, als Nebenkläger_innen selbst das Wort zu ergreifen, gehört zu werden und Fragen und Beweisanträge stellen zu können. Denn ob es überhaupt zu weiteren Verfahren gegen NSU-Unterstützer_innen kommen wird, ist völlig offen. Zwar ermittelt die BAW gegen rund ein Dutzend weiterer Neonazis und es läuft ein Strukturermittlungsverfahren, doch über die weiteren Ermittlungen bekommen selbst die Nebenkläger_innen kaum Informationen.

Neues zur „Aktion Konfetti“

Neuigkeiten gab es im Bundestags-Untersuchungsausschuss über die Aktenschredderei des BfV im November 2011. Im September wurde dort erneut der damalige Leiter des Referats „Forschung und Werbung“ mit dem Decknamen „Lothar Lingen“ vernommen. Dieser verweigerte die Aussage, da er neue Ermittlungen gegen sich befürchtete. Einen Tag nachdem sich Zschäpe in Jena der Polizei gestellt hatte, lief im Bundesamt eine Schredder-Aktion an, bei der die Akten mehrerer Thüringer V-Leute auf Veranlassung von Lingen gezielt vernichtet worden waren, nach Aussagen von Mitarbeiter_innen sollte dies „so schnell wie möglich“ geschehen. Offen bleibt, ob Lingen auf eigene Veranlassung oder Anweisung von oben handelte.

Klar ist aber, dass mehrere Mitarbeiter_innen aus Lingens Referat beteiligt waren. Die geschredderten Akten kosteten den damaligen Präsidenten Heinz Fromm den Job. Der Verfassungsschutz behauptete zunächst, dass die Aktenvernichtung aus Gründen des Datenschutzes und überzogener Löschfristen durchgeführt wurde. Auch eine interne Untersuchung des Bundesinnenministeriums wollte keinen Zusammenhang zum Bekanntwerden des NSU erkennen. Nun wurde durch den Untersuchungsausschuss öffentlich, dass sich Lingen bereits im Oktober 2014 vor der BAW zu der vorsätzlichen Aktenvernichtung im Zusammenhang mit dem NSU bekannt hatte. Angeblich will er die Akten vernichtet haben, um das Amt vor kritischen Nachfragen zu schützen und sich Arbeit zu ersparen. Ihm sei klar gewesen, dass sich die Öffentlichkeit für die V-Leute des Bundesamts in Thüringen interessieren und die Frage stellen werde, warum die Behörden über die Aktivitäten des Trios nicht informiert gewesen sei, so Lingen gegenüber den Bundesanwälten. „Die nackten Zahlen sprachen ja dafür, dass wir wussten, was da läuft, was aber nicht der Fall war. Und da habe ich mir gedacht, wenn […] die Anzahl unserer Quellen im Bereich des THS (Thüringer Heimatschutz) und in Thüringen nicht bekannt wird, dass dann die Frage, warum das BfV von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht auftaucht“, so Lingen ausweislich eines Vernehmungsprotokolls. Zudem hätten vorhandene Akten zu „endlosen Prüfvorgängen“ führen können: „Vernichtete Akten können aber nicht mehr geprüft werden. Dies war ein Reflex, der bei meiner Entscheidung eine Rolle spielte.“ Offen bleibt, was die Akten tatsächlich enthielten. Nach Lingens Angaben stand darin nichts über den NSU, Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Selbst wenn das stimmen sollte, hätten sie aber eventuell Aufschluss über zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannte Unterstützer_innen und das Netzwerk des NSU geben können.

Auch hier mauerte die BAW wieder einmal. Als die Nebenklage im letzten Jahr die Ladung Lingens vor Gericht beantragt hatte, erfuhr sie nichts von den Vernehmungen. Die Behörde antwortete auf ihren Beweisantrag, ihre Behauptung, die Akten seien gezielt vernichtet worden, um sie dem Strafverfahren zu entziehen, sei „aufs Blaue hinein und entgegen aller bislang vorliegenden Erkenntnisse spekulativ“. Ob der Bundestags-Untersuchungsausschuss noch mehr dazu aufklären wird, wird sich in den nächsten Wochen und Monaten zeigen. So lange möchten die Betroffenen aber nicht warten. Die Vertreter_innen der Familie Kubasik erstatten nun Strafanzeige gegen Lingen und weitere Mitarbeiter_innen des Bundesamtes wegen Strafvereitelung, Urkundenunterdrückung und Verwahrungsbruch. „Uns ist Aufklärung versprochen worden, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte wissen, ob der Verfassungsschutz Informationen hatte, mit denen der Mord an meinem Mann hätte verhindert werden können“, erklärte Elif Kubasik, die Witwe des ermordeten Mehmet Kubasik.

(Nicht-)Aufklärung mit vielen Fragen | Aktualisierung der Erkenntnisse über den Düsseldorfer Wehrhahn-Anschlag

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Am 27. Juli 2000 soll der damalige Düsseldorfer Ralf Spies auf dem S-Bahnhof Wehrhahn per Fernsteuerung und mit Sicht auf die Opfergruppe einen selbst gebauten TNT-Sprengsatz zur Detonation gebracht haben. Am 1. Februar 2017 wurde er in Ratingen verhaftet. Der Hauptvorwurf: zwölffacher Mordversuch — heimtückisch, gemeingefährlich, aus niederen Beweggründen und „in fremdenfeindlicher Absicht“. Hinweise auf einen Zusammenhang mit dem NSU wurden nicht bekannt. Doch auch abseits eines solchen Zusammenhangs bleiben viele Fragen.

Ziel des Anschlags war eine Gruppe Migrant_innen aus der ehemaligen UdSSR gewesen, die meisten von ihnen Jüdinnen und Juden. Zehn von ihnen wurden — teilweise lebensgefährlich — verletzt, das ungeborene Kind einer Frau wurde getötet. Alle hatten einen Sprachkurs der Bildungseinrichtung ASG besucht, der unweit des S-Bahnhofs auf der Ackerstraße angeboten wurde. (Vgl. LOTTA #58, S. 60).

Die frohe Botschaft vom Ermittlungserfolg überdeckte zumindest teilweise, dass der Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) des NRW-Landtags in Sachen Wehrhahn vor dem 1. Februar 2017 völlig untätig geblieben war, obwohl klar war, dass er sich im Frühjahr 2017 angesichts der Landtagswahlen am 14. Mai 2017 auflösen würde. Dabei war der PUA explizit dafür zuständig, auch beim Wehrhahn-Anschlag ein „mögliches Fehlverhalten nordrhein-westfälischer Sicherheits- und Justizbehörden einschließlich der zuständigen Ministerien und der Staatskanzlei und anderer Verantwortlicher“ zu untersuchen. Bei den letzten beiden öffentlichen Sitzungen des PUA am 7. und 17. Februar 2017 blieb aber offen, wieso der mutmaßliche Täter nicht schon viele Jahre früher ermittelt werden konnte. Und welche Rolle die Inlandsgeheimdienste beim Tatkomplex gespielt haben. Gerade einmal etwas mehr als fünf Stunden hatte sich der PUA für den Wehrhahn-Komplex in öffentlichen Sitzungen Zeit genommen.

Waffennarr und Zeitsoldat

Schon am Tag nach dem Anschlag wurde von antifaschistischen Gruppen und Bewohner_innen des Stadtteils auf Ralf Spies aufmerksam gemacht. Der Verdacht beschränkte sich aber auf ein „dem wäre so etwas zuzutrauen“. Der damals 34-jährige Waffennarr und ehemalige Zeitsoldat, der keinen Hehl aus seinem Hass auf „Ausländer“ machte, war vielen aufgrund seiner patrouillenartigen Rundgänge mit Hund und seines militärhaften Outfits bekannt. Spies wohnte in der Nähe des S-Bahnhofs, bot Security- und Wachschutzdienste an, betrieb ein Ladengeschäft für „Polizei-Armee-Sicherheit-Zusatzausrüstungen“ und Militaria — nebenbei verkaufte er dort auch RechtsRock-CDs. Er war eng mit der lokalen Neonaziszene, insbesondere mit dem Kreis der „Kameradschaft Düsseldorf“ (KD) um Sven Skoda verbunden. Mit Skoda, der wenige hundert Meter von ihm entfernt wohnte, war er persönlich bekannt, wenn nicht sogar befreundet.

Spies brachte seine Gesinnung durch das Anpöbeln und Bedrohen ihm nicht genehmer Menschen und das massenhafte Anbringen von einschlägigen Aufklebern zum Ausdruck. Neonazis gingen in seinem Laden ein und aus. Der KD und offenbar auch den eng mit der KD verbundenen Kreisverbänden der DVU und NPD stand er nah, wenngleich unbekannt ist, ob er sich als Aktivist der KD verstand oder Mitglied einer extrem rechten Partei war. Auf Aufmärschen wurde er nicht gesichtet, insgesamt machte er wohl lieber sein „eigenes Ding“. Er gehörte jedoch zur lokalen Neonazi-Szene, die Ende der 1990er Jahre — hartnäckig ignoriert beziehungsweise klein geredet von Polizei und Stadtoberen — aktiver und zahlenmäßig stärker geworden war und immer dreister in Erscheinung trat. Selbst der NRW-Verfassungsschutz (VS) sprach in seinem Jahresbericht 1999 davon, dass in Düsseldorf „seit Jahren eine Neonazi-Szene“ bestehe, deren „Führungspersönlichkeiten“ auf „kaum einer Aktion oder einem überregionalen Treffen“ der Neonazi-Szene fehlen würde.

Die wenige Tage nach dem Wehrhahn-Anschlag eingerichtete „Ermittlungskommission Acker“ („EK Acker“) verfolgte als eine unter vielen Spuren auch die Spur Spies. Noch vor der Einrichtung der EK hatte bereits am 29. Juli 2000 der Polizeiliche Staatsschutz eine offenbar halbherzige und erfolglose Hausdurchsuchung bei diesem durchgeführt. Dabei habe es sich eher um einen „oberflächlichen Stubendurchgang“ gehandelt, kritisierte der frühere EK-Leiter Dietmar Wixfort bei seiner Befragung durch den PUA. Näheres zu dieser Durchsuchung, beispielsweise zur Verantwortung und zu den Gründen für das stümperhafte Vorgehen, blieben der Öffentlichkeit verborgen und schienen den PUA auch nicht sonderlich zu interessieren. Für die EK sei es in der Folgezeit schwer gewesen, so Wixfort, Durchsuchungen und Telekommunikationsüberwachungen gegen Spies genehmigt zu bekommen. Dem Richter hätte sich ein „konkreter Tatverdacht“ nur „zögerlich“ erschlossen. Vielleicht wäre es rückblickend ja schneller gegangen, wenn die „EK Acker“ recherchiert hätte, dass Spies während seiner vierjährigen Bundeswehrzeit eine Sprengstoffausbildung genossen hatte und sich mit Sprengfallen auskannte. Ob auch der MAD dazu etwas hätte beitragen können, ist unbekannt. Ein Gutachten stellte bezüglich der Fertigung des Sprengsatzes eine „erhebliche Sachkunde“ fest, auch „die beim Schweißen entstandenen Nähte“ seien „fachmännisch bei 800 Grad gehärtet worden“. Spies war des Schweißens mächtig und verfügte zur Tatzeit über ein Schweißgerät, wie von den Ermittlungsbehörden im Februar 2017 bekannt gegeben wurde. Wie lange das schon bekannt war, verrieten sie nicht.

Der zweite Anlauf

Im Frühjahr 2002 fasste die Staatsanwaltschaft zusammen, dass sich keine „objektivierbaren Anhaltspunkte für eine Beteiligung“ von Spies „an der Straftat“ ergeben hätten. Dieser sei „offenbar nicht in der Lage“ gewesen, „ausgefallene Gegenstände aus dem Waffenbereich herzustellen oder auf Bestellung zu besorgen“. Die Spur wurde aufgegeben. Ein extrem rechter Hintergrund des Wehrhahn-Anschlags war damit aus dem Rennen. Zumindest zeitweise liebäugelte die „EK Acker“ offenbar mit dem Tathintergrund „osteuropäische organisierte Kriminalität“, ohne hierbei Ergebnisse erzielen zu können.

Ende 2014 wurde dann hinter den Kulissen die „EK Furche“ eingerichtet. Anlass für ihre Einrichtung war, dass sich Spies während der Verbüßung einer Haftstrafe im Herbst 2014 gegenüber einem Mithäftling damit gebrüstet hatte, den Wehrhahn-Anschlag begangen zu haben. Die „EK Furche“ unter der Führung des Leiters des Polizeilichen Staatsschutzes und ehemaligen Mordkommissionsleiters Udo Moll bemühte sich von nun an mangels Beweisen um eine „geschlossene Indizienkette“, um eine Anklage zu ermöglichen. Um hierbei nicht vom zwischenzeitlich eingerichteten PUA behindert zu werden, wurde mit diesem eine Art Geheimabkommen geschlossen. Der PUA zögerte die Behandlung des Themas „Wehrhahn“ so lange hinaus, bis der „Zugriff“ erfolgt war, hatte aber offenbar nicht damit gerechnet, dass dies so lange dauern würde.

Staatsanwaltschaft und EK-Leiter sind sich aber sicher, dass nun „der Richtige“ dingfest gemacht wurde. Man sei ab 2014 alle Akten noch einmal durchgegangen, habe weitere Recherchen durchgeführt, alle Zeug_innen von damals noch einmal verhört und auch neue Zeug_innen — zum Beispiel für das „Ausbaldowern“ der Opfer — ausfindig gemacht und zudem auf Anforderung eine angeblich bahnbrechende „Operative Fallanalyse“ des LKA erhalten, die den Verdacht eindrucksvoll bestätigt hätte. Damals nicht sehr aussagefreudige Personen wären mit Abstand zum Tatgeschehen und zu Spies gesprächiger und glaubwürdiger gewesen. Ein wirkliches Alibi, so Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück vor dem PUA, habe der Beschuldigte nie gehabt. Es sei dennoch „schwierig gewesen, Ralf S. um 15.03 Uhr an den Tatort zu kriegen.“

Zum Motiv für die Wahl der Opfer führten die Ermittlungsbehörden Anfang Februar 2017 einen Vorfall im Herbst 1999 an. In einem direkt gegenüber dem Ladenlokal von Spies gelegenen Gebäude habe ein räumlich ausgelagerter ASGSprachkurs stattgefunden. Zwei bis heute nicht identifizierbare Neonazis aus dem Umfeld von Spies hätten die Sprachschüler_innen über einen längeren Zeitraum belästigt und teilweise auch bedroht — bis sich diese erfolgreich zur Wehr gesetzt hätten. Dieser Vorfall sei für Spies — stets auf der Suche nach „Sündenböcken“ für seine existenziell desolate Lage — der Auslöser für die Planung der Tat gewesen. Einige Monate später habe er eine zusätzliche Wohnung angemietet, um dort den Sprengsatz zu bauen. Am Tag nach dem Anschlag habe er diese Wohnung wieder gekündigt. Unwahrscheinlich sei, so die Ermittler, dass er auch aus antisemitischen Motiven handelte, da er vermutlich nicht gewusst habe, dass ein großer Teil der Sprachschüler_innen Juden und Jüdinnen waren. Eine Begründung für diese Einschätzung gab es nicht, auch seitens der Medien scheint sich niemand wirklich für diesen Aspekt zu interessieren.

Das Geschehen 1999 war auch der „EK Acker“ bekannt gewesen, diese hatte es aber aufgrund des „großen zeitlichen Abstands“ zum Anschlag nicht in Verbindung mit der Tat gebracht. Und das obwohl eine der Sprachlehrerinnen mehrfach auf einen möglichen Zusammenhang aufmerksam gemacht hatte.

V-Mann „Apollo“

Den Aussagender beiden EK-Leiter „Acker“ und „Furche“ zufolge haben die Verfassungsschutzämter nicht zu einer möglichen Aufklärung beitragen können. Allerdings fand im Februar 2012 — und damit über elf Jahre nach dem Anschlag und kurz nach der Selbstenttarnung des NSU — ein Gespräch zwischen dem VS NRW und dem temporär reaktivierten Dietmar Wixfort statt. Das Stattfinden des Gesprächs wurde auf der 52. PUA-Sitzung kurz thematisiert, nicht aber der Inhalt. Darüber müsse in nichtöffentlicher Sitzung gesprochen werden, so der Ausschussvorsitzende Sven Wolf (SPD). Vier Tage später enthüllte dann „Der Spiegel“, dass es 1999/2000 einen V-Mann des NRW-Verfassungsschutzes im direkten Umfeld von Spies gegeben habe, der „im Sommer 2000 als Wachmann für den Rechtsextremisten“ gearbeitet habe. Als V-Mann tätig gewesen sein soll Andre M. alias „Apollo“ von August 1999 bis Mai 2000. Düsseldorfer Antifaschist_innen teilten am 12. Februar 2017 in einer Pressemitteilung mit, M. sei „an diversen Aktionen der Kameradschaft Düsseldorf beteiligt“ und „auch in der Düsseldorfer Fußballfanszene als Neonazi bekannt“ gewesen, leicht zu erkennen an seinem „Blood & Honour“-Tattoo über dem linken Ohr.

Aus einem im PUA-Schlussbericht dokumentierten Beweisbeschluss ergibt sich, dass Andre M. als Informant für den MAD tätig war und Kontakt zu „Blood & Honour“ und „Hammer-Skins“ hatte. Auf eine Vernehmung von M. oder seines V-Mann-Führers verzichtete der PUA. Lediglich Wixfort wurde in geheim eingestufter Sitzung zu M. befragt. Dieser teilte mit, dass aus Anlass der Selbstenttarnung des NSU „Ende 2011 oder Anfang 2012“ eine Besprechung unter Teilnahme eines VS-Mitarbeiters stattgefunden habe. Dort habe er erfolglos versucht, VS-Erkenntnisse zu M. abzufragen, der bereits 2000 als Zeuge von der EK vernommen worden sei. Erst etwas später — auf einem Treffen am 14. Februar 2012 — habe der VS die V-Mann-Tätigkeit offengelegt. Im Schlussbericht heißt es, dass bei diesem Gespräch M.s „ehemaliger VP-Führer“ (Anm. LOTTA: Vertrauens-Person) hinzugerufen worden sei: Dieser „erklärte [...], die VP könne an dem Sprengstoffanschlag nicht beteiligt gewesen sein, weil sie zur Tatzeit mit ihm zusammen gewesen sei“.

Bereits 2004 soll M. geäußert haben, dass der Sprengstoffanschlag „von Rechten aus dem Osten unter Abdeckung durch die hiesige rechte Szene verübt worden“ sei. Dies war damals auch der EK zur Kenntnis gelangt, allerdings nicht vom VS. Laut Wixfort blieben Anfragen nach Erkenntnissen zu Personen wie Ralf Spies. und Andre M. vom VS unbeantwortet. Er äußerte zudem seine Überraschung, dass der VP-Führer Andre M. ungefragt ein Alibi gegeben hatte.

Mitwisser_innen

Ohne bisher erklärt zu haben, wie der im Stadtteil allseits bekannte Spies die Tat unbemerkt verüben konnte, gehen „EK Furche“ und Staatsanwaltschaft davon aus, dass dieser die Tat alleine durchgeführt hat. Möglicherweise habe es aber „Mitwisser“ gegeben. Zu erwarten ist, dass während des anstehenden, aber noch nicht terminierten Strafprozesses Zeug_innen präsentiert werden, die angesichts von Verjährungsfristen und der Erwartung einer langjährigen Haftstrafe für Spies mehr oder weniger freiwillig zu bekunden wissen, dass ihnen der Angeklagte von seiner Täterschaft oder der geplanten Tat berichtet hatte beziehungsweise dass sie rückblickend Gehörtes oder Gesehenes anders interpretieren würden, als sie das damals getan hatten. Dazu dürften unter anderen auch mehrere ehemalige Freundinnen von Spies zählen, die teilweise noch Jahre nach der Trennung beziehungsweise bis zu dessen Festnahme von Spies gestalked wurden.

Eine von ihnen — mit starken Sympathien zur extremen Rechten — teilte ab 2015 bei Facebook immer wieder Presseartikel über den Wehrhahn-Anschlag. Am 14. Januar 2017 — über zwei Wochen vor der Festnahme — sprach sie Spies dort öffentlich an: „Schlimm genug Dich zu kennen und zu wissen das Du Menschen auf dem Gewissen hast.“ Möglicherweise ist die Staatsanwaltschaft auf solche Aussagen angewiesen, um ihre angeblich „geschlossene Indizienkette“ bruchsicher zu machen.Ein Freispruch käme einem Desaster gleich.

Spannend ist zudem, was Sven Skoda vor Gericht über die Tat und Spies zu berichten hat. Offenbar halten es die Ermittlungsbehörden nicht für ausgeschlossen, dass Skoda über das Geplante und/oder Geschehene informiert war. Am Tag nach der Festnahme von Spies beeilte sich Skoda, der ansonsten keine Gelegenheit auslässt, zum „Kampf mit allen Mitteln“ aufzurufen, vorbeugend folgendes im Internet mitzuteilen: „Für mich stand damals und steht bis heute fest, dass militantes Vorgehen gegen Symptome einer kranken Gesellschaft […] kein Mittel der politischen Auseinandersetzung ist. […] Sollten wir irgendwann in unserem Kampf an dem Punkt angekommen sein, an dem sich die Frage stellt, ob ein militantes Vorgehen nötig wird, bin ich mir sicher, dass es nicht in Taten enden wird, die man von Mord aus niederen Beweggründen nicht unterscheiden kann.“

Was bleibt?

In vielen Punkten ist es beim Wehrhahn-Komplex völlig unklar, seit wann welche Ermittlungsergebnisse bereits vorliegen, wieso einige nicht früher recherchiert wurden und wie der Umgang mit bereits vorliegenden Erkenntnissen war. Einige Beispiele: Seit wann war die Sprengstoffausbildung von Spies bekannt, seit wann Details zur Bombenbauwohnung und zum Einsatz eines per Fernsteuerung auf Sichtkontakt aktivierten Sprengsatzes? Seit wann, dass der Sprengsatz in ein in Düsseldorf nur in geringer Stückzahl verbreitetes Kölner Anzeigenblatt eingewickelt war, das Spies regelmäßig bezogen haben soll? Es drängt sich der Verdacht auf, dass die einst so hoch gelobte „EK Acker“ diverse Patzer zu verantworten hat, die nun unter den Teppich gekehrt werden. Unterzugehen droht auch die Aufklärung der Rolle der Inlandsgeheimdienste.

Für die Einrichtung eines neuen PUA scheint es bei den meisten Parteien kein politisches Interesse zu geben. Doch während sich Sven Wolf, Vorsitzender des PUA, Anfang April 2017 gegenüber dem Landtag und der Presse rückblickend sehr zufrieden zeigte mit der Arbeit des PUA, ahnt Monika Düker (MdL Bündnis 90/Die Grünen und PUA-Mitglied) zumindest, dass es hier noch einiges zu tun gibt. Leider habe der PUA „aus Zeitgründen nicht tiefer durchleuchten können, in welcher Form Verfassungsschutz und Polizei mit V-Personen zur damaligen Zeit in der Szene aktiv waren, was die am Ende zugeliefert haben und wie mit denen zur damaligen Zeit umgegangen wurde. Und da scheint es doch an der einen oder anderen Stellen Ungereimtheiten gegeben zu haben, um es vorsichtig auszudrücken.“ Die von ihr angekündigte Behandlung offener Fragen im „Parlamentarischen Kontrollgremium“ hätte aber zur Folge, dass die Öffentlichkeit dabei ausgeschlossen bliebe – wenn es denn überhaupt dazu kommt.


Widersprüchliche Wahrnehmungen | Die RechtsRock-Szene zwischen Stagnation und Professionalisierung

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RechtsRock gilt als eines der wichtigsten Ausdrucks- und Kommunikationsmittel der extremen Rechten in „jungen Jahren“. Welche Bedeutung hat die Musik aktuell noch für die neonazistische Szene? In diesem Artikel werden einige Schlaglichter auf den derzeitigen Zustand der RechtsRock-Szene geworfen und insbesondere das Geschehen in NRW, Hessen und Rheinland-Pfalz unter die Lupe genommen.

Während der Nazi-Rock ab Mitte der 1990er Jahre wegen seiner aggressiven Vernichtungsphantasien und den spektakulären Bildern dutzender den Hitlergruß zeigender Neonazis auf Konzerten als Jugendproblem verharmlost im Fokus der Medien stand, hat das öffentliche Interesse für neonazistische Musik in letzter Zeit nachgelassen. Aktuell stehen die Erfolge der AfD und die Herausbildung einer „neuen sozialen Bewegung von rechts“ stärker im Mittelpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen mit der extremen Rechten.

Nicht Einstieg, sondern Dabeibleiben

In den 1990er Jahren war rechte Musik beziehungsweise rechter Skinheadrock DER Einstieg für Jugendliche in die neonazistische Szene. Dies hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Immer weniger neue Bands gründen sich, nicht wenige hiervon bestehen aus MusikerInnen, die zuvor schon seit Jahren in anderen Bands der Szene gespielt haben. Die Bilder der TeilnehmerInnen einschlägiger Konzerte zeigen zumeist ein Publikum zwischen 25 und 45 Jahren. Als jugendkulturell lässt sich dieses kaum noch bezeichnen. Das heißt nicht, dass RechtsRock keine Rolle mehr in der neonazistischen Szene spielt. Denn insbesondere als Stabilisator der Szene und der sozialen Zusammenhänge bildet die Musik und deren Erlebniswelten einen wichtigen Faktor und trägt zur ideologischen Festigung von Neonazis bei. Aber für den tatsächlichen „Erstkontakt“ und Einstieg haben soziale Medien heutzutage mit Sicherheit eine größere Bedeutung für Jugendliche als Musik.

Bandgeflechte aus „alten Bekannten“

In den 1990er Jahren entstanden RechtsRock-Bands oft innerhalb von lokalen Szenen und Freundeskreisen, heute werden sie entweder „gecastet“ oder entstehen aus den Resten anderer Bands. RechtsRock-Bands haben mittlerweile oftmals einen Projektcharakter und sind geprägt von ihren langjährig aktiven Bandleadern, die sich bei Bedarf wechselnde personelle Unterstützung organisieren. Auch in NRW hat sich in den letzten zehn Jahren ein Kreis an Musikern und Bands herauskristallisiert, die sich auch international einen Stellenwert innerhalb der neonazistischen Szene „erspielt“ haben und ein gewisses Ansehen genießen. Es sind Personen wie der 44-jährige Sänger der Dortmunder Band Oidoxie, Marko Gottschalk, der 43-jährige aus Verl (Kreis Gütersloh) stammende Frontmann der Band Sleipnir, Marco Bartsch (ehemals Laszcz), oder der 45-jährige Jens Brucherseifer (Gelsenkirchen), Sänger der Bandprojekte Sturmwehr und Sturm 18. Andreas Koroschetz (33) aus Mönchengladbach gründete vor über 15 Jahren die Band Division Germania und beteiligt sich an diversen Musikprojekten wie der neonazistischen Kultband Stahlgewitter um Sänger Daniel „Gigi“ Giese (47 Jahre, Meppen/Niedersachsen) und Frank Krämer (39 Jahre, Rhein-Sieg-Kreis). Krämer ist darüber hinaus zentrale Figur der Black-Metal- beziehungsweise Neofolk-Band Halgadom.

Innerhalb dieser Bandgeflechte ist es Normalität, wenn zum Beispiel der 28-jährige Gitarrist der Band Sleipnir, Martin Böhne (Hamm), auch bei den Bands Words of Anger und Oidoxie spielt. Auch sein Bandkollege Marco Eckert (38 Jahre) von Words of Anger ist zumindest zeitweise Teil von Oidoxie, aber unter anderem auch bei der Band Sturmwehr involviert. Oftmals fällt eine klare regionale Zuordnung diverser Bands schwer, kommen deren Mitglieder doch aus verschiedenen Städten und Regionen. Auch die als „Bremer Band“ gelabelte Gruppe Kategorie C ist ein solches Beispiel. Von der Gründungsbesetzung aus dem Jahr 1997 ist nur noch der Sänger Hannes Ostendorf dabei. Den Rest der Band stellen neben Gitarrist Stefan „Ernie“ Behrens inzwischen die drei Mitglieder der Band Hausverbot aus dem hessischen Odenwald.

In NRW existieren kaum junge beziehungsweise neu gegründete Bands. Bands wie Inmitten von Ruinen, die 2016 ihr Debütalbum veröffentlichten, stellen auf ihrer Facebook-Seite klar, dass es sich bei der Band um ein Solo-Projekt handelt und man deshalb nicht live auftreten werde. Gegründet wurde Inmitten von Ruinen von einem ehemaligen Musiker der inzwischen aufgelösten Bands Bloodrevenge und Projekt Vril.

Vertriebe und Labels

Eine wichtige Funktion innerhalb der RechtsRock-Szene nehmen Labels und Vertriebe ein, die zur Verbreitung der neonazistischen Musik und der Merchandising-Angebote beitragen. Von diesen existierten in den 1990er und 2000er Jahren noch eine Vielzahl, auch in NRW. Darunter überregional bedeutende Labels wie Rock-O-Rama aus Köln, diverse Projekte des Düsseldorfers Torsten Lemmer (Funny Sounds, Creative Zeiten, VGR Multimedia), der Dieter Koch Musikverlag (Wuppertal bzw. Sprockhövel) oder Ohrwurm-Records von Marcel Ingignoli aus dem Ennepe-Ruhr-Kreis. Darüber hinaus tauchten immer wieder Produktionen auf eigenen kleinen Labels auf, die von den Bands selbst betrieben werden.

Bundesweit hat sich der RechtsRock-Markt in den letzten Jahren auf einige wichtige Labels konzentriert. Überregional relevante Bands aus NRW wie Sleipnir, Sturmwehr oder Division Germania sind allesamt bei Marktführern wie PC Records (Chemnitz), Oldschool Records (Wolfertschwenden, Landkreis Unterallgäu) oder Das Zeughaus (Meppen, Landkreis Emsland) „unter Vertrag“. Diese professionell agierenden Labels werden von langjährigen aktiven Neonazis betrieben, die größtenteils eine Nähe zu den neonazistischen Netzwerken Blood & Honour oder Hammerskin Nation pflegen. In NRW selbst sind so gut wie keine überregional agierenden Labels mehr aktiv. Das über mehrere Jahre in Bielefeld ansässige Label Wewelsburg Records von „Hammerskin“ Hendrik Stiewe ist mittlerweile an Nils Budig im niedersächsischen Leer übergegangen. Geblieben sind die kleinen Labels Wolfszeit und Reconquista Records, die für Eigenveröffentlichungen der Band Sleipnir bzw. des Nazi-Rappers Makks Damage dienen. Mit Sonnenkreuz (Rhein-Sieg-Kreis) und Christhunt Production (Leopoldshöhe, Kreis Lippe) werden zudem Sparten wie Neofolk bzw. NS-Black Metal bedient. Rock-O-Rama-Records ist heute kaum noch von Bedeutung. Zwar existiert der Versand und auch das Label noch, beide haben in der Szene jedoch einen denkbar schlechten Ruf, da sie als „szenefern“ gelten.

Im rheinland-pfälzischen Ludwigshafen war über mehrere Jahre mit der Gjallarhorn Klangschmiede eines der bundesweit wichtigsten RechtsRock-Labels und Vertriebe ansässig. Betrieben wurde das Label von dem führenden deutschen „Hammerskin“ Malte Redeker. Klangschmiede wurde 2016 zu Frontmusik und wechselte mit der Vertriebs- und Versandadresse nach Sachsen. Da aber Fragen zum Label und zu Bands weiterhin an die alte Mailadresse der Gjallarhorn Klangschmiede zu richten sind, könnte es sein, dass Redeker diesen Bereich weiterhin betreut. Erst Anfang 2017 wechselte die aus dem Rheinland stammende Band Flak zu Frontmusik/GKS33. In Rheinland-Pfalz ist weiterhin der Moloko-Plus-Versand in Görgeshausen (Westerwaldkreis) ansässig. Verantwortlich dafür zeichnet Patrick „Patter“ Prokasky, der seit den frühen 1990er Jahren in der neonazistischen Skinhead-Szene aktiv ist. Anlässlich des 15-jährigen Bestehens des Versandes veröffentlichte er im Jahr 2017 einen hauseigenen Sampler, auf dem internationale RechtsRock-Bands vertreten sind.

Konzerte

Die Durchführung von Konzerten stellt einen wichtigen und zentralen Bereich der Erlebniswelt der RechtsRock-Szene dar. Insbesondere hier werden emotionale Gemeinschaftserlebnisse und Kommunikationsorte geschaffen. Nicht zu vernachlässigen ist der finanzielle Aspekt der Konzerte.

Insgesamt hat sich der Bereich der Konzerte stark verändert. Waren es früher vor allem konspirativ organisierte Konzerte, bei denen die Schnitzeljagd mit der Polizei zum Erlebnis gehörte, so finden Konzerte heute oftmals in bekannten Immobilien — zumeist in Thüringen und Sachsen — statt. Konzerte werden angemeldet und genehmigt. Ein weiterer Anstieg ist auch bei jenen Konzerten zu beobachten, die von Parteien veranstaltet werden und somit dem Schutz des Versammlungsrecht unterliegen. Hier ist es gerade Die Rechte, die in jüngster Zeit Konzerte und Liederabende veranstaltet hat.

Schon in den 1990er Jahren boomten von Parteien — damals fast ausschließlich von der NPD — angemeldete Festivals wie das „Fest der Völker“ oder das „Rock für Deutschland“. In den letzten Jahren ist es still um diese ehemaligen Großevents geworden. Inzwischen gelang es FSN-TV „Moderator“ Patrick Schröder und Tommy Frenck, im thüringischen Hildburghausen mit dem „Rock für Identität“ beziehungsweise „Live H8“ wieder ein jährliches Festival zu etablieren, das in 2015 von etwa 1.500, in 2016 schon von etwa 3.500 TeilnehmerInnen besucht wurde. Sehr professionell wurde dieses Event mit einer langfristigen Werbestrategie verankert und konnte daher eine derartige Größe erreichen. Für 2017 sind mit dem „Rock für Deutschland“, dem „Rock gegen Überfremdung II“, dem „Rock für Identität“ und dem „Eichsfeldtag“ gleich eine ganze Reihe solcher „politischen Kundgebungen“ angekündigt.

Die TeilnehmerInnenzahl der meisten Konzerte sinkt, das liegt teilweise auch daran, dass die inzwischen etablierten Veranstaltungsorte nur eine Kapazität von 180 bis 220 Personen haben. Da die Karten für diese im Internet beworbenen Konzerte im Vorverkauf erworben werden können, heißt es hier oft schon früh: „leider ausverkauft“. Mit dem „Rocktoberfest“ am 15. Oktober 2016, das für „Süddeutschland“ beworben wurde und in der Schweiz mit — laut Behördenangaben — 5.000 TeilnehmerInnen stattfand, bewies die Szene ihre Mobilisierungskraft. Neben den deutschen Bands Stahlgewitter, Confident of Victory, Frontalkraft und Exzess traten der Rapper Makss Damage und Amok aus der Schweiz auf. Mit Ausnahme von Makss Damage alles Bands, die auch schon vor 10, 15 oder gar 20 Jahren auf der Bühne standen.

Vielleicht steigt auch die Bedeutung einzelner Konzerte und gerade die der Großevents, weil die älter gewordenen TeilnehmerInnen inzwischen in der Familie und nicht in der Szene leben und die Konzerte für die Vergemeinschaftung einen viel größeren Stellenwert haben. Hier können sich die TeilnehmerInnen noch als Teil der Szene und der Bewegung fühlen. Was die Veranstaltungsorte dieser lange angekündigten und als politische Veranstaltungen angekündigten Festivals betrifft, so konzentrieren sich diese vor allem auf Thüringen. Dieses Bundesland „im Herzen Deutschlands“ ist relativ zentral gelegen und für viele Interessierte gut zu erreichen. Zudem ist in kleinen Orten wie Hildburghausen oder Kirchheim kein großer zivilgesellschaftlicher Widerstand zu erwarten.

Erlebniswelten

Betrachtet man die Entwicklung der letzten Jahre, lässt sich auch in NRW ein (Wieder-)Anstieg der durchgeführten Events festmachen (siehe Tabelle 11). Im Jahr 2016 führte die Szene 21 Veranstaltungen durch. Dies ist die höchste Zahl seit 2006, in dem ebenfalls 21 Events stattfanden. Unter diese fallen auch 12 Liederabende, deren Anzahl bundesweit stark zunahm. Hier ist zu beobachten, dass die Partei Die Rechte zunehmend als Veranstalter von Liederabenden in Erscheinung tritt, wie zuletzt am 11. Februar 2017 mit dem Liedermacher Barny in Dortmund. Die Vorteile der Liederabende liegen in der einfacheren Organisierung und einer größeren Sicherheit, dass sie auch tatsächlich stattfinden werden. Dies zeigt sich auch in Hessen. Während in den Jahren 2015 und 2016 mindestens drei Versuche, größere Konzerte durchzuführen, an Kündigungen der Hallen scheiterten, konnte die neonazistische Szene zumindest vier Liederabende in den beiden Jahren in Hessen durchführen.

Dass die Szene in NRW aber auch in der Lage ist, klassisch konspirativ organisierte Bandkonzerte durchzuführen, zeigte sich im November 2016. Mehrere hundert Personen kamen zum „Lichtbringer Festival“ nach Heinsberg in der Nähe von Aachen, wo die Bands Flak, Brainwash und Frontalkraft auftraten.

Was die Statistiken betrifft, so muss jedoch genau hingeschaut werden. Nicht selten weichen Veranstalter aus NRW für ihre Konzert ins benachbarte Ausland aus. Mitte der 2000er Jahre führten die Dortmunder Blood & Honour/Combat 18-Strukturen ihre Konzerte beispielsweise regelmäßig in Belgien durch. Auch zahlreiche Konzerte der rechten Hooligan-Band Kategorie C, die in den letzten Jahren für NRW angekündigt waren, wurden in die benachbarten Benelux-Staaten verlegt. Beispielsweise am 20. Februar 2016 im belgischen Malmedy, obwohl für den „Raum Aachen“ angekündigt. Auch die rheinland-pfälzischen „Hammerskin“-Strukturen führten über viele Jahre nahe der Grenze im benachbarten Frankreich Veranstaltungen durch, ohne dass diese Konzerte in bundesdeutschen Statistiken auftauchen.

Marschieren und Musizieren

Immer populärer wird es, Bands oder LiedermacherInnen im Rahmen von Kundgebungen und Demonstrationen auftreten zu lassen. Insbesondere wegen des Mobilisierungseffekts und wenn sich abzeichnet, dass es bei einer unattraktiven Standkundgebung bleiben wird. Des Weiteren bieten derartige Auftritte den Bands teilweise auch die Möglichkeit, sich an öffentlichkeitswirksamen Orten zu präsentieren. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei der Kundgebung von Gemeinsam Stark e.V. am 9. Oktober 2016 in Dortmund ein Großteil der 500 Teilnehmenden wegen der angekündigten Auftritte von Oidoxie und Randgruppe Deutsch erschienen und nicht etwa aufgrund der Reden von

Tatjana Festerling und anderen. Ein Teil des Erfolges der HoGeSa-Demonstration im Herbst 2014 in Köln war darin begründet, dass Kategorie C in unmittelbarer Nähe des Hauptbahnhofes auftrat — vor mehreren tausend ZuschauerInnen. Teilweise kommt es auch zu Auftritten im Rahmen von PEGIDA-Demonstrationen. So trat der Liedermacher/Rapper Patrick Killat aka Villian51 bei der PEGIDA-NRW-Kundgebung am 5. September 2016 in Duisburg auf.

Viel Professionalisierung, wenig Dynamik

Mit der Alterung der RechtsRock-Szene ist auch eine damit verbundene Professionalisierung zu beobachten. Auffällig ist, dass sich in den Bandbesetzungen und unter den wichtigen Protagonisten des Rechts-Rock-Business in NRW, RLP und Hessen kaum jemand findet, der jünger als 30 Jahre alt ist. Auch viele Angebote richten sich insbesondere an ein älteres und gesetzteres Publikum, die oft auch zahlungskräftiger sind. Der Trend bei Neuveröffentlichungen geht demzufolge zu limitierten Auflagen in Holz- und Blechdosen. Auch der „Vinyl Boom“ auf dem Musikmarkt der letzten Jahre ist nicht an der RechtsRock-Szene vorbeigegangen. Waren es zuvor lediglich Bands aus dem NSHC-Bereich, die ihre Tonträger auf Schallplatte veröffentlichten, kommen aktuelle Neuerscheinungen diverser Bands vermehrt wieder auf Vinyl auf den Markt. Auch „Klassiker“ der Szene werden wieder nachgepresst.

Während insgesamt im Bereich des RechtsRock in den letzten Jahren kaum wirklich neue Entwicklungen festzustellen sind, so ist das Phänomen des NS-Rap eine der wenigen Bereiche, in denen eine Dynamik zu verzeichnen ist. Mit der zunehmenden Akzeptanz von Künstlern wie Makss Damage zeigt die RechtsRock-Szene auch, dass sie in der Lage ist, auf vermeintlich nicht kompatible jugendkulturelle Erscheinungsformen zu reagieren und diese zu integrieren.

In Bewegung | Jugendkulturen in der extremen Rechten

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Unter Jugendlichen ist immer mehr ein Sampeln unterschiedlichster jugendkultureller Elemente festzustellen. Klassische Jugendkulturen lösen sich zunehmend auf, klare Zuordnungen sind oftmals nicht möglich. Jugendkulturelle Identitätsentwürfe sind in Bewegung. Dies betrifft auch die extreme Rechte: „Skinhead“, „Autonomer Nationalist“ oder „Stino“ — was funktioniert für die Szene?

Zentral für Jugendszenen ist, dass sie nicht nur von der jeweils eigenen Gruppe, sondern auch von Außenstehenden wahrgenommen werden. In den 1990er Jahren, als der Skinhead das role model der jugendkulturellen Ausdrucksform der extremen Rechten war, war das zumindest auf den ersten Blick einfach. Selbstverständlich gab es auch damals andere, nicht-rechte Skinheads, doch in der Öffentlichkeit dominierte die Gleichung Skinhead = Neonazi. Umgedreht funktionierte das auch. Wer sich als Jugendlicher oder junger Erwachsener als Neonazi zu erkennen geben wollte, der wurde einfach Skinhead. Und er oder sie spürten sofort die Folgen der zumindest ästhetischen Zuordnung zu dieser Szene. BürgerInnen, MigrantInnen und teilweise auch Linke wechselten bei ihrem Anblick zumeist die Straßenseite. Allmachtsgefühle und -phantasien stellten sich oftmals ein, vor allem dort, wo Skinhead-Gruppen nicht auf Widerstand stießen.

Brüche und neue Identitäten

Ende der 1990er Jahre wurde der Skinhead nicht mehr mit dem Bild des arischen Kämpfers, sondern immer mehr mit dem des brutalen, aber unglaublich dummen und stumpfen Schlägers verbunden. „Cool“ ging auf jeden Fall anders. Der smarte „Arbeiter-Kult“ der Skinheads hatte sich in einer Zeit, in der die „Proletarier“ den „Dienstleistern“ gewichen waren, zudem als nicht mehr zeitgemäß erwiesen. Auch Jugendliche mit extrem rechten Ideen wollten nicht nur anders, sondern auch cool sein, sie machten sich auf die Suche nach neuen Identitäten. Der aus der radikalen Linken kommende Hardcore bot sich als Alternative an — mit seiner Stilisierung von Härte und Männlichkeit und seiner Eindeutigkeit jenseits der spielerischen, doppeldeutigen Elemente des Punks. Das war weitaus näher an allem, was extrem rechte Jugendliche aus ihrer vom alltäglichen Gegeneinander geprägten Lebenswelt kannten. Sie überführten diese in einen Gang- und Krieger-Style. Inhaltlich konnten Themen wie die Kritik an sozialer Ungleichheit, an Globalisierung und an Drogen mit rechten Deutungen weitergeführt werden. So adaptierten Teile der extremen Rechten die Musik und auch Symbole und Stilelemente der Hardcore-Szene. Andere schauten mehr auf den primär politischen Bereich der radikalen Linken, der Antifa. Auch hier fanden sie Elemente, die sie faszinierten: Mackertum, Gewaltinszenierungen, den schwarzen Block. Auch diese adaptierten sie und luden sie mit neonazistischer Ideologie auf. Das Problem dabei war, dass die Erkennbarkeit als Nazi verlorenging beziehungsweise durch andere Elemente erzeugt werden musste, die wesentlich diffiziler waren.

Natürlich freuten sich die in Schwarz gekleideten Autonomen Nationalisten, sich auch in links-alternativen Szenevierteln weitestgehend unerkannt bewegen zu können. Sie konnten sich fühlen wie Fische im Wasser, allerdings auch nicht mehr wie Haie, vor denen alle Angst haben. Denn im Alltag funktionierte die „Wir“-Bildung nicht mehr. Im Gegensatz zu den 1990ern, als ein Skinhead, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eben noch ein Nazi war, konnten die schwarz gekleideten jungen Menschen Autonome Nationalisten, aber ebensogut auch Antifas oder Ultras sein. Das Outfit brachte keine Exklusivität mehr.

Unsichtbar

Während viele jugendliche Nazis sich im neuen Outfit cool fühlten, wurden sie für die breite Öffentlichkeit unsichtbar; es gab ihn nicht mehr, den typischen jugendlichen Neonazi. Die Verfassungsschutzbehörden schrieben damals sogar, Nazis tarnten sich mit ihrem neuen Outfit. Teile der Linken sorgten sich, es könne den Neonazis gelingen, die Deutungshoheit über das role model des Autonomen zu übernehmen. Glücklicherweise gelang das nicht — vielleicht, weil letztendlich von außen die Zugehörigkeit zu einer der Szenen nur sehr schwer oder gar nicht zu erkennen war. Die Vergemeinschaftung fand bei den Autonomen Nationalisten zunächst auch nicht im Alltag statt, sondern im Rahmen von Aufmärschen und Demonstrationen, auf denen sie sich als schwarzer Block formierten. Erst hier entstand nach innen und außen auch Identität.

Feindbild

Bei Jugendkulturen bilden Momente des „Angefeindetwerdens“ einen wichtigen Punkt der Gemeinschaftskonstruktion. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, von wem Kritik oder Anfeindungen kommen. War es bei den Skinheads der politische Gegner, so kam Kritik an den Autonomen Nationalisten auch aus der extremen Rechten. Dieser galt deren Auftreten als Mummenschanz; die Orientierung an der radikalen Linken war vielen suspekt. Auch das Aufkommen der ersten Nazi-Rapper war stark umstritten. Ein positiver Bezug auf HipHop als Jugendkultur erfolgt in der extremen Rechten bis heute fast nicht. Kaum kritisiert wurde hingegen die Adaption des Hardcore. Auch die in den vergangenen Jahren verstärkte Orientierung an den rockerähnlich auftretenden männerbündischen Bruderschaften steht szeneintern kaum in der Kritik.

Weitere Ausdifferenzierung

In den letzten Jahren hat sich das Erscheinungsbild und der Ausdruck extrem rechter Jugendkultur immer weiter ausdifferenziert. Nazi-Rap gehört heute ebenso dazu wie einige seltene Exemplare des „Nipsters“, der sich in einem Sampling aus Elementen aktuell angesagter Jugendkultur und Bekenntnissen zum Nationalsozialismus versucht. Betrachtet man die social media-Auftritte oder Modeaccessoires dieser jungen Neonazis, dann fällt auf, dass insbesondere aus ihrem Spektrum heraus eine sehr offene und plumpe NS-Verherrlichung betrieben wird. Man könnte meinen, dass sie gerade wegen ihrer ästhetisch hippen und jugendkulturell zeitgemäßen Auftritte und Kleidungsstücke der eigenen Szene beweisen müssen, dass sie „hundertprozentig NS“ sind. Das HKN-KRZ-T-Shirt und der „I love NS“-Jutebeutel erfüllen dafür sicherlich ihren Zweck.

Liegt in der Ausdifferenzierung eine neue Gefahr? Die extrem rechten Inhalte erreichen sicherlich auch weiterhin Jugendliche und junge Erwachsene; aber kann sich um diese auch eine eigene Jugendszene herausbilden, eine Szene, die eine kollektive Identität zu bieten hat und die eine Sogwirkung entwickelt? Mit der zunehmenden Unsichtbarkeit der jugendkulturellen Neonazis und der damit verbundenen geringeren öffentlichen Aufmerksamkeit könnte eventuell eine Abnahme der Repression einhergehen. Offen bleibt ebenfalls die Frage, ob die Identitäre Bewegung sich einen eigenen jugendkulturellen Stil gibt oder ob die Inhalte ihre große Klammer bilden.

Abzuwarten ist auch, ob andere Aspekte wie geschaffene (Frei-)Räume und die Selbstvergewisserung im Rahmen von Events eine größere Bedeutung erlangen — ob der Identitätsverlust also aufgefangen werden kann. Eventuell könnte das durch eine verstärkte Fokussierung auf Inhalte geschehen. Man wird sehen.

Die Lady lädt ein | Der „Reichshof“ nach Manfred Roeders Tod

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Manfred Roeder war eine der schillerndsten Personen der hessischen Naziszene. Lotta hatte zuletzt im Winter 2011/2012 (Ausgabe #46) ausführlich über ihn berichtet. Mit seinem „Reichshof“, den er gerne als „Keimzelle des Reiches“ bezeichnete, hatte er im hessischen Schwarzenborn/Knüll (Schwalm-Eder-Kreis) ein wichtiges Zentrum für die extreme Rechte geschaffen. Aufgrund Roeders zunehmenden geistigen Verfalls bestand Hoffnung, dass der Hof an Bedeutung verlieren würde. Das Gegenteil ist der Fall, obwohl Roeder zwischenzeitlich verstorben ist. Mit Lady Michèle Renouf hat Roeder eine gleichwohl schillernde wie gefährliche Nachfolgerin bekommen.

Das Gelände knapp unterhalb des Aussichtsturms auf dem Knüllköpfchen — 60 Autokilometer südlich von Kassel im Knüllgebirge — ist für ein extrem rechtes Tagungszentrum bestens geeignet. In der Nachbarschaft gibt es nur einige Bauernhöfe, eine große christliche Gemeinde und etwas weiter oben auf dem Knüll eine Jugendherberge. Der Hof liegt abseits der Öffentlichkeit, ist aber dennoch über die Autobahn A7 gut zu erreichen. Das große Haus bietet für kleine Konferenzen ausreichend Tagungsräume und Gästezimmer, der Garten ist weitläufig, zentral gibt es eine große Feuerstelle.

Reges Treiben auf dem Knüll

Zu Roeders aktivsten Zeiten in Mittelhessen Mitte der 1990er bis Mitte der 2000er Jahre fanden auf dem Knüll fast monatlich Veranstaltungen, die sogenannten Heimabende, statt. Außerdem lud Roeder zweimal im Jahr zu großen und gut besuchten Sonnenwendfeiern ein. Nationale und internationale Größen der Neonaziszene fanden sich ebenso ein wie Altnazis und Mitglieder regionaler „Kameradschaften“. Der Hof war ein generationsübergreifender Treffpunkt, dessen Bedeutung auch den Behörden klar war. So sagte Peter Stark, Abteilungsleiter a.D. des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz, vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Wiesbaden aus, dass das Amt eigene „Quellen“ auf den Veranstaltungen bei Roeder hatte und dass es auch sehr wahrscheinlich sei, dass das Bundesamt oder andere Landesämter durch eigene „Quellen“ informiert wurden.

Roeder gelang es über Jahre nicht, den Hof kostendeckend oder gar gewinnbringend zu bewirtschaften. Immer wieder klagte er in seinen Rundbriefen über Geldnot und das drohende Aus. Bei der Bewirtschaftung unterstützten ihn immer wieder jüngere Personen, die teilweise auch auf dem Hof lebten. Während seiner letzten Haftzeit — Roeder musste 2004 wegen Verunglimpfung des Staats eine mehrmonatige Strafe absitzen — betreuten seine ehemalige Sekretärin und der heute als Liedermacher „Reichstrunkenbold“ (vgl. Lotta #55) bekannte Philip Tschentscher den Hof. Tschentscher verfasste während der Zeit auch mehrere Rundbriefe von Roeders Deutscher Bürgerinitiative (DBI). Vor dem hessischen Untersuchungsausschuss bestritt er seine Autorenschaft. Roeder schoss sich selbst innerhalb der Szene immer weiter ins Aus. Sein unflätiges Verhalten und sein ungezügelter Sexismus galten vielen schon lange als Problem. Dennoch wurde er gerade von Jüngeren als Idol verehrt. Als ehemaliger Napola-Schüler und Soldat sowie als Rechtsterrorist hatte er eine große Anziehungskraft. Im Kontext der Recherchen rund um den NSU-Komplex wurde Roeders Name öfter genannt, da Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Andre Kappke 1996 bei einem Roeder-Prozess in Erfurt ihre Solidarität mit einem Transparent bekundet hatten. Roeder soll aufgrund seiner guten Kontakte nach Südafrika auch im Gespräch gewesen sein, als es darum ging, dem Kerntrio bei einer eventuellen Flucht ins Ausland behilflich zu sein. Man rückte aber wohl wegen mangelnden Vertrauens schnell wieder von dieser Idee ab.

Das Ende der Ära Roeder

Als Roeder 2004 aus der Haft entlassen wurde, wurde es ruhiger auf dem Knüll. Zwar fanden weiterhin Sonnenwendfeiern statt und internationaler Besuch, beispielsweise von Gruppen aus Russland oder US-amerikanischen Militaristen, fand sich auf dem Hof ein, aber mit zunehmendem Alter überwarf sich Roeder mit nahezu der gesamten extremen Rechten. Er witterte überall Verschwörungen gegen ihn, in seinen Rundbriefen beschimpfte er seine Exfrau und ehemalige Weggefährten aufs Übelste und bezichtigte sie, sich den Knüll unter den Nagel reißen zu wollen. Auch sein Sohn Konrad, der sich bis dahin um die geschäftlichen Belange des Vaters gekümmert hatte, wurde des Verrats bezichtigt. Konrad war es dann wohl auch, der den Verkauf des Hofes einleitete. Sein Vater musste das Anwesen 2013 verlassen und zu seinem Pfleger in die Nachbarstadt ziehen. Gut ein Jahr später starb Roeder und wurde sang und klanglos und in erstaunlicher Eile in Neukirchen beigesetzt. Über Roeders Sohn Konrad ist wenig bekannt, es schien dem Göttinger Anwalt jedoch wichtig, dass der Hof im Kreis Gleichgesinnter bleibt. Offiziell erworben wurde der „Reichshof“ von Ludmilla Ivan-Zadeh, genutzt wird er jedoch von deren Mutter, Lady Michèle Renouf. Renouf hatte damit erreicht, dass Roeder noch vor seinem Ableben ausziehen musste, das Haus der extremen Rechten aber weiterhin zur Verfügung steht, ohne dass auf den narzisstischen Roeder Rücksicht genommen werden muss.

Die Patin der HolocaustleugnerInnen

„Michèle Renouf has no long history of nazi politics, but has been obsessivly anti-jewish for about 20 years“, so wurde die neue Hofbetreiberin kürzlich vom britischen Antifamagazin Searchlight charakterisiert. Die gebürtige Australierin und Jetset-Frau unterstützte den Holocaustleugner David Irving bei seinem Prozess und während seiner Haftzeit. Seither nimmt sie in der internationalen Holocaustleugner-Szene eine zentrale Rolle ein. Sie sprach unter anderem 2006 bei der Holocaustleugner-Konferenz in Teheran und organisierte im November 2015 ein Fundraising für Horst Mahler im Londoner Charing Cross Hotel mit. Bereits in den 2000er Jahren war sie auf dem Knüll bei Roeder zu Gast. Sie knüpfte gute Kontakte in den Kreis um Ursula Haverbeck, die sie auch bei ihren Prozessen begleitete. Zur Seite stand ihr dabei immer der aus den USA stammende Roy Armstrong Godenau. Godenau kam als Soldat nach Deutschland und heiratete in die völkische Sippschaft seiner Frau Ingeborg ein. In den USA arbeitete er mit dem ehemaligen KKK-Führer David Duke zusammen und gilt auch heute noch als Verbindungsmann zum KKK. Sein Schwiegervater Siegfried Godenau war ein alter Weggefährte Roeders und völkischer Multifunktionär. Das Gelände der Godenaus, die Buchenmühle in Gilserberg, liegt nur 30 Kilometer vom Knüll entfernt. Früher fanden dort Lager der Wiking Jugend statt, heute können politisch Gleichgesinnte die Bungalows auf dem Gelände für ihre Urlaube mieten. Ingeborg Godenau ist heute eine wichtige Akteurin beim völkischen Sturmvogel, Roy Godenau Vorsitzender der NPD Nordhessen und steter Wegbegleiter von Michèle Renouf. In 2013 trat die Delegation der Holocaustleugner gemeinsam beim Trauermarsch im niedersächsischen Bad Nenndorf auf, dabei war neben Godenau und Renouf unter anderen auch Haverbeck. Beide sind im Netzwerk der stark antisemitischen Europäischen Aktion (EA) aktiv und auf fast allen EA-Veranstaltungen anzutreffen, Renouf als gern gesehene Rednerin und Godenau als ihr Übersetzer. Eine ihrer EA-Reden eröffnete sie mit der Bemerkung, dass sie aus dem „zionistisch besetzten Britannien“ stamme und dass sie sehr froh darüber sei, sich endlich miteinander vernetzen zu können und nicht nur über den „Predator“ zu sprechen. Dabei deutete sie auf ihren rechten Arm und vermaß ihn mit der linken Hand, ein angedeuteter Hitlergruß mit Augenzwinkern für die Anwesenden.

Der Knüll als neues altes Zentrum

Michèle Renouf scheint das Potenzial des Hofs auf dem Knüll erkannt zu haben. Seit sie ihn übernommen hat, finden dort wieder regelmäßig Veranstaltungen statt. Teilweise überlässt sie Partnerorganisationen das Programm, das Stellen von RednerInnen und die Mobilisierung. Sie selbst tritt als Hausherrin in Erscheinung. Veranstaltungen mit Vollverpflegung werden für 50 Euro pro Person und Wochenende angeboten, Mitglieder der veranstaltenden Organisationen erhalten Rabatt. Im Dezember 2015 lud erstmals Meinolf Schönborn mit seiner Organisation Recht und Wahrheit ein und führte damit die Tradition der Sonnenwendfeiern auf dem Knüll fort. Geboten wurden einschlägige Redner wie Marcus Trümpert und „Prof.“ Heino Janßen, für die musikalische Untermalung sorgte Frank Rennicke. Schönborn nutzt seither den Knüll regelmäßig für Veranstaltungen und Lesertreffen. Auch die Sommersonnenwende 2016 veranstaltete er auf Einladung „der Lady“ dort, erneut mit einschlägigen Rednern wie Gerd Ittner, der erst kürzlich in Dresden einmal mehr den Holocaust offen leugnete.

In diesem Frühjahr fanden bereits mindestens vier Veranstaltungen auf dem Knüll statt. Ende Januar wurde für ein Wochenendseminar eingeladen, bei der unter anderem Christian Bärthel als Vertreter der „Christen gegen die Islamisierung des Abendlandes“ sprach. Über Bärthels vielseitigen Aktivismus als „Reichsbürger“ und Redner bei THÜGIDA berichtete kürzlich der MDR ausführlich, sein Auftritt bei Renouf kam dabei allerdings nicht zur Sprache. Für Anfang Februar 2017 hatte Schönborn zu einem SS-Zeitzeugengespräch eingeladen und für das letzte Märzwochenende ein Stelldichein der ganz besonderen Art angekündigt. Zusammen mit Sascha Krolzig (Die Rechte), Rigolf Henning (Europäische Aktion) und Sascha Wagner (NPD Saarland) lud er zu einem strömungsübergreifenden Austauschtreffen ein.

Der „Reichshof“ und seine Bedeutung für die Szene

Mit der Übernahme des „Reichshofs“ hat Renouf eine wichtige und traditionsreiche Immobilie für die extreme Rechte erhalten und stärkt damit deren Infrastruktur. Für die nicht einmal 1.500 EinwohnerInnen zählende Gemeinde Schwarzenborn scheint es bisher nicht von Interesse zu sein, dass sich dort das Who-is-Who der nationalen und internationalen Holocaustleugner-Szene gerne und häufig einfindet, um an ihren Plänen für die „nationale Revolution“ zu spinnen und ihrem Antisemitismus freien Lauf zu lassen. Man scheint froh zu sein, dass sich dort nicht mehr wie zu Roeders Zeiten Skinheads mit Springerstiefeln herumtreiben. Die älteren, gesetzteren und gut gekleideten Herren und Damen stören die ländliche Idylle hingegen nicht. Als Roeders Sohn den Hof an die Renoufs Tochter verkaufte, hatte sich der damalige Bürgermeister und heutige Vizelandrat Jürgen Kaufmann (SPD) gegenüber der Lokalpresse dahingehend geäußert, dass er gemischte Gefühle habe, aber hoffe, dass es keine politischen Probleme geben würde. Bisher scheint Schwarzenborn tatsächlich keine Probleme mit der neuen Besitzerin und ihren Gästen zu haben.

Poggenburgs Provokationen | Die AfD in Sachsen-Anhalt

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Mit einem Stimmenanteil von 24,3 Prozent und 25 Mandaten zog die AfD am 13. März 2016 in den Landtag von Sachsen-Anhalt ein — als zweitstärkste Kraft und Oppositionsführerin. Ihr Wahlergebnis ist das bislang beste, das eine Rechtsaußenpartei jemals bei Landtagswahlen erzielte. Dies ist nicht nur im Plenarsaal spürbar.

Am Abend des Wahltags hatte die AfD um ihren Spitzenkandidat Andre Poggenburg gemeinsam mit Jürgen Elsässer (Compact) und Götz Kubitschek (Institut für Staatspolitik, IfS) noch die Korken knallen lassen. Nach dem Partyrausch setzte bei ihr jedoch der Kater des politischen Alltags ein. Im Zuge der bis heute anhaltenden Auseinandersetzung um die Macht in Partei und Fraktion stand sie mehrfach davor, an Querelen zu zerbrechen.

Dabei ging es weniger um ihre inhaltliche Ausrichtung als vielmehr um die Frage, wie weit der Schulterschluss nach ganz rechts außen sichtbar werden sollte. Dass Partei und Fraktion tatsächlich nach rechts offen sind, ließ sich im zurückliegenden Jahr gleich mehrfach studieren. So trat der Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider bei einer Veranstaltung von PEGIDA auf, obwohl die Bundesparteiführung um Frauke Petry auf Distanz bestand. Tillschneider hingegen forderte ein strategisches Bündnis mit PEGIDA. Ohnehin laufen im Länderdreieck Sachsen / Sachsen-Anhalt / Thüringen so ziemlich alle rechten Fäden bei der AfD zusammen. Mit den AfD-Landtagsfraktionen und dem in Sachsen-Anhalt ansässigen IfS greifen hier zudem Tages- und Metapolitik eng ineinander.

In der Frage des Verhältnisses zu den „Identitären“ fährt die AfD-Fraktion zweigleisig. Formal distanziert sie sich von den besonders in Halle (Saale) aktiven Kadern der Kontrakultur aus dem Umfeld örtlicher Burschenschaften. Faktisch jedoch sind die Beziehungen dorthin politisch eng. Der AfD-MdL Jan Wenzel Schmidt sprach bei einer Kundgebung der „Identitären“ im Harz, Tillschneider trat bei Kontrakultur auf und erklärte auf Nachfrage, die offizielle Distanzierung seiner Partei von den „Identitären“ sei aus seiner Sicht falsch. Tillschneider und andere Rechtsausleger sehen die AfD als Bewegungspartei, die im strategischen Verbund mit anderen rechten Akteuren nichts Geringeres als eine Umkehr der politischen Koordinaten des Landes bewirken soll.

Innerhalb kurzer Zeit verschliss die Fraktion einen Landtagsvizepräsidenten, einen Fraktionsgeschäftsführer und einige Mitarbeiter*innen. Als erklärte Gegner*innen des von den vielgescholtenen Altparteien angeblich errichteten Systems aus Filz und Korruption ließen die frischgebackenen Abgeordneten dabei keine Gelegenheit aus, sich etwa bei den Funktionszulagen für Fraktionsangehörige üppig zu bedienen.

Parlamentarische Arbeit

Nach einem Jahr Präsenz im Landtag lässt sich für die AfD in Sachsen-Anhalt eine erste Bilanz ziehen. Demnach ist die parlamentarische Plackerei in den Ausschüssen nicht die Sache der neuen Fraktion. Vielmehr nutzt sie das Parlament als Plattform, um ihre Inhalte in den Plenardebatten möglichst provokant und reichweitestark zu platzieren. Kaum eine Landtagsdebatte vergeht, ohne dass die Abgeordneten der AfD mit Provokationen und rhetorischen Tabubrüchen testen, wie weit nach rechts der Diskursraum im Land geöffnet werden kann. Immer wieder bringen AfD-Abgeordnete originäre NS-Begriffe oder offen rassistische Stereotype in die Debatten im Landtag ein — und stellen damit die anderen Parteien vor die Herausforderung, eine angemessene Reaktion zu finden, die einerseits der AfD ihre begrifflichen Entgleisungen nicht durchgehen lässt, andererseits aber nicht jede Provokation aufgreift.

Ebenso gilt es, auf die Politik der AfD nicht mit moralischer Abwehr, sondern mit inhaltlicher Auseinandersetzung zu antworten. Dies fällt den Abgeordneten der anderen Parteien erkennbar dort schwer, wo die AfD Identitätsthemen wie Gender und Flüchtlinge vorträgt — verbunden mit der Behauptung, sie spräche im Namen des Volkes. Es erweist sich als echte Herausforderung, die ideologischen Narrative der Partei nicht nur zu identifizieren, sondern sie auch transparent zu dekonstruieren.

Keine Gelegenheit lässt die AfD-Fraktion aus, um politische Gegner als vermeintlich „linksextrem“ zu denunzieren. Ob der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) oder der Flüchtlingsrat — sie alle gerieten ins Visier der AfD mit dem Ziel, ihre Arbeit zu delegitimieren.

Für alles offen?

Gravierender sind für die politische Kultur des Landes jedoch die gesellschaftlichen Konsequenzen des Wahlerfolgs. Unmittelbar nach der Wahl wurden Stimmen laut, die von der Partei vertretenen Positionen müssten stärkere gesellschaftliche Repräsentanz erfahren. Private und öffentlich-rechtliche Medien korrigierten spürbar ihren Kurs gegenüber der AfD. Hatte zuvor eine kritisch-distanzierte Berichterstattung die Richtung bestimmt, wurde ihr nun breiter Raum gegeben. Rasch wurde ein diskursives Muster erkennbar, das die AfD für sich zu nutzen weiß. Nach wie vor behaupten ihre Vertreter, ihre Positionen würden im politisch-medialen Mainstream nicht authentisch abgebildet; die AfD sei Opfer der Political Correctness. Diese Selbstinszenierung verschafft der Partei eine komfortable Position. Sie führt dazu, dass Vertreter der AfD und ihres rechtsintellektuellen Umfeldes Zutritt zu neuen Debattenräumen erhalten — aus Furcht vor dem Vorwurf, relevante politische Strömungen auszugrenzen. Exemplarisch hierfür steht die Debatte um den Verleger und Vordenker der Neuen Rechten Götz Kubitschek.

Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) hatte zugesagt, im Stadttheater Magdeburg mit Kubitschek zu diskutieren. Er sehe sich der Debatte gewachsen, ließ er wissen. Erst eine Intervention des Ministerpräsidenten beendete das Vorhaben, einen öffentlichen Diskurs mit der Neuen Rechten zu führen. Dass diese Debatte einem Ritterschlag für Kubitschek und das durch ihn repräsentierte rechtsintellektuelle Milieu gleichgekommen wäre, galt Teilen der Öffentlichkeit nicht als Gegenargument. Im Gegenteil: Es sei Ausweis demokratischer Standfestigkeit, sich der Debatte mit der Neuen Rechten zu stellen, hieß es. Diese von der Auseinandersetzung mit PEGIDA in Sachsen bekannte Argumentation wird zum offenen Scheunentor für die Diskursstrategie der Neuen Rechten, die darauf setzt, den Kampf um Begriffe und Deutungen zu führen. Auch wenn die Debatte zwischen Kubitschek und Innenminister Stahlknecht letztlich nicht stattfand, so bildete die abgesagte Veranstaltung doch die Blaupause für andere Dialogformate, in denen die AfD nunmehr im Mittelpunkt steht.

Fazit

Der AfD ist es binnen eines Jahres mehrfach gelungen, den politisch-medialen Betrieb eines Bundeslandes mit ihren rechtspopulistischen Inszenierungen am Nasenring zu führen. Damit hat sie den Raum des Sagbaren deutlich nach rechts ausgeweitet. Dies lässt für den kommenden Bundestagswahlkampf befürchten, dass die politischen Vorstöße der AfD noch rabiater werden. Es ist höchste Zeit, dass Politik und Gesellschaft begreifen, dass und wie die AfD ihren Kulturkampf von rechts führt.

Desolate Ausgangslage | Die AfD vor der Landtagswahl in NRW

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Vor der für die rechtspopulistische Partei wichtigen Landtagswahl in NRW steigt in der AfD die Anspannung: Anhaltender Streit in der Führungsspitze und sinkende Wählerzustimmung könnten den Erfolgshoffnungen in ihrem mitgliederstärksten Landesverband einen empfindlichen Dämpfer versetzen.

Die Ausgangslage für die AfD in NRW sieht alles andere als gut aus: Zwar schaffte die AfD Ende März trotz erheblicher Einbußen in den Wahlumfragen mit 6,2 Prozent den Einzug in den saarländischen Landtag. Doch parteiinterne Skandale, misslungene Auflösungsforderungen des Bundesvorstandes gegenüber dem saarländischen Landesverband und irrlichternde Spitzenkandidaten wie der NS-Devotionalienhändler Rudolf Müller dezimierten erheblich die ursprünglich anvisierten Mandatsaussichten. Auch die Landtagswahlen in Schleswig-Holstein stehen für die AfD unter keinem guten Stern: Bislang erzielte die rechtspopulistische Partei dort vergleichsweise schlechte Wahlergebnisse. Ihr frenetischer Jubel über den Wahlsieg von Donald Trump in den USA bekam der AfD ebenfalls nicht gut, weil dessen Politik sogar Teile der AfD-Sympathisanten verunsichert. Auch das vergleichsweise schwache Wahlergebnis des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders lieferte bei Weitem nicht den Rückenwind, den sich die in der ENF-Fraktion miteinander verbundene radikale Rechte im Europaparlament erhofft hatte.

Nervosität in der AfD NRW

Im Februar machten zwei, die einander nicht ausstehen können, in Essen gute Miene zum bösen Spiel. Die beiden in herzlicher Abneigung verbundenen AfD-Landesssprecher Marcus Pretzell und Martin Renner stehen in der Essener Messe vor dem Saal „Europa“ und geben gemeinsam eine improvisierte Pressekonferenz. Sie müssen Eintracht mimen, denn gerade hat eine sehr knappe Mehrheit der Delegierten Renner zu ihrem Spitzenkandidaten bei der Bundestagswahl im September gewählt. Da kann sich Pretzell dem Auftritt vor den Medien nicht verweigern, ohne für ewig den Ruf des egomanen Spalters wegzuhaben. Und Renner ist klug genug, in der Stunde des Triumphs nicht allzu vorlaut aufzutreten.
Rückblende: Einen Monat vor jenem Tag in Essen hat Pretzell in Oberhausen versucht, Renner als Landessprecher abwählen zu lassen. Ein Wahlkampf mit Renner als Landessprecher sei nicht möglich, hatte Pretzell gesagt. Der Versuch, seinen Kontrahenten aus dem Amt zu kegeln, ging jedoch schief, auch wenn mit gleich 17 Abwahlanträgen ein großes Scherbengericht vorbereitet war, samt Generalabrechnung hinter verschlossenen Türen. Am Ende votierten zwar 54 Prozent gegen Renner — die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit wurde aber deutlich verfehlt.

Wer wissen wollte, wie eine gespaltene Partei aussieht, war an diesem Sonntagnachmittag in der Luise-Albertz-Halle in Oberhausen richtig. Geradezu augenfällig wurde dort die innere Lage der nordrhein-westfälischen AfD. Zur angekündigten Pressekonferenz mit beiden Streithähnen kommt es nicht. In einer Nische des Foyers steht der eine der beiden Landesvorsitzenden im Scheinwerferlicht und beantwortet Journalistenfragen. Zwei Ecken und 30 Meter entfernt steht der andere und schildert seine ganz andere Sicht der Dinge.

Ein Ex-Parteifreund richtete unlängst via Facebook aufmunternde Worte an Renner: Er habe doch schon Ex-Bundes-chef Bernd Lucke und den ehemaligen Landesvorsitzenden Alexander Dilger überlebt, schrieb er und sprach ihm Mut zu: „Jetzt werden Sie auch noch die Ära Marcus Pretzell überleben.“ Renner antwortete: „Ja, das ist mein Bestreben.“ Womit alles gesagt ist über das Nicht-Verhältnis der beiden. Es ist ein Aufeinandertreffen völlig unterschiedlicher und unverträglicher Charaktere. Es ist aber auch weit mehr als der Zusammenprall zweier Platzhirsche, die um die Vorherrschaft im rechtspopulistischen Revier wettröhren.

Was ab und an als Richtungsentscheidung zwischen „gemäßigt“ und „radikal“ fehlinterpretiert wird, ist eine Auseinandersetzung über unterschiedliche Strategien der Radikalisierung. Auf der einen Seite das Konzept von Frauke Petry und Pretzell, die AfD zu einer rechtspopulistischen Partei nach französischem oder österreichischem Vorbild zu formen, mittelfristig mit der Aussicht auf Regierungsbeteiligung. Auf der anderen Seite Leute wie Björn Höcke oder Alexander Gauland mit ihren völkisch-nationalistischen, ans 19. und frühe 20. Jahrhundert erinnernden Tönen und dem Gestus des Fundamentaloppositionellen.

Rechter Klartext

Im Januar erst organisierte Pretzell in Koblenz für seine EU-Fraktion „Europa der Nationen und der Freiheit“ eine Veranstaltung mit anderen rechtspopulistischen Parteien. In einem Boot mit Marine Le Pens Front National, Geert Wilders Partij voor de Vrijheid, Heinz-Christian Straches FPÖ, der italienischen Lega Nord oder Flanderns Vlaams Belang zu sitzen, schadet nicht mehr. Eher ist es logisch. Pretzells Anhänger bevorzugen rechten Klartext — aber nicht in der ewiggestrigen, nach 20er und 30er Jahren klingenden Version wie bei Höcke, sondern  in einer modernisierten Variante à la FN oder FPÖ. Seiner Partei empfiehlt Pretzell, sie solle den „Weg der Vernunft und des Realismus, den Parteien wie die FPÖ, der FN und die PVV gegangen sind, ebenfalls gehen“. Von den europäischen Partnern könne man eines lernen: „Alle hatten Vertreter in ihren Reihen, die daran glaubten, dass Debatten über die Vergangenheit helfen, die Zukunft zu gestalten. Alle haben diesen Irrweg nicht eingeschlagen und schmerzhafte Trennungen vollzogen, die den Weg zur Volkspartei erst geebnet haben.“

Petry und Pretzell nehmen Höcke nicht nur seine viel zitierten Aussagen zur „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“, zur „dämlichen Bewältigungpolitik“ und zum Holocaust-Mahnmal als „Denkmal der Schande“ übel, mit denen er das Publikum verschreckt hat. Mindestens genau so sauer stößt ihnen auf, dass Höcke in seiner Dresdner Rede parteiinterne Gegner als „Luckisten“ und „Halbe“ beschimpfte, die „keine innere Haltung besitzen“. Als „Typen“ tituliert zu werden, von denen „nicht wenige sich ganz schnell sehr wohl fühlen bei den Frei-Fressen- und Frei-Saufen-Veranstaltungen der Lobbyisten“, ging vielen zu weit.
Renner sagt zwar inhaltlich kaum etwas anderes als Höcke, klingt aber anders — ohne die „Wochenschau-Intonation“, wie er es selbst sagt. Er beklagt die „Zerstörung Deutschlands, die Zerstörung der nationalen Identität, die Zerstörung des Eigenen“, schimpft auf eine „sozialistische Versiffung unseres Gemeinwesens“ und sieht die Bürger zu „Systemsklaven“ gemacht. Der Umgang mit der deutschen Geschichte? Renner spricht von einer „Schuldkult-Hypermoralisierung“.

Antritt zur Landtagswahl in NRW

Knappe Verhältnisse zwischen den beiden Protagonisten und ihren politischen Konzepten sind die Regel, nicht die Ausnahme. Die Kandidaten auf den vorderen Plätzen für Bundestag und Landtag stammen ganz überwiegend aus Pretzells Lager. Was aber nicht zwingend für Seriosität und Solidität der Gewählten spricht. Mindestens drei Ex-Mitglieder der rechtspopulistischen Schill-Partei finden sich auf der Landesliste, darunter ihr ehemaliger Bundesvorsitzender. Ein Mitarbeiter der extrem rechten ENF-Fraktion steht auf der Liste, einer der Organisatoren der „Alternativen Wissenskongresse“, die regelmäßig verschwörungstheoretisch geneigtes Publikum und AfD-Rechtsaußen anlocken, einer, dem man nicht unrecht tut, wenn man ihn einen Klimaleugner nennt, der „nationale Sozialdemokrat“ Guido Reil und jener Polizeibeamte, den die Delegierten umjubelten, als er in seiner Vorstellungsrede Kanzlerin Angela Merkel als „kriminell und wahnsinnig“ titulierte und über Justizminister Heiko Maas sagte: „Dieser Maas gehört weggesperrt.“ 

Zur Landtagsliste gibt’s auch ein passendes Wahlprogramm. Auf den ersten Blick überraschend, schiebt es nicht die Standardthemen, die die AfD nach dem Bruch mit Lucke in den letzten zwei Jahren wieder groß machten, in den Vordergrund. Die Partei will signalisieren, dass sie mehr zu bieten habe als Parolen gegen Asyl und Islam und für mehr Law and Order. Am umfangreichsten fallen die Kapitel „Bildung“ und „Bauen & Verkehr“ aus. Erst danach folgt „Zuwanderung, Asyl & Integration“.

Dazu gibt’s — ebenfalls passend — seit Mitte März die Plakate: Motive gegen „Energiewendehälse“ („Denen geht kein Licht mehr auf“), ein Verkehrsschild, das vor einer „No-Go-Area“ warnt („Wenn Sie dieses Zeichen sehen, ist es zu spät“), zum „Stauland Nr. 1“ („Im Schneckentempo durch NRW“), das Bild einer älteren Frau, die im Abfalleimer Pfandflaschen sucht („Die Früchte eines arbeitsreichen Lebens“). „Primäres Ziel“ der Plakatkampagne sei „die Erschließung neuer Zielgruppen“, verriet die Partei. Anders ausgedrückt: Das Stammpublikum, das nicht glaubt, dass die Bundesrepublik eine Demokratie ist, das die EU für Teufelswerk hält, für das „Grenzen dicht!“ ein Allheilmittel ist und der Islam im „Abendland“ nichts zu suchen hat, muss gar nicht erst mit Plakaten geködert werden.

Gezielter Tabubruch

Wenn man will, kann man freilich deutlich radikaler. Vor einigen Monaten pries der Nachwuchs der NRW-AfD ein „Koran-Entsorgungspaket“ an. Abgebildet waren ein Benzinkanister, ein Feuerzeug und ein Koran. Aus ihrem Facebook-Auftritt hat die Junge Alternative das Bild inzwischen wieder entfernt. Soviel Derbheit schickt sich nicht, wenn man seriös erscheinen will. Die Fotomontage dürfte freilich zeigen, wie ein gewichtiger Teil der AfD tatsächlich tickt.

Nur zwei Wahlkampfplakate zeigen AfD-Personal. Eines zeigt Pretzell mit dem Hinweis: „Die Antwort auf kraftlose Politik“. Das andere zeigt Guido Reil. „Vertritt die Interessen der kleinen Leute, statt sie zu verraten“, steht über seinem Bild. Der Ex-Sozialdemokrat Reil soll für die AfD im sozialdemokratischen Wählerlager wildern: Ob ihm das gelingt, dürfte weniger von seinem (begrenzten) rhetorischen Talent als vielmehr von den Grad der Hinwendung der SPD zu ihrer ursprünglichen Wahlklientel abhängen.

Neue Details, aber wenig Aufklärung . | Ein Blick auf aktuelle Entwicklungen im NSU-Komplex

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Während sich im Münchener NSU-Prozess ein Ende der Beweisaufnahme abzeichnet und der nordrhein-westfälische NSU-Untersuchungsausschuss seinen Abschlussbericht veröffentlicht hat (siehe S. 50), läuft in einigen Bundesländern die Arbeit in den Untersuchungsausschüssen weiter. Auch in Mecklenburg-Vorpommern soll es jetzt eine parlamentarische Untersuchung des NSU-Komplexes geben.

Anfang März verkündete der Vorsitzende Richter Manfred Götzl im NSU-Verfahren vor dem Oberlandesgericht München, dass weitere Beweisanträge innerhalb der nächsten sieben Tage zu stellen seien. Die Verteidigung zeigte sich von der plötzlichen Ankündigung überrascht, protestierte und konterte — erwartungsgemäß erfolglos — mit mehreren Befangenheitsanträgen gegen das Gericht. Das Gericht zog letztlich zwar seine Frist zurück, dennoch ist klar, dass sich der Prozess in der Schlussphase befindet und das Gericht alle Aspekte, die es für eine Verurteilung für notwendig hält, abgearbeitet hat. Die Prozessbeteiligten haben in den nächsten Wochen noch die letzten Möglichkeiten, Beweisanträge zu stellen.

Brandenburger Zustände

Der Brandenburger NSU-Untersuchungsausschuss tagte zwischenzeitlich zum achten Mal. Zuletzt wurde im Rahmen einer Sitzung bekannt, dass für den Brandenburger Geheimdienst zwischen 1995 und 2011 in der rechten Szene 50 V-Leute eingesetzt waren. Der Ausschuss hat noch nicht mit der eigentlichen Vernehmung von Zeug_innen begonnen, ist noch in der Vorbereitungsphase und lässt sich von Expert_innen und Sachverständigen über die Szene berichten. Dazu hatte der Ausschuss auch Vertreter_innen von NSU-Watch und der Münchener Nebenklage geladen, die unter anderem auch vom absurden Auftritt des Brandenburger Verfassungsschützers Rainer Görlitz im Münchener Verfahren berichteten. Dieser mündete darin, das seine mitgebrachten Notizen vom Gericht beschlagnahmt und daraufhin umgehend von seiner Behörde gesperrt wurden. Als sie nach öffentlichen Druck dann doch freigegeben wurden, fanden sich dort unter anderem Listen mit möglichen Fragen, auf die Görlitz offensichtlich von seiner Behörde vorbereitet worden war.

Das Brandenburger Innenministerium hatte in der Vergangenheit immer wieder deutlich gezeigt, dass man nicht an einer ernsthaften Aufklärung interessiert ist. Erst nach langer Diskussion wurden dem Ausschuss vom Ministerium ungeschwärzte Akten zur Verfügung gestellt. Doch auch der Ausschuss selbst scheint ein Problem mit Transparenz zu haben. Nach einem Pressebericht, in dem berichtet wurde, dass der kürzlich verstorbene NPD-Funktionär Frank Schwerdt kein V-Mann des Verfassungsschutzes war, erstattete der Ausschuss Strafanzeige wegen Geheimnisverrat. Vermutet wurde, dass diese Information aus einer geheimen Sitzung stammt. Zuvor hatte sich die Behörden nicht öffentlich zu der Frage äußern wollen, was zu Spekulationen über die Rolle Schwerdts gesorgt hatte.

Ein Schwerpunkt im Ausschuss ist die Rolle des früheren V-Manns Carsten Szczepanski („Piatto“), der von den drei untergetauchten Jenaer Neonazis nach Waffen gefragt wurde — über ein Handy, das dem Brandenburger Verfassungsschutz gehörte. Untersucht werden sollen aber auch andere Bezüge des NSU nach Brandenburg.

„Mitteleuropäischer Umgang“ in Hessen

In Hessen beschäftigt sich der dortige Untersuchungsausschuss weiterhin mit der Rolle des früheren VS-Mitarbeiters Andreas Temme, der mehrere V-Personen führte. Zum einen geht es weiterhin um die zentrale Frage, warum die V-Leute Temmes nach dem Mord an Halit Yozgat nicht von der Staatsanwaltschaft vernommen werden durften, zum anderen um den Umgang des hessischen Innenministeriums mit dem damals unter Mordverdacht stehenden Temme. Dazu werden weiterhin frühere Beamt_innen der Behörde gehört, mit dem hessischen Innenminister Boris Rhein zuletzt auch erstmals ein Politiker. Trotz zahlreicher Verstöße gegen Vorschriften musste Temme nie dienstrechtliche Konsequenzen fürchten. Das gegen ihn laufende Disziplinarverfahren wurde eingestellt, Temme lediglich zum Regierungspräsidium Kassel versetzt, wo er bis heute arbeitet. Deutlich wurde im Ausschuss, dass Temme von seinen Vorgesetzten im Landesamt für Verfassungsschutz und Innenministerium nichts zu befürchten hatte. Nicht einmal das Parlament oder die Parlamentarische Kontrollkommission wurden über den Verdacht gegen Temme informiert, der Datenschutz hätte dagegen gesprochen, so der frühere Pressesprecher des Innenministeriums. Tatsächlich erfuhren die Abgeordneten 2006 erst aus den Medien von der Anwesenheit des Verfassungsschützers beim Mord in Kassel.

Auch mehr als zwei Jahre nach Beginn der Sitzungen des hessischen Untersuchungsausschusses liegen den Mitgliedern immer noch nicht alle Akten vor. Aus einer kürzlich erfolgten Nachlieferung geht zweifelsfrei hervor, dass Temme entgegen seinen bisherigen Beteuerungen bereits vor dem Mord an Halit Yozgat mit der Mordserie befasst war. Auf einer ausgedruckten E-Mail über die Mordserie vom März 2006 findet sich ein Namenszeichen von Temme. Daher stellte die Fraktion Die Linke kürzlich Strafanzeige wegen Falschaussage gegen den früheren VS-Mitarbeiter. Trotz einiger neuer Details bleiben die zentralen Fragen ungeklärt, die Ausschussarbeit verliert sich zunehmend im Geplänkel der beteiligten Parteien untereinander. Auch die anstehende Befragung des amtierenden Ministerpräsidenten Volker Bouffier, 2006 Innenminister, wird hieran nichts verändern. Wie viel den hessischen Behörden an der Aufklärung des NSU-Komplexes liegt, zeigte sich bereits, als Mitarbeiter_innen der Generalbundesanwaltschaft nach der Selbstenttarnung des NSU unangemeldet beim hessischen Verfassungsschutz vorstellig wurden und Akten verlangten. Auf Weisung von Innenminister Rhein wurden sie abgewiesen, schließlich sei es „eine Frage der Höflichkeit und des mitteleuropäischen Umgangs“, dass das LfV nicht behandelt werde wie „ein Beschuldigter in einem Strafverfahren“, teilte Rhein dem Untersuchungsausschuss mit.

Neue Erkenntnisse zu Temme gibt es abseits des hessischen Untersuchungsausschusses. Im Auftrag des im Mai 2017 in Köln stattfindenden Tribunals „NSU-Komplex auflösen“ untersuchte die Londoner Forschungseinrichtung Forensic Architecture die Frage, ob Temme den Mord an Halit Yozgat mitbekommen haben muss, was er bestreitet. Die Wissenschaftler_innen haben dazu das Kasseler Internetcafé nachgebaut und zugleich ein virtuelles 3D-Modell erstellt, mit dessen Hilfe sie den Mord rekonstruieren konnten. In ihrer aufwändigen Untersuchung kommen sie zu dem Schluss, dass Temme den Toten gesehen haben muss und auch die Schüsse für ihn zu hören waren. Diese neuen Erkenntnisse werden auch im Prozess Thema werden.

Geheime „Aufklärung“

Mehr als fünf Jahre seit Bekanntwerden des NSU soll der Komplex nun auch in Mecklenburg-Vorpommern untersucht werden. Dies wird jedoch nicht in einem Untersuchungsausschuss geschehen, sondern lediglich in einem Unterausschuss des dortigen Innen- und Europaausschusses. Im März stimmte der Landtag einem fraktionsübergreifenden Antrag von SPD, CDU und Die Linke zu. Im Gegensatz zu einem Untersuchungsausschuss hat ein solches Gremium wesentlich weniger Rechte. Wichtigster Unterschied ist aber, dass der Ausschuss nicht öffentlich tagt. Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern sind die einzigen Bundesländer, in denen der NSU mordete, die keinen Untersuchungsausschuss eingerichtet haben. Offene Fragen gibt es in dem nordostdeutschen Bundesland jedoch mehr als genug, nicht nur, was NSU-Unterstützer_innen angeht. Über den Mord an Mehmet Turgut in Rostock hinaus überfielen dort Mitglieder des NSU mehrere Banken und verbrachten dort über Jahre ihren Urlaub. In Hamburg findet die Forderung nach einer parlamentarischen Aufklärung weiterhin nicht die notwendige Unterstützung.

DNA-Spuren-Übertragung

Im Fall der DNA-Spur von Uwe Böhnhardt am Fundort der Leiche von Peggy K. gibt es jedoch Neugikeiten. Eine mögliche Verbindung von Böhnhardt zu dem ermordeten Kind hatte im letzten Jahr für Aufsehen und Spekulationen gesorgt. Kürzlich präsentierten bayrische Ermittler ihre Ergebnisse. Demnach stammt die Spur von einem Stück Stoff aus dem ausgebrannten Eisenacher Wohnmobil, in dem Uwe Mundlos und Böhnhardt starben. Daher komme nur eine Übertragung der Spur durch Tatort-Ermittler_innen in Frage, die an beiden Tatorten gearbeitet hatten. Wie dies konkret stattgefunden hat, blieb offen. Im NSU-Komplex war diese nicht die erste verunreinigte DNA-Spur. Nach der Ermordung der Polizistin Michelle Kiesewetter fahndete eine Sonderkommission jahrelang nach einer unbekannten Frau, deren Spuren an zahlreichen Tatorten gefunden worden waren. Dies führte zu massiven rassistischen Ermittlungen gegen Sinti und Roma, da die Polizei ohne Grundlage dort die Frau vermutete. Schließlich stellte sich heraus, dass die gefundene DNA-Spur durch eine Verunreinigung bei der Herstellung von DNA-Wattestäbchen entstanden war.

„Ein Zeichen setzen“ | Der Prozess wegen eines Brandanschlags auf Geflüchtete in Porta-Westfalica

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Mit extrem rechten Einstellungen wollten die vier Angeklagten nichtszu tun haben, die wegen eines Anschlags auf eine Geflüchteten-Unterkunft vor Gericht standen und kürzlich vom Landgericht Bielefeld verurteilt wurden. Man sei unpolitisch und habe lediglich „ein Zeichen“ setzen wollen. Das Gericht wertete die Tat als gemeinschaftlich begangene schwere Brandstiftung.

Am späten Abend des 14. Septembers 2015 warfen im Ortsteil Eisbergen der ostwestfälischen Stadt Porta Westfalica (Kreis Minden-Lübbecke) zwei Männer jeweils einen Molotow-Cocktail gegen eine Unterkunft für Geflüchtete. Zum Zeitpunkt des Anschlages lebten dort 37 Menschen. Einer der beiden Brandsätze verfehlte das Küchenfenster, hinter dem sich ein Bewohner mit seiner Tochter aufhielt, nur knapp. Glücklicherweise reichte er nicht aus, um größeren Schaden anzurichten, das Feuer konnte von den Bewohner_innen gelöscht werden, nachdem sich die Täter entfernt hatten. Der zweite Brandsatz war am Zaun der Unterkunft gelandet und hatte sich nicht entzündet. Der Sachschaden war letztendlich gering, doch für die Bewohner_innen blieb der Angriff ein einschneidendes Erlebnis. Auf Grundlage der Spurensicherung am Tatort konnte die Polizei einen der Täter ermitteln — und über ihn drei weitere Tatbeteiligte, alle im Altersbereich Ende 20, Anfang 30.

Bewertungs- und Zuständigkeitsdifferenzen

Im Oktober 2016 begann der Prozess gegen drei Männer und eine Frau — zunächst vor dem Amtsgericht in Minden und wegen gemeinschaftlich versuchter schwerer Brandstiftung. Das Amtsgericht hatte den Fall zuvor in die Zuständigkeit des Bielefelder Landgerichts abgeben wollen, da es die Möglichkeit in Betracht zog, dass sich die Angeklagten des versuchten Mordes schuldig gemacht haben könnten. Doch das Landgericht beurteilte die Tat nach Aktenlage als versuchte schwere Brandstiftung und verwies das Verfahren zurück. Dass es letztendlich doch noch zum Prozess von dem Landgericht kam, ist auf die ersten Verhandlungstage vor dem Amtsgericht zurückzuführen, bei denen sich die beiden Molotow-Cocktail-Werfer Christian W. und Dennis R. zu den Vorwürfen geäußert hatten. R. ließ durch seinen Anwalt eine Erklärung verlesen. Man habe an besagtem Abend zusammen mit weiteren Personen Alkohol getrunken und über das Thema Geflüchtete diskutiert. Irgendjemand hätte dann angeregt, dass man „etwas tun“ müsse. Er, W. und Mario V. hätten dann gemeinsam die Molotow-Cocktails gebaut. Danach seien sie von Nadine K. mit dem Auto zur nahen Unterkunft gefahren worden, dort seien er und W. ausgestiegen. Dann habe er seinen Brandsatz entzündet und in Richtung des Hauses geworfen. Anschließend sei er geflohen. W. bestätigte diese Schilderung im Wesentlichen und führte zudem aus, er hätte den zweiten mitgeführten Brandsatz nicht angezündet und diesen auch nicht auf das Haus geworfen, sondern auf den Rasen davor. Auf Nachfrage gab er an, plötzlich Angst bekommen zu haben bei der Vorstellung, dass jemand verletzt oder gar getötet werden könnte. Diese Aussage dürfte mit dafür verantwortlich gewesen sein, dass der Fall abermals an das Landgericht verwiesen wurde, da nun ein hinreichender Tatverdacht einer gemeinschaftlich versuchten Tötung in Tateinheit mit versuchter schwerer Brandstiftung bestand.

Der Landgerichtsprozess

Der Prozess vor dem Landgericht in Bielefeld gegen die vier Angeklagten begann am 28. Februar 2017. Schon vor Beginn der Verhandlung hatte die Kammer den Angeklagten den Hinweis erteilt, dass ihr Handeln auch als versuchter Mord — heimtückisch begangen und mit niederen Beweggründen — bewertet werden könnte. Und somit ging es dann auch schwerpunktmäßig um die Einordnung der Tat, eingestanden hatten die Angeklagten diese ja bereits zuvor.

Als Zeug_innen und Sachverständige befragt wurden unter anderem Staatsschutzbeamte, ein Brandsachverständiger, ein Psychologe und drei Frauen, die am Tatabend vor dem Aufbruch zur Unterkunft mit den Angeklagten zusammen waren. Sudbara A., Bewohner der Unterkunft und Nebenkläger, berichtete dem Gericht, er habe sich zum Zeitpunkt des Anschlags mit seiner erst wenige Monate alten Tochter in der Küche der Unterkunft aufgehalten. Nur knapp einen Meter neben dem beleuchteten Küchenfenster habe der Brandsatz die Gebäudewand getroffen. A. schilderte, dass er seitdem in ständiger Angst um seine Kinder lebe und befürchte, dass sich Derartiges wiederholen könnte.

Reichskriegsflagge und Hitlerbild

Insbesondere von der Staatsanwalt und Nebenklage auf ihre politische Gesinnung angesprochen, betonten die Angeklagten im Prozess immer wieder, sie seien unpolitisch und keineswegs „rechtsradikal“. In gemeinsam genutzten Räumen der Hausgemeinschaft, in der zum Zeitpunkt der Tat neben V. auch die Angeklagten K. und R. lebten, hingen jedoch eine Reichskriegsflagge und ein Hitler-Portrait. Auch auf Facebook machten die Angeklagten kein Geheimnis aus ihrer politischen Einstellung. Beiträge der NPD sowie Artikel über den Anschlag auf eine Unterkunft im nahen Salzhemmendorf wurden geteilt, und W. wählte als Profilbild eine Reichskriegsflagge. Dazu befragt äußerte er: „Die Reichskriegsflagge steht für Deutschland. Für sonst nichts.“ Man habe, so die Wahrnehmung der Angeklagten, es als ungerecht empfunden, dass Geflüchteten beispielsweise Handys und Fahrräder zur Verfügung gestellt würden und mit der Aktion „ein Zeichen“ setzen wollen.

Urteile und Einschätzung

In ihrem Plädoyer forderte die Staatsanwaltschaft, die Angeklagten Dennis R., Mario V. und Christian W. wegen versuchten Mordes und die Angeklagte Nadine K. wegen Beihilfe zu verurteilen. Letztendlich wurden die drei Männer am 23. März 2017 wegen gemeinschaftlicher schwerer Brandstiftung und K. wegen Beihilfe verurteilt. Dabei hob das Gericht den rechten beziehungsweise rassistischen Tathintergrund hervor. R., V. und W. kassierten vierjährige Freiheitsstrafen, K. eine 18-monatige auf Bewährung.

Doch obwohl im Prozess der rassistische Tathintergrund letztendlich nicht verschwiegen wurde, zeigte sich die Schwierigkeit, rassistische Gewalt als solche zu thematisieren. Richter und Verteidiger fokussierten immer wieder auf den sozialen Status der Angeklagten, auf mangelnde Ausbildung, Arbeitslosigkeit oder mindere Intelligenz. Damit wurde einmal mehr versucht, Rassismus als Randgruppenphänomen darzustellen, ohne Verbindung zur Mitte der Gesellschaft. Auch bei anderen Anschlägen auf Geflüchteten-Unterkünfte in den letzten Jahren, bei denen die Täter_innen ermittelt werden konnten, kamen diese nicht aus der organisierten extremen Rechten, handelten jedoch mit rechter und rassistischer Motivation. Rassistische Gewalt als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses zu sehen und als solchen auch in der juristischen Auseinandersetzung zu thematisieren, bleibt also nach wie vor eine Herausforderung.


Überleben in Sobibor | Vernichtung in der „Aktion Reinhardt“

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Vor einem Jahr starb Jules Schelvis im Alter von 95 Jahren. Bis zu seinem Tod widmete er sich unermüdlich der Auseinandersetzung mit und der Erinnerung an die präzedenzlosen Verbrechen im Vernichtungslager Sobibor, das er selbst überlebt hatte. Sobibor gehörte neben Belzec und Treblinka zu den großen Vernichtungslagern der „Aktion Reinhardt“, in denen 1942/1943 innerhalb weniger Monate mindestens 1.500.000 Jüdinnen und Juden vor allem aus dem von den Deutschen besetzten östlichen Polen, aber auch aus anderen Ländern ermordet wurden. Die „Aktion Reinhardt“ bildete einen zentralen Aspekt der Shoah, der jedoch in der Erinnerungskultur oftmals nur randständige Beachtung findet.

Am 3. April 2016 verstarb Jules Schelvis, 1921 in Amsterdam in eine humanistisch-jüdische Familie geboren und einer der wenigen Überlebenden des nationalsozialistischen Vernichtungslagers Sobibor. Jules Schelvis lernten wir Anfang der 2000er Jahre in Sobibor kennen. An „der Rampe“ berichtete er von seiner Ankunft dort. Bis zuletzt hatten die aus den Niederlanden deportierten Juden und Jüdinnen gehofft, in ein Arbeitslager im Osten zu kommen; die Zeit würde sicherlich schwer, doch mit gegenseitiger Unterstützung und ein wenig Ermutigung würden sie es wohl schaffen. Jules Schelvis hatte sich bewusst bei dem wenigen erlaubten Gepäck für seine Gitarre entschieden; sie würde, nach harter Arbeit, in der Freizeit zur geselligen Entspannung und Ablenkung dienen. Doch das, was diese Menschen vor Ort erwartete, entzog sich jeglicher Vorstellung. Ihr Transport hatte einen Mordort zum Ziel — das Vernichtungslager Sobibor.

Es bedeutet etwas Besonderes, den Menschen Jules Schelvis näher kennengelernt zu haben. Bis heute fühlen wir uns freundschaftlich verbunden und in gewisser Weise auch verpflichtet. Wir schätzen ihn als einen sehr speziellen Menschen: selbstbewusst, zielstrebig, engagiert, mutig, freundlich und aufgeschlossen. Gelernter Drucker und Historiker mit Ehrendoktor, ein Liebhaber der klassischen Musik mit Vorliebe für Gustav Mahler und Bewunderer des Malers Marc Chagalls, ein Mensch, der immer auf der Höhe seiner Zeit war, sich den Errungenschaften der Technik stellte und sie zu nutzen wusste. Jules Schelvis ist es durch seinen bemerkenswerten persönlichen Einsatz gelungen, das NS-Vernichtungslager Sobibor vor dem Vergessen zu bewahren. Sein Leben war geprägt durch Sobibor. 2003 gründete er die Stichting Sobibor, in den Niederlanden eine anerkannte Institution; zusammen mit der Stichting und dem Bildungswerk Stanisław Hantz konnten wir die Gedenkallee auf dem Gelände des ehemaligen Vernichtungslagers einrichten. Bis zuletzt war er persönlich involviert und aktiv: Am 30. Juni 2014 begann in Amsterdam die Konzerttournee „Er reed een trein naar Sobibor/Es fuhr ein Zug nach Sobibor“ mit dem Orchester „Het Nationaal Symfonische Kamerorkest“ unter Leitung von Jan Vermaning, die via Berlin nach Lublin führte und den Weg der Deportationen aus dem niederländischen Lager Westerbork nachzeichnete. Das Konzert endete mit Jules Worten: „Mein Wunsch ist, dass ihr in verständlicher Weise euren Kindern berichtet, was den Juden während des 2. Weltkriegs angetan wurde. Diese können es dann, wenn keine Zeitzeugen mehr leben, direkt ihren Kindern weitererzählen und diese dann an die folgende Generation. Wenn ihr das macht, was ich hoffe, dann habe ich mit meinem Zeugnis ein kleines bisschen zum Gedenken an die 34.000 in Sobibor ermorderten Juden aus den Niederlanden beigetragen.

Chronist der Vernichtungspolitik

„Der Drang, genau in Erfahrung zu bringen, wie es meiner Familie ergangen ist, die ich in Sobibor zurücklassen musste“, veranlasste Jules Schelvis, sich einiges zuzumuten. So nahm er als Nebenkläger (ohne juristische Vertretung) am Hagener Sobibor-Prozess gegen Karl Frenzel teil, der von November 1982 bis zum 4.Oktober 1985 stattfand. Dadurch erhielt er Akteneinsicht — für ihn von großer Bedeutung, denn so konnte er Kontakt zu den wenigen Menschen aufnehmen, die Sobibor überlebt hatten und nun verstreut in der ganzen Welt lebten. Er besuchte sie, führte ausführliche Interviews, die neben persönlichen Erlebnissen und umfangreichem Archivmaterial als Grundlage für sein Buch über das Vernichtungslager Sobibor dienten — bis heute ein Standardwerk, das auch in englischer und deutscher Übersetzung erschienen ist. Der historisch-politische Hintergrund, zum Beispiel die Aussiedlungspläne der Nationalsozialisten oder der Beginn der „Endlösung“, finden ebenso gründlich Beachtung wie der konkrete Ablauf des Mordgeschehens oder der Häftlingsaufstand im Vernichtungslager. Jules Schelvis setzt sich zudem mit dem SS-Personal auseinander. Selbstverständlich ist allen bekannten Sobibor-Überlebenden ein Kapitel gewidmet. Zusammengetragen und geschrieben worden ist das Werk aus der Perspektive des Opfers, des historischen Zeitzeugen, auch wenn es „für uns, die Überlebenden, eine fast nicht zu bewältigende Aufgabe ist, die Geschichte zu rekonstruieren“.

Der niederländische Jude Jules Schelvis lebte mit seiner Frau Rachel in Amsterdam, als sie am 26. Mai 1943 aus ihrer Wohnung ins Lager Westerbork deportiert wurden. 19 Transporte mit 34.313 Personen (offizielle Angabe des Roten Kreuzes) verließen Westerbork in Richtung Sobibor. Niemand hatte eine Ahnung, was sie am Ende des Transportes erwartete. Jules Schelvis wurde direkt nach seiner Ankunft in Sobibor für ein Arbeitskommando selektiert. Er überlebte in der Folge mehrere Lager. Seine Frau Rachel, ihre Brüder und die Schwiegereltern wurden wie alle anderen Menschen aus diesem Transport direkt in den Gaskammern ermordet.

Aufstand in Sobibor

Sobibor ist neben Belzec und Treblinka einer jener vergessenen Orte der „Aktion Reinhardt“, wie der Tarnname der Nazis für die vollständige Ermordung der Jüdinnen und Juden aus dem Generalgouvernement (heutiges Ostpolen) lautet. Mehr als 1.750.000 Menschen nicht nur aus Polen wurden in den Gaskammern der „Aktion Reinhardt“ ermordet. Im März 1942 begann der Bau des Vernichtungslagers Sobibor in Ostpolen an der Bahnlinie Chelm-Wlodawa in einem dünn besiedelten, sumpfigen Waldgebiet. Erster Kommandant und mit der Fertigstellung betraut war ab März 1942 SS-Obersturmführer Franz Stangl, der vorher im „Euthanasie“-Programm in der Anstalt Schloss Hartheim bei Linz eingesetzt gewesen war. Aus den aus ganz Europa ankommenden Transporten wurden mehrere hundert Menschen zur Arbeit in den Werkstätten gezwungen, als Schneider etwa, Schuster, Schreiner; insgesamt waren es etwa 1.000 Häftlinge, darunter 150 Frauen. 200 bis 300 Häftlinge mussten die Leichen der Ermordeten aus den Gaskammern holen und in die Massengräber schaffen. In den wenigen Monaten von Mai 1942 bis zum Oktober des Jahres 1943 wurden in Sobibor jeweils binnen zwei Stunden nach ihrer Ankunft etwa 250.000 Menschen ermordet. Am Ende des Sommers 1942 wurden die Massengräber geöffnet und die Leichen auf Scheiterhaufen verbrannt, um die Spuren der Vernichtung zu beseitigen.

Der Gedanke an Flucht, Aufstand und Revolte kam unter den Funktionshäftlingen des Lagers immer wieder zur Sprache. Ihnen war klar, dass sie als Zeugen des Mordprozesses in jedem Fall getötet würden. Ein Aufstand wurde von einer kleinen Häftlingsgruppe minutiös geplant, mit Unterstützung weiterer eingeweihter Häftlinge vorbereitet und schließlich am 14. Oktober 1943 erfolgreich durchgeführt. Durch Täuschungsmanöver wurde ein großer Teil der SS-Männer in Hinterhalte gelockt und von Häftlingen heimlich getötet. Den etwa 650 Arbeits- oder Funktionshäftlingen, davon 50 unerreichbar in der Todeszone, zumeist unbewaffnet und kampfunerfahren, standen neben den 17 SS-Offizieren der Lagerleitung weitere 120 gut bewaffnete und militärisch ausgebildete Bewacher gegenüber.

Der Ausbruch des Aufstands

Als der Aufstand begann, schlossen sich viele der Gefangenen an; ungefähr 300 Häftlinge konnten aus Sobibor fliehen. Etwa 50 bis 55 ehemalige Häftlinge erlebten das Kriegsende. Der Häftlingsaufstand in Sobibor ist für Schelvis — ganz wie der Aufstand im Warschauer Ghetto im April und Mai 1943 — ein Beispiel für erfolgreichen jüdischen Widerstand: Nach ihm wurden keine Jüdinnen und Juden mehr nach Sobibor deportiert, es fanden dort keine Vergasungen mehr statt. Und nur durch den Aufstand konnten über 50 Personen dem sonst sicheren Tod in Sobibor entkommen. Die SS ließ das Gelände einebnen — alle Spuren des Mordens sollten beseitigt werden — und richtete dort einen Bauernhof ein.

„Reise durch die Finsternis“

Westerbork, Sobibor, Dorohucza, Radom, Lublin, Tomaszow, Auschwitz, Vaihingen an der Enz: Auch Jules Schelvis waren diese Orte unbekannt, bevor er sie auf seiner absurden Odyssee durch die diversen NS-Lager kennenlernen musste, die am 1. Juni 1943 mit der Deportation von Westerbork nach Sobibor begann. Seine Erfahrungen dokumentieren konkret und drastisch die Verflechtung der unterschiedlichen NS-Lagertypen und ihre engmaschige Vernetzung. So überlebt er die Ghettoisierung in den Niederlanden, Konzentrations- und Deportationslager wie Westerbork, Vernichtungslager wie Sobibor, das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, das Konzentrations- und Zwangsarbeitslager „Alter Flugplatz“ in Lublin, Ghettos und Arbeitslager wie Radom oder Tomaszow, Arbeitslager wie Dorohucza oder Vaihingen an der Enz, zudem Todesmärsche von einem Lager zum anderen, Erschießungsaktionen und „Vernichtung durch Arbeit“. Immer leiden die Häftlinge unter der Willkür ihrer Bewacher, insbesondere der SS, immer sind sie konfrontiert mit den denkbar ungünstigsten Bedingungen: mangelhafte und unzureichende Ernährung, keine Krankheitsversorgung, mehr als unzureichende hygienische Bedingungen. Ständige Begleiter sind Läuse, Typhus, die SS, ukrainisches Wachpersonal. Dabei variieren die Bedingungen in den diversen Lagern graduell. Das Arbeitslager Vaihingen an der Enz — , die entkräfteten Häftlinge mussten dort in einem Steinbruch Schwerstarbeit verrichten — bezeichnete Jules Schelvis auch als Vernichtungslager. „Hier kämpfte jeder um das nackte Überleben. Man musste aus eigener Kraft, mit bloßen Händen, geschwollenen Füßen und leerem Magen den Kampf gegen die SS, die Einsamkeit, die Menschen ringsum, die Läuse, das Wetter und die Zeit führen. Für die Schwächsten, von denen die meisten schon drei Jahre oder länger unter der Naziherrschaft gelitten hatten, war es eine Frage, wie lange sie noch durchhalten konnten. Die Sterberate stieg rapide“, und das kurz vor Kriegsende.

Wie konnte Jules Schelvis, wie konnten Menschen diese erbarmungslose Verfolgung und Ausbeutung bis zum Letzten überleben? Es gibt keine eindeutige Ursache, eher günstige Umstände wie die tiefe Freundschaft zwischen den drei deportierten Niederländern Jules Schelvis, Leo de Vries und Joop Wins, die versuchten, während ihrer sinnlosen Odyssee nicht getrennt zu werden, um sich gegenseitig moralischen und auch praktischen Halt zu geben. Das Erleben von Solidarität in äußerst prekären Verhältnissen, immer wieder auch unberechenbares Glück und unvorhersehbare Zufälle hatten kurzfristig erst einmal das Leben — was für eines auch immer — statt des Todes zur Folge. Auch der Taschenspiegel mit dem Porträt Rachels, Jules Schelvis’ erster Ehefrau, scheint eine Rolle zu spielen. Unmittelbar nach der Ankunft in Sobibor wird das Ehepaar Schelvis plötzlich getrennt — ein unerwarteter Abschied für immer, denn „Chel“ wird, wie fast alle Menschen dieses Transportes aus den Niederlanden, sofort in der Gaskammer von Sobibor ermordet. Jules Schelvis gelingt es, dieses Liebespfand während der gesamten folgenden Zeit bei sich zu behalten; immer wieder findet er neue Verstecke für seinen Talisman. Am 8. April 1945 erlebt er, aufgrund von Typhus mit dem Tode ringend, in Vaihingen die unspektakuläre Befreiung durch die französische Armee. Während der Rekonvaleszenz im Krankenhaus vergisst er den Taschenspiegel vergisst ihn auf der Ablage vor dem Duschen. „Ich hatte das Kostbarste verloren, was ich in jenem Moment besaß“, ein Erinnerungsstück an das alte Leben, das komplett ausgelöscht war. Keine Anknüpfung an Vertrautes war jemals wieder möglich.

Unzureichende juristische Aufarbeitung

Nur durch die Aussagen der Überlebenden wissen wir von den Ereignissen in den Lagern, in Sobibor; die Täter zogen es vor, zu schweigen oder zu leugnen. Einige wurden erst durch Überlebende identifiziert und dann vor Gericht gebracht. Jules Schelvis kritisierte die juristische Verfolgung der Täter als unzureichend. In der Bundesrepublik mussten sich vom 6. September 1965 bis zum 20. Dezember 1966 elf SS-Männer aus Sobibor in Hagen vor Gericht verantworten; ihnen wurde „gemeinschaftlicher Mord“ bzw. „Beihilfe zum Mord“ vorgeworfen. Einer der Angeklagten, Heinz Kurt Bolender, hatte den Mordprozess bei den Gaskammern in Sobibor beaufsichtigt. Nach dem Krieg ließ seine Ehefrau ihn für tot erklären, 1961 wurde er unter anderem Namen verhaftet. Kurz vor der Urteilsverkündung begingn er Selbstmord. Kurt Frenzel, den Häftlingen als Sadist und Mörder in Erinnerung, wurde erst 1962 festgenommen. In Hagen wurde er zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe verurteilt, aber schon im Dezember 1976 entlassen. Frenzel saß Anfang der 1980er Jahre noch einmal kurz in Haft. Trotz erneuter Verurteilung in der Revision wurde vom Vollzug der Freiheitsstrafe aufgrund seines angeblich schlechten Gesundheitszustandes abgesehen. Fünf weitere Angeklagte erhielten Haftstrafen zwischen drei und acht Jahren, vier wurden freigesprochen. Franz Stangl floh mit Unterstützung des Bischofs Alois Hudal über Syrien nach Brasilen; dort wurde er 1967 festgenommen und 1970 in Düsseldorf zu lebenslanger Haft verurteilt., Er starb 1971 in Haft.

Anders als der Hagener Sobibor-Prozess erhielt der Prozess gegen den 89-jährigen Iwan Demjanjuk, einen ehemaligen ukrainischen Wachmann in Sobibor, der Ende 2009 in München begann, große internationale Aufmerksamkeit: Erstmalig wurde ein untergeordnetes Mitglied des Wachpersonals eines NS-Lagers in Deutschland vor Gericht gestellt; ihm wurde vorgeworfen, „Beihilfe zum Mord“ geleistet zu haben. Im Mai 2011 wurde Demjanjuk vom Landgericht München zu eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt, da er „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ gewesen sei. Iwan Demjanjuk starb, bevor über die gegen das Urteil eingelegte Revision entschieden war.

Jules Schelvis war einer der 19 niederländischen Nebenkläger; ihm lag auch im Prozess viel daran, der in Sobibor Ermordeten zu gedenken. „Was ich verlange, ist Wahrheit und Gerechtigkeit über Sobibor. […] John Iwan Demjanjuk war Wachmann in Sobibor. Bei allen, die in Sobibor Dienst leisteten — ihnen fehlte jede Spur von Humanität. John Iwan Demjanjuk war da keine Ausnahme. […] Ich vergaß zu sagen: Meine Mutter überlebte den Zweiten Weltkrieg, aber mein Vater wurde 1944 in Sachsenhausen ermordet. Im Gedenken an meine humanistischen Eltern bitte ich die Richter, diesem alten Mann, der so lange inhaftiert war, keine Freiheitsstrafe aufzuerlegen.“

Jules Schelvis wurde 95 Jahre alt. Lieber Jules, wir vergessen dich nicht.

Grenzenlos mittendrin | Die V-Leute-Praxis in NRW

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Mindestens 40 V-Leute waren im näheren und weiteren Umfeld des NSU-Trios aktiv — so die vorläufige Zählung. Erst jüngst wurde bekannt, dass mit Stephan Lange sogar der Deutschland-Chef von „Blood & Honour“ als staatlich bezahlter Zuträger des Verfassungsschutzes tätig war. Die Kritik an der uferlosen V-Leute-Praxis konzentriert sich meist auf das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), doch auch beim nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz (VS-NRW) wurden Spitzel aus dem Führungskreis militanter Neonazi-Organisationen angeworben.

Es war einer der seltenen Momente, in denen es im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Landtags NRW (PUA) gelang, das Selbstverständnis und die Handlungsweisen des Verfassungsschutzes vor der Öffentlichkeit zu entlarven: Auf die Frage, inwieweit die Übernahme von Führungspositionen durch V-Leute akzeptabel sei, antwortete der langjährige Gruppenleiter des VS-NRW, Burkhard Schnieder, „dass in den Zeiten damals eine etwas andere Philosophie geherrscht hat, dass man sicherlich auch mitunter in Einzelfällen den Versuch gemacht hat, Organisationen von oben herab zu steuern und die zu befrieden oder in irgendeiner Form […] unter Kontrolle zu bekommen, damit von ihnen keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht.“ Man habe, so der Zeuge Schnieder in ungewohnter Offenheit weiter, mitunter versucht „auf bestimmte Organisationen Einfluss zu nehmen“, dazu sei es notwendig gewesen, in die „internen Zirkel“ einzudringen und „Führungsfiguren“ als V-Leute zu nutzen. Dies sei aufgrund der Änderung des Verfassungsschutzgesetzes seit 2013 nicht mehr möglich, zuvor habe aber, so Schnieder, keine „rechtliche Grenze“ für die Anwerbung von Führungspersonen existiert.

Letzteres ist so nicht ganz korrekt: Zwar äußerte sich der Gesetzestext nicht zu dieser Problematik, wohl aber die damals gültigen Dienstanweisungen. Schon die „Dienstanweisung Beschaffung“ aus dem Jahr 1984 hielt fest, dass V-Leute „weder die Zielsetzung noch die Tätigkeit des Beobachtungsobjektes entscheidend bestimmen“ dürften. In der Praxis des VS NRW spielten solche Beschränkungen keine Rolle. Die Mitarbeiter_innen des für die Anwerbung und Führung von V-Leuten zuständigen „Referats Beschaffung“ legten die Vorschriften nach ihrem Gutdünken aus — oder ignorierten sie schlichtweg. „Ausschlusskriterien“, welche die Zusammenarbeit mit einer Person untersagten, hat es in der Erinnerung eines bis 2001 als Leiter des Referats „Beschaffung“ tätigen Zeugen nicht gegeben. „Das mussten wir schon selbst wissen, was da zu verantworten ist“, so seine Aussage vor dem PUA.

V-Leute im Führungszirkel

Wie viele Führungspersonen der Neonazi-Szene in NRW auf dem Gehaltszettel des Verfassungsschutz standen, ist nicht bekannt. Der Schlussbericht des PUA äußert sich dazu ebenso wenig wie zur konkreten Gesamtzahl der „in Vielzahl“ in NRW eingesetzten V-Leute. Kurz vor Fertigstellung des Berichts hatte das NRW-Innenministerium den Ausschuss angewiesen, lange Passagen über V-Leute ersatzlos zu streichen. Explizit genannt sind deshalb nur wenige bereits enttarnte V-Leute. Unter ihnen befinden sich zwei mit Führungsfunktion: der ehemalige stellvertretende Führer der Kameradschaft Köln, Johann H. sowie der ehemalige stellvertretende NPD-Landesvorsitzende Wolfgang Frenz aus Solingen. Bezugnehmend auf die Aussage eines bis 2001 tätigen Referatsleiters heißt es im Schlussbericht zudem, dass sich ein „Vorsitzender einer rechten Organisation“ habe anwerben lassen, „um die Honorare in die Kasse seiner Organisation umzuleiten.“ Um wen es sich handelte, ließen die Abgeordneten die Öffentlichkeit nicht wissen.

Obwohl sein Name nicht genannt wird, ist dem Bericht an anderer Stelle zu entnehmen, dass auch Andree Zimmermann, einer der Anführer der ehemals bedeutenden Sauerländer Aktionsfront (SAF), bis zu seinem Autounfalltod Ende 1997 (vgl. Antifa NRW Zeitung Nr. 16) für den NRW-VS arbeitete. Dies hatten Der Spiegel sowie das Antifaschistische Infoblatt (vgl. AIB #101) bereits vor einigen Jahren unter Verweis auf ein geheimes BKA-Papier aus dem Jahr 1997 berichtet. Darin warfen die Verfasser_innen aus dem BKA den Verfassungsschutzbehörden vor, aus „Quellenschutzgründen“ polizeiliche Ermittlungen zu behindern. Im Treiben der V-Leute sahen sie die Gefahr eines „Brandstifter-Effekts“. Unter den neun aufgelisteten V-Leuten führte das BKA auch Norbert Weidner aus Bonn auf, der es in den 1990er Jahren bis zum Landesgeschäftsführer und Auslandsbeauftragten der FAP gebracht hatte. Weidner hat eine V-Mann-Tätigkeit weder bestätigt noch dementiert. Die Behörden äußern sich offiziell nicht.

Nach dem Tod von Zimmermann und zwei weiteren SAF-Führern avancierte der Siegener Martin Scheele zu einer Führungsperson der Neonazi-Szene im Sauer- und Siegerland. War auch Scheele ein V-Mann? Im Schlussbericht heißt es, dass das BfV im Frühjahr 2003 die Verfassungsschutzbehörden der Länder mit der Prüfung beauftragte, ob sich unter 16 namentlich aufgeführten Funktionsträgern des Kampfbundes Deutscher Sozialisten (KDS) V-Leute oder verdeckte Ermittler befänden. Wenig später erklärte Scheele öffentlich seinen Austritt aus dem KDS und die Niederlegung seiner Funktion als „Gausekretär Westfalen“, was das NRW-Innenministerium sogleich an eine im Bericht ungenannte Stelle faxte. LOTTA vermerkte damals, dass Scheeles Rückzug „ohne jede Begründung“ erfolgt sei (vgl. LOTTA #12, S. 32). Im Bundesinnenministerium bereitete man zu dieser Zeit ein, allerdings nie vollzogenes, Verbot des KDS vor. V-Leute mit offizieller Führungsfunktion waren deshalb hinderlich.

Als 2002 nach Wolfgang Frenz auch der NPD-NRW-Vorsitzende Udo Holtmann als V-Mann — in seinem Fall des BfV — enttarnt worden war, stellte das Bundesverfassungsgericht wegen der Durchdringung der Parteiführung mit V-Leuten das erste NPD-Verbotsverfahren ein. Beim VS-NRW zog man daraus die Konsequenz, in Parteien nicht länger V-Leute in Führungspositionen zu nutzen. Bei den „Kameradschaften“ änderte sich die Praxis aber nicht. So konnte noch 2008 eine nordrhein-westfälische V-Person von einem bundesweiten Treffen von Kameradschaftsführer_innen in Borna berichten.

V-Leute, die keine V-Leute sein dürfen

Laut den Dienstanweisungen des VS-NRW sollte jeder Anwerbung einer Person als Quelle ein „Forschungsvorgang“ vorausgehen. Bei Eignung war die Person auf die Verhaltensmaßregeln einer V-Person zu verpflichten. In NRW wurde von dieser Vorgabe in der Praxis zum Teil abgewichen. Im Bericht wird der Fall eines Neonazis erwähnt, mit dem der VS-NRW von Ende der 1990er Jahre bis 2007 regelmäßig Gespräche führte, ohne ihn offiziell als V-Person zu verpflichten. Da eine solche Form der Zusammenarbeit nicht vorgesehen ist, wurde das Honorar für den Neonazi aus dem Budget des Aussteigerprogramms abgezweigt.

In geheimer Sitzung gab der VS-NRW-Leiter Burkhard Freier nicht nur zu, dass der Verfassungsschutz Personen als V-Leute förmlich verpflichtete, welche die Vorgaben für eine Zusammenarbeit nicht erfüllten, sondern auch, dass „unter Nichtbeachtung der eigenen Vorgaben“ weitere Neonazis, teils über Jahre, befragt und entlohnt wurden, die nie förmlich verpflichtet worden waren. Diese Neonazis seien als „Gesprächspartner“ bezeichnet worden, seien aber tatsächlich „Quellen“ gewesen. Sie seien nicht nur zur Informationsgewinnung genutzt worden, sondern auch, „um Einfluss auf die Organisation zu nehmen.“ Um welche Personen es sich dabei konkret handelte, wird im Schlussbericht nicht aufgeführt.

Von einer förmlichen Verpflichtung abzusehen, macht aus Sicht des Verfassungsschutzes nur in wenigen Fällen Sinn: Entweder verweigert sich der Neonazi einer offiziellen Zusammenarbeit, obwohl er zugleich offen für einen regelmäßigen Kontakt zum VS ist oder es handelt sich um eine Person, dessen (potenzielle) Enttarnung als V-Person einen irreparablen Schaden für den Verfassungsschutz erzeugen würde. Letzteres wäre sicher bei besonders prominenten Neonazi-Anführer_innen der Fall. Ersteres wirft die Frage auf, was sich Neonazis von regelmäßigen Gesprächen mit dem Verfassungsschutz versprechen.

Bezeichnend ist auch der im Schlussbericht geschilderte Umgang mit der V-Person Zimmermann. Bereits 1995 war Zimmermann als V-Mann „abgeschaltet“ worden, um wenige Monate später faktisch wieder als Quelle genutzt zu werden, so als habe die Aufkündigung der Zusammenarbeit nicht stattgefunden. Da Zimmermann weiter gegen Weisungen des VS-NRW verstieß, wurde der abgeschaltete V-Mann im Dezember 1996 „erneut abgeschaltet“. Anlässlich des „Rudolf-Hess-Gedenkmarsches“ 1997 nahm man die Zusammenarbeit wieder auf. Seine V-Mann-Führer erklärten 1998 gegenüber einem Bundesanwalt, dass ihnen die Führung von Zimmermann untersagt war, weshalb sie einen „Journalisten“ mit der Kontaktaufnahme beauftragten. Bis kurz vor seinem Tod wurde Zimmermann faktisch als Quelle abgeschöpft, der auch große Geldsummen gezahlt wurden.

Schutz für kriminelle V-Leute

1997 ermittelte die Bundesanwaltschaft gegen Zimmermann wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Bei zwei Hausdurchsuchungen konnten die ErmittlerInnen seine PC-Festplatte nicht sicherstellen, weshalb sie den VS-NRW verdächtigten, ihn vor den Durchsuchungen gewarnt zu haben. Nach Zimmermanns Tod nahm dessen V-Mann-Führer dann die gesuchte Festplatte in Verwahrung und rechtfertigte sich später damit, dass er ja nicht gewusst habe, welche Festplatte von der Polizei gesucht werde.

Nicht nur im Fall Zimmermann versuchte der VS-NRW seine Quellen vor Polizei und Justiz zu schützen. Auch der mit Drogen handelnde V-Mann Sebastian Seemann aus Dortmund wurde 2007 durch seinen V-Mann-Führer vor Ermittlungen der Bielefelder Drogenfahndung gewarnt. Die Staatsanwaltschaft Bielefeld eröffnete daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen den V-Mann-Führer wegen des Verdachts der Verletzung von Dienstgeheimnissen und der Strafvereitelung im Amt, das das NRW-Innenministerium allerdings ins Leere laufen ließ. Es verweigerte sowohl die zur Verfolgung des Straftatbestands der Verletzung von Dienstgeheimnissen erforderliche Genehmigung als auch eine Aussagegenehmigung für den V-Mann Seemann.

Nach Ansicht des PUA war bereits die Anwerbung Seemanns als V-Mann „hochproblematisch und nicht durch geltende Dienstanweisungen gedeckt“. Vor seiner Verpflichtung war er zwölfmal strafrechtlich in Erscheinung getreten und durfte seit 2005 keine Schusswaffen mehr besitzen. Im März 2004 warnte der Polizeiliche Staatsschutz Dortmund, Seemann sei „sehr gewaltbereit“ und könnte Schusswaffen gegen Polizist_innen einsetzen. Im Frühjahr 2004 entzog er sich den Ermittlungen durch Untertauchen in Belgien, wo er im Kreis von Blood & Honour/C18-Kadern lebte. Nachdem er sich dann 2005 den deutschen Behörden gestellt hatte, stand das Beschaffungsreferat des VS-NRW mit Seemann in Kontakt. Er berichtete über Schusswaffen, die er an Neonazis aus der Dortmunder Szene verkauft beziehungsweise dort deponiert hatte. Am 1. Oktober 2005 sollte Seemann während eines Hafturlaubs im Auftrag des Verfassungsschutzes diese Waffen besorgen. Die Aktion ging gründlich schief: Seemann konnte lediglich drei Schachteln Schrotmunition und einen Schießkugelschreiber übergeben. Beim Versuch, eine Maschinenpistole (MPi) wieder zu erlangen, bedrohte er einen Neonazi und dessen Freundin, was eine Anzeige mit dem Vorwurf der Körperverletzung, des Hausfriedensbruchs und des Diebstahls zur Folge hatte. Aussagen des Geschädigten führten die Polizei zum Elternhaus von Seemann, wo weitere Waffen, unter anderem ein Kleinkalibergewehr mit Schalldämpfer und Zieloptik, sichergestellt wurde. Von dieser Waffe war in den Vermerken des VS-NRW zuvor nicht die Rede gewesen. Die gesuchte MPi stellte die Polizei erst ein Jahr später bei einer anderen Person aufgrund eines anonymen Hinweises sicher.

Trotz dieses Desasters wurde Seemann nach seiner Haftentlassung im Sommer 2006 förmlich als V-Mann verpflichtet und arbeitete, trotz des Verdachtes, in Drogengeschäfte involviert zu sein, bis zu seiner Verhaftung im August 2007 für den Geheimdienst. Auch dass Seemann noch im November 2005 wegen eines gefälschten Reisepasses und im Dezember 2006 wegen der am 1. Oktober 2005 begangenen Körperverletzung und des Hausfriedensbruchs sowie wegen des Verstoßes gegen das Waffengesetz verurteilt wurde, stand einer Zusammenarbeit nicht entgegen.

Folgen des V-Leute-Unwesens

Die Durchdringung der Neonazi-Szene bis in die Führungsspitze mit V-Leuten führte beim VS-NRW dazu, dass man sich in der trügerischen Sicherheit wog, die Szene unter Kontrolle zu haben, zumindest aber über gefährliche Entwicklungen frühzeitig informiert zu werden. Der VS-NRW wertete die Gefahr rechtsterroristischer Anschläge als gering, weil man davon überzeugt war, sich herausbildende terroristische Strukturen aufgrund der Quellen rechtzeitig zu erkennen. Eine Fehleinschätzung, die die Grundlage für die öffentlichen Beschwichtigungen des Geheimdienstes bildete.

Zugleich mischten V-Leute wie Seemann direkt in sich herausbildenden rechtsterroristischen Strukturen wie der Dortmunder Combat 18-Zelle mit. Den Strafverfolgungsbehörden blieb die Existenz der Zelle verborgen. Auch nach der NSU-Selbstenttarnung behielt der VS-NRW seine Informationen zu Combat 18 in Dortmund für sich. Eine Aufarbeitung der Erkenntnisse unter der Fragestellung, ob die miteinander eng kooperierenden Combat 18-Neonazis aus Dortmund und Kassel möglicherweise Unterstützung bei den NSU-Morden leisteten, unterblieb. Stattdessen wurde die Existenz der Zelle zuerst abgestritten und dann kleingeredet. Es zeigte sich das übliche Vorgehen des Verfassungsschutzes, der den Schutz seiner Quellen, vor allem aber den Schutz des eigenen Amtes, zur obersten Prämisse erklärt.

Der Einsatz von V-Leuten führte nicht zur Schwächung der Neonazi-Szene. Am Beispiel des von der Polizei Köln 1999 angestrebten Verbots der Kameradschaft Köln zeigt sich, dass der VS-NRW durchaus ein Interesse am Fortbestand von Neonazi-Gruppen mit einem in einer Schlüsselfunktion platzierten V-Mann hatte. Mit teilweise hanebüchenen Argumenten diskreditierte der VS-NRW die von der Polizei gesammelten Erkenntnisse, mit denen sich ein Verbot der Kameradschaft Köln auf den Weg hätte bringen lassen. Dass der politische Wille dazu in den Folgejahren weiterhin fehlte, lässt sich auch auf die Positionierung der Verfassungsschutzabteilung zurückführen. Vollkommen richtig heißt es im Schlussbericht deshalb: „Für den Ausschuss entstand durch den Einsatz von Führungspersonen der Neonazi-Szene als V-Personen der Eindruck, dass der Verfassungsschutz vermittelt über diese Personen indirekt am Aufbau und der Festigung der entsprechenden Gruppierungen wie der Szene insgesamt mitwirkte.“ Ebenso kritisiert der Bericht, dass die Honorare für V-Leute diesen unter Umständen mehr Zeit für politische Aktivitäten verschaffen. Sollten V-Leuten technische Geräte auf Spesenbasis finanziert werden, die für die politische Arbeit eingesetzt werden, „so findet auch hier eine indirekte Förderung der politischen Aktivitäten des Beobachtungsobjektes durch den Verfassungsschutz statt“. Der im VS-NRW vertretene Ansatz, über führende V-Leute Einfluss auf die Szene zu nehmen, ist hochproblematisch. Der Verfassungsschutz, der gemäß seines Auftrages verfassungsfeindliche Bestrebungen nur beobachten soll, schwingt sich zum Akteur auf, der über seine V-Leute in der Neonazi-Szene an den entscheidenden Stellen mitmischt.

Ohne Konsequenzen

In den Handlungsempfehlungen des PUA heißt es zwar, dass der Verfassungsschutz zukünftig Informationen über geplante oder begangene Straftaten umgehend und nachvollziehbar an die Strafverfolgungsbehörden weiterleiten soll, Konsequenzen aus der verheerenden V-Leute-Praxis in NRW zogen die Landtagsabgeordneten indes nicht. Offenbar war man der Ansicht, dass das 2013 reformierte Verfassungsschutzgesetz ausreichend ist. Bis zum nächsten Skandal.

„Europa den Europäern!“ | Die extreme Rechte und Europa

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Immer wieder heißt es, die extreme Rechte sei „antieuropäisch“ eingestellt. Nichts könnte falscher sein. Zwar trifft es zu, dass die extreme Rechte die „Europäische Union“ in ihrer heutigen Form ablehnt und sie rückbauen oder gar ganz beseitigen will. Doch hat sie gleichzeitig durchaus eigene Vorstellungen von Europa entwickelt, die nach dem Zweiten Weltkrieg zuweilen mit dem Begriff „Nation Europa“ bezeichnet wurden und heute vor allem als „Europa der Vaterländer“ beschrieben werden. Auch hat sie „Europa“ immer wieder ideologisch überhöht — zuletzt etwa als „Abendland“.

„Europa“ ist schon für die politischen Planungen des NS-Regimes ein wichtiger Bezugspunkt gewesen — nicht zuletzt übrigens, weil der Gedanke, man müsse den Kontinent enger integrieren, im deutschen Establishment seit dem Durchbruch der Industrialisierung stets eine wichtige Rolle gespielt hat. Schon 1841, dreißig Jahre vor der Gründung des Deutschen Reichs, schrieb Friedrich List, ein Vorkämpfer des Deutschen Zollvereins, man müsse langfristig den Aufbau „einer dauernden Continentalallianz“ in den Blick nehmen. Warum? Nun, das die Meere beherrschende britische Empire sei mit seinen kolonialen Rohstoffquellen und Absatzmärkten so stark und mächtig, dass die entstehende deutsche Industrie sich auf lange Sicht nur gegen es behaupten könne, wenn sie sich einen kontinentalen Wirtschaftsblock zusammenzimmere, erklärte der noch heute als „Vater der deutschen Nationalökonomie“ verehrte Stratege. Für das 20. Jahrhundert sah er die Konkurrenz zwischen einem integrierten Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika voraus.

Mit dem Konzept einer „Continentalallianz“ hat List in den 1840er Jahren Maßstäbe gesetzt. Im Deutschen Kaiserreich entwickelte sich daraus der Plan, die Länder von der niederländischen Küste bis zum Schwarzen Meer zu einer „mitteleuropäischen Zollunion“ zusammenzufassen; damit könne man „die mannigfache industrielle Überlegenheit Nordamerikas“ kompensieren, hoffte 1903 der Ökonom Julius Wolf, der 1904 den hochkarätig unterstützten Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein gründete. Dem Konzept war auch die großdeutsch orientierte äußerste Rechte nicht abgeneigt. Die Alldeutschen Blätter betonten 1904 lediglich: „Das Deutsche Reich müßte notwendigerweise in einem mitteleuropäischen Zollgebiet das Rückgrat, den stärksten Machtfaktor bilden“. Um dies zu erreichen, müsse man natürlich „die Peitsche, wenn es nötig ist, ebenso entschlossen anwenden wie das Zuckerbrot“.

Europäische Großraum- wirtschaft

NS-Strategen konnten problemlos daran anknüpfen. „Europäische Großraumwirtschaft“ lautete ein Schlagwort, unter dem Wirtschaftsplaner Anfang der 1930er Jahre die alte Mitteleuropa-Konzeption weiterentwickelten und das NS-Ökonomen wie Werner Daitz schließlich übernahmen. Daitz, seit 1931 Mitarbeiter der wirtschaftspolitischen Abteilung der Reichsleitung der NSDAP, hatte 1939 den Auftrag erhalten, mit einer neu gegründeten Gesellschaft für europäische Wirtschaftsplanung und Großraumwirtschaft die „Neuordnung“ des Kontinents zu konzipieren. Das NS-Regime war vollauf damit beschäftigt, den Krieg zu führen, angeblich germanische Gebiete zu annektieren und die Territorien jenseits des erstrebten Größtdeutschlands entweder Kollaborationsregimen zu übertragen oder sie selbst gewalttätig zu kontrollieren. Die Vernichtungspolitik sollte „Lebensraum im Osten“ schaffen; die Okkupation des Kontinents schritt voran. Dennoch stand auch für die Nazis fest, dass man sich nach dem erhofften Sieg daran machen müsse, „Europa“ neu zu strukturieren.

Dazu trafen Funktionäre wie Daitz die Vorbereitungen. „Eine kontinentaleuropäische Grossraumwirtschaft unter deutscher Führung muss … sämtliche Völker des Festlandes von Gibraltar bis zum Ural und vom Nordkap bis zur Insel Cypern umfassen“, forderte Daitz in einer Denkschrift, die er Ende Mai 1940 vorlegte — zwei Wochen vor dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris. Wozu? „Eine das ganze europäische Festland umfassende Grossraumwirtschaft … ist unbedingt erforderlich, um den gewaltigen Wirtschaftsblöcken Nord- und Südamerikas, dem Yen-Block und dem vielleicht verbleibenden restlichen Pfundblock erfolgreich die Stirn zu bieten“, er­­läuterte Daitz, bevor er folgerte, man müsse umgehend „die feste wirtschaftliche Eingliederung der von Grossdeu­tsch­­land … abhängigen Länder West-, Nord- und Südeuropas“ in die Wege leiten. Mit Blick auf die Tatsache, dass man in den okkupierten, aber nicht in aller Form annektierten Territorien perspektivisch auf zuverlässig kollaborierende Eliten angewiesen sein würde, empfahl Daitz, im Ausland besser nicht mit allzu offenem Dominanzgehabe aufzutreten: „Wir müssen grundsätzlich immer nur von Europa sprechen, denn die deutsche Führung ergibt sich ganz von selbst aus dem politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, technischen Schwergewicht Deutschlands und seiner geografischen Lage.“ „Europa den Europäern!“, hatte er — in diesem Sinne — schon 1936 gefordert.

Einbindung der Kollaboration

Auch wenn das NS-Regime zu Daitz’ Leidwesen eher weniger von Europa sprach, sondern vor allem von Deutschland schwadronierte: „Europa“ war das Schlagwort, mit dem sich NS-Kollaborateure in weiten Teilen des Kontinents einbinden ließen. Ein Beispiel bietet eine Schrift, die der griechische Kollaborateur Sotírios Gotzamánis, ein gestandener Faschist, im Frühjahr 1943 publizierte. Darin plädierte er für einen „europäischen Kontinentalismus“, in dem sich die „Völker Europas“ eng zusammenschlössen, eine Zollunion gründeten und eine gemeinsame Währung schüfen — natürlich unter deutscher Führung. Was versprachen sich Gotzamánis und viele andere Kollaborateure in anderen Ländern, die überraschend ähnliche Pläne schmiedeten, davon? Ganz einfach: Sie hofften auf ein „Neues Europa“, das von britischem, von US-amerikanischem und vor allem von sowjetischem Einfluss frei war und das sich zu einem eigenständig operierenden, mächtigen Kontinentalblock entwickelte. Der Gedanke trieb, verbunden mit einem äußerst krassen Antisemitismus, so manchen Bürger der okkupierten Länder sogar in die Freiwilligenverbände der Waffen-SS.

Die NS-Führung hat das propagandistisch unterstützt. Ein Beispiel bietet der Geschichtsmythos um Karl den Großen. Hatte die NS-Propaganda den Karolinger-Kaiser ursprünglich als angeblich „romanisierten“ Schlächter der germanischen Sachsen verunglimpft, so stellte Joseph Goebbels im April 1942 fest: „Erhebliches Aufsehen hat in der deutschen Öffentlichkeit unsere vollkommene Kurswendung in der Beurteilung Karls des Großen erregt.“ Wie kam’s? Der Krieg im Osten lief nicht rund; man ging im Reich dazu über, stärkere Waffenhilfe der Kollaborateure zur Verteidigung der „Festung Europa“ (so formulierte es Goebbels 1943) ins Visier zu nehmen — etwa im Rahmen der Freiwilligenverbände der Waffen-SS. Karl der Große, dessen europäische Reichsbildung schon Napoleon Bonaparte mit der Parole „Je suis Charlemagne“ zu Legitimationszwecken genutzt hatte, bot sich als optimale Integrationsfigur für französische Kollaborateure an; Adolf Hitler erklärte deshalb 1942: „Karl der Große war einer der größten Menschen der Weltgeschichte, da er es fertiggebracht hat, die deutschen Querschädel zueinander zu bringen.“ Noch im September 1944 wurde eine vor allem von französischen Soldaten gebildete Division der Waffen-SS auf den Namen „Charlemagne“ getauft.

„Nation Europa“

Alte Nazis und alte Kollaborateure haben schon kurz nach der Befreiung des Kontinents von der NS-Herrschaft begonnen, ihren alten Kampf für ein integriertes Europa unter deutscher Führung wieder aufzunehmen. Ein Produkt dieser Bestrebungen ist die 1951 erstmals erschienene Monatszeitschrift Nation Europa gewesen; der Titel des Blattes, das den Untertitel „Monatsschrift im Dienste der europäischen Erneuerung“ trug, war durchaus programmatisch gemeint. Arthur Ehrhardt, Gründer und bis zu seinem Tod 1971 Schriftleiter der Zeitschrift, kam aus der Waffen-SS, deren europäische Orientierung in Nation Europa weiterlebte: „Die Einigung Europas bedeutet für uns grundsätzlich mehr als einen nur widerwillig beschrittenen Ausweg aus wirtschaftlichen Nöten und politisch-militärischen Gefahren“, hieß es in Nullnummer — „wir wollen die Verwirklichung einer hohen Idee.“ Zu den alten Kollaborateuren, die in dem Blatt publizierten, gehörte beispielsweise Oswald Mosley. Der englische Faschistenführer warb damals dafür, als Gegengewicht gegen die USA und die Sowjetunion die Vereinigten Staaten von Europa zu gründen. Diese Idee war freilich im Vereinigten Königreich nie sonderlich populär.

„Europa der Vaterländer“

Später, vor allem seit den 1980er Jahren, als die europäische Integration rasch Fortschritte machte, hat sich der Schwerpunkt der extrem rechten Europapolitik verschoben. Im Mittelpunkt stand nicht mehr das Bemühen, die Staaten des Kontinents gegen die beiden großen Gegner im Westen (USA) und im Osten (Sowjetunion) zusammenzuschließen — der europäische Zusammenschluss war ja schließlich mittlerweile Realität; vor allem ging es nun um das Vorhaben, die Preisgabe nationaler Souveränitätsrechte des deutschen Staates innerhalb der EU zu unterbinden. Um diese Absicht griffig zu formulieren, eigneten sich führende Funktionäre der extremen Rechten die alte de Gaulle-Formel vom „Europa der Vaterländer“ an. Dabei ging es nicht etwa darum, die Kooperation der Staaten Europas gänzlich einzustellen, sondern vielmehr darum, das europäische Bündnis wieder auf eine strikt nationale Basis zu stellen. „Ja zu Europa, nein zu dieser EG“: So lautete ein Slogan, mit dem Die Republikaner im Jahr 1989 warben. Ihr damaliger Führer, Franz Schönhuber, kam aus der Waffen-SS, genauer: aus der Division Charlemagne der Waffen-SS — genauso wie mehrere frühe Funktionäre des Front National (FN), mit dem Schönhuber in seinem Streben nach einer stärkeren Vernetzung der zerstrittenen europäischen Rechten zeitweise eng kooperierte.

Exemplarisch nachlesen lässt sich ein Konzept des „Europa der Vaterländer“ im Europawahlprogramm der NPD aus dem Jahr 2014. Darin heißt es, man setze sich für die Umwandlung der EU „in einen Bund souveräner, eigenverantwortlicher Staaten“ ein, in dem die Mitgliedstaaten ihre Grenzen und ihre nationale Politik wieder weitestgehend selbst kontrollierten. Anzustreben sei dennoch — beispielsweise — eine enge außenwirtschaftliche Kooperation etwa bei der „geopolitischen Durchdringung und Erschließung neuer Märkte“, um „die Selbstbehauptung unseres Erdteils in der Welt des 21. Jahrhunderts zu gewährleisten“. Auch gelte es, eine gemeinsame europäische Außenpolitik zu formulieren. Last but not least sprach sich die NPD für die „Errichtung eines Europäischen Verteidigungspaktes“ aus, um die Militärpolitik der Staaten Europas zu koordinieren. Hauptmotiv der Partei ist es demnach, den Einfluss der USA auf den europäischen Kontinent zu minimieren: „Wir bekennen uns zu der von Carl Schmitt formulierten europäischen Großraumpolitik mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte.“

Das „Abendland“

Immer wieder wurde der Machtblock „Europa“ in der extremen Rechten ideologisch überhöht. Nahm das NS-Regime etwa, um die französische Kollaboration zufriedenzustellen, Bezug auf Karl den Großen, so druckte Nation Europa regelmäßig die Göttin Athene auf’s Titelblatt — als Symbol für die griechische Antike, die Wiege der europäischen Kultur. Zuweilen ist von Europa als „Reich“ die Rede, dessen „Reichsgeist“, wie der Holocaust-Leugner Bernhard Schaub schon vor Jahren fantasierte, „die europäischen Nationen zur Brüderschaft“ führe. Weit verbreitet ist vor allem der schillernde Begriff vom mythischen europäischen Abendland. Lange Jahrzehnte war das „Abendland“ hauptsächlich das Gegenmodell zum Realsozialismus Ost- und Südosteuropas, das Symbol für die westlich-christliche Kultur in Abgrenzung zum angeblich barbarischen Osten, weshalb sich wüst antikommunistische Organisationen damals Abendländische Aktion oder Abendländische Akademie nennen konnten. Heute hat das „Abendland“ wieder Konjunktur — jetzt aber als Banner zur Abwehr des „morgenländischen“ Islams, und so finden sich nun Zusammenschlüsse wie die Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes (PEGIDA).

Karl Martell

Gerade in hart antiislamischen Milieus, die sich der „Verteidigung des Abendlandes“ gegen eine angebliche muslimische Invasion verschrieben haben, sind immer wieder durchaus originelle Europa-Mythenbildungen anzutreffen. Beliebt ist zum Beispiel der Bezug auf Karl Martell. Der Mann amtierte in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts als fränkischer Hausmeier und ist der Nachwelt hauptsächlich deshalb bekannt, weil er im Oktober 732 mit einem aus mehreren Stämmen rekrutierten Heer in der Schlacht von Poitiers eine arabisch-islamische Streitmacht bezwang. Die arabischen Truppen hatten zuvor in sehr kurzer Zeit Spanien erobert und dort eine kulturelle Blütephase eingeleitet, die jahrhundertelang anhielt und ihresgleichen suchte; demgegenüber war Europa nördlich der Alpen und der Pyrenäen damals nur düsteres, unzivilisiertes Hinterland. Das war der Grund, weshalb die arabischen Truppen in den 730er Jahren zwar ab und zu nach Frankreich einfielen, um dort zu plündern, aber kein besonderes Interesse am Verbleib nördlich der Mittelmeerregion hatten und sich, sobald Probleme auftraten, bereitwillig wieder zurückzogen. In der Schlacht von Poitiers holten sie sich ein blaues Auge und machten sich einfach vom Acker, was aber keine größeren Folgen für sie mit sich brachte. Karl Martell, nach dem sich schon eine antiarabische Terrortruppe im Frankreich der 1970er und 1980er Jahre benannt hatte (Groupe Charles-Martel) und der unter Islamhassern heute besondere Beliebtheit genießt, hatte also nicht ganz Europa vor der angeblichen Islamisierung bewahrt, sondern nur eine kulturell hochstehende Macht aus der öden, kein besonderes Interesse weckenden europäischen Provinz verjagt.

Die Reconquista

Ähnlich aussagekräftig wie das Lob auf Karl Martell ist auch der Bezug auf die Reconquista, die sich über Jahrhunderte erstreckende Zurückdrängung des muslimischen Machtbereichs auf der Iberischen Halbinsel durch christliche Kräfte. Antiislamische Organisationen beziehen sich gerne auf sie. Nun, die Reconquista brachte eine ganze Reihe einschneidender Entwicklungen mit sich. Zum einen ging der Kampf gegen den Islam mit einer Verschärfung der Inquisition einher, die ein außergewöhnlich repressives soziales Klima schuf; in besonders hohem Maße waren von ihren Sanktionen und vor allem von den Exekutionen Jüdinnen und Juden betroffen, die zum Christentum übergetreten waren. Dabei ist es zu den Übertritten vor allem deshalb gekommen, weil der Druck auf die spanischen Jüdinnen und Juden während der Reconquista gewaltig wuchs; manche von ihnen konnten sich nur durch die Konversion vor den immer wiederkehrenden Pogromen retten, manche wurden sogar zur Konversion gezwungen. Im selben Jahr, in dem die Reconquista mit der Eroberung des bis dahin muslimisch beherrschten Granada an ihr Ziel gelangte — man schrieb das Jahr 1492 –, zwangen die „Katholischen Könige“ Isabella von Kastilien und Ferdinand II. von Aragón Spaniens jüdische Bevölkerung, sich entweder zu bekehren oder das Land zu verlassen. Spanien wurde mit der Reconquista „judenfrei“. Und nicht zuletzt war 1492 auch das Jahr, in dem Kolumbus in Amerika einfiel und Spanien, durch die Ausschaltung des muslimischen Elements von inneren Widersprüchen freier als zuvor, eine Welle mörderischer kolonialer Ausplünderung in Gang setzte, die unter dem Mantel der katholischen Mission vollzogen wurde und an deren Spätfolgen Lateinamerika noch heute leidet. Die Reconquista zum Vorbild für das heutige Europa zu erheben — das ist in der Tat eine Kampfansage, und zwar keinesfalls nur an die Muslime des europäischen Kontinents.

Nationalismus, Rassismus und Anti-Globalisierung | Europas rechte Mitte

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Extrem rechte, rechtspopulistische und nationalkonservative Parteien haben sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einem einflussreichen Faktor der europäischen Politik entwickelt. Von einem Rechtsruck kann dabei keine Rede sein. Schritt für Schritt haben sie politisches Terrain erobert, das zuvor von demokratischen Parteien aufgegeben oder nicht entschieden genug verteidigt wurde.

Die Erleichterung bei Politik und Medien war groß, als am Abend des 7. Mai 2017 das Ergebnis des zweiten Wahlgangs der französischen Präsidentschaftswahlen über die Bildschirme flimmerten: Emmanuel Macron hatte den Urnengang mit 66,1 Prozent für sich entschieden. Marine Le Pen, Frontfrau des extrem rechten Front National (FN), lag deutlich abgeschlagen bei 33,9 Prozent. Doch immerhin: Ein Drittel der Wählerinnen und Wähler in Frankreich hatte es vorgezogen, statt dem bürgerlich-liberalen Kandidaten einer Politikerin ihre Stimme zu geben, deren Partei seit 45 Jahren zum harten Kern der extremen Rechten in Europa zählt.

Fünf Monate zuvor, am 4. Dezember 2016, waren die Mehrheitsverhältnisse bei der zweiten Runde der österreichischen Bundespräsidentenwahl sogar noch knapper gewesen. Der von SPÖ, ÖVP und Grünen unterstützte Kandidat Alexander Van der Bellen kam auf 53,8 Prozent, Norbert Hofer, Kandidat der extrem rechten Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), auf 46,2 Prozent.

Rechte Parteien an der Macht

Die Wahlen in Österreich und Frankreich waren für Europas extreme Rechte von großer symbolischer Bedeutung, nachdem Großbritannien im Juni 2016 mehrheitlich für den Austritt aus der EU gestimmt hatte und Donald Trump im November desselben Jahres nach einem ebenso nationalistischen wie rassistischen Wahlkampf zum 45. Präsidenten der USA gewählt worden war. Ein Sieg, insbesondere in Frankreich, hätte die Europäische Union in ihren Grundfesten erschüttert — und mit ihr das pro-europäische politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Establishment der Mitgliedsstaaten. Doch so weit kam es nicht, zumindest dieses Mal.

Ein Blick in mehrere europäische Hauptstädte macht jedoch deutlich, dass die Gefahr keineswegs gebannt ist. Denn während die extreme Rechte bei den Präsidentschaftswahlen in Österreich und Frankreich knapp scheiterte, sitzt sie vielerorts bereits an den Hebeln der Macht. So wird Ungarn seit 2010 von einer nationalkonservativen Koalition unter Ministerpräsident Viktor Orbán regiert. In Polen wiederum errang die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) unter Parteichef Jarosław Kaczyński mit einem vergleichbaren politischen Programm die Parlamentswahl 2015 und verfügt seither über die absolute Mehrheit der Sitze im Sejm. Auch in der zweiten Kammer, dem Senat, verfügt die PiS über eine absolute Mehrheit.

Dazu kommt eine Reihe von Koalitionsregierungen. Erst am 27. Juni 2017 unterzeichnete Großbritanniens Premierministerin Theresa May, Vorsitzende der Conservative Party (Tories), einen Koalitionsvertrag mit der extrem rechten nordirischen Democratic Unionist Party (DUP). Beide Parteien bilden seither eine Minderheitsregierung.

Ebenfalls im Juni rettete die Neue Alternative, eine Abspaltung der rechtspopulistischen Partei Die Finnen, die seit 2015 bestehende Mitte-Rechts-Koalition unter Führung des konservativen finnischen Ministerpräsidenten Juha Sipilä. Auch in Lettland ist mit der Nationalen Vereinigung (NA) eine extrem rechte Partei Teil der seit 2014 regierenden Dreier-Koalition unter Führung des konservativen Ministerpräsidenten Māris Kučinskis. In Dänemark wiederum duldet die Dansk Folkeparti (DF) seit den Parlamentswahlen 2015, bei der sie mit 21,1 Prozent zweitstärkste Kraft wurde, die Minderheitsregierung unter Premierminister Lars Løkke Rasmussen. Rasmussen selbst, wie das Gros seiner Minister, gehört der rechtliberalen Partei Venstre (V) an.

Extreme Rechte entscheidet über EU-Flüchtlingspolitik

Die Übersicht zeigt, dass in sechs der derzeit 28 EU-Staaten Rechtsaußenparteien den Regierungschef stellen, als Juniorpartner einer Koalitionsregierung angehören oder eine Mitte-Rechts-Regierung dulden. Da die Politik in der EU weiterhin ganz wesentlich vom Europäischen Rat und dem Rat der Europäischen Union, also den Vertretungen der nationalen Regierungen der EU-Staaten, dominiert wird, geht damit ein erheblicher Einfluss einher — zumal der Europäische Rat grundsätzlich im Konsens aller Mitglieder entscheidet.

Die seit 2015 anhaltende sogenannte Flüchtlingskrise hat gezeigt, welche Konsequenzen das zeitigen kann. Denn es sind insbesondere die rechten Regierungen in Ungarn und Polen, flankiert von ihren sozialdemokratisch regierten Nachbarn Tschechien und der Slowakei, die zentrale humanitäre Standards der EU außer Kraft setzen und bis heute die Aufnahme von Geflüchteten verweigern. Auch in Dänemark, wo die Regierung von der DF geduldet wird, sowie in Österreich mit einer weiter erstarkenden FPÖ, reagiert die verantwortliche Politik deutlich restriktiver als in anderen, zum Teil viel stärker betroffenen Ländern wie Griechenland und Italien. Selbst das ökonomisch schwer angeschlagene Portugal, das laut EU-Vorgabe 4.500 Personen Zuflucht bieten soll, erklärte sich bereit, bis zu 10.500 Menschen aufzunehmen.

Extreme Rechte legte schon bei Europawahl 2014 zu

Eine vergleichbare Tendenz zeigte sich bereits bei der Europawahl im Mai 2014. Während, mit Ausnahme der neofaschistischen Goldenen Morgenröte in Griechenland (9,4 Prozent), weder aus Spanien, Portugal oder Irland noch aus Bulgarien und Rumänien, Abgeordnete der extremen Rechten ins Europaparlament einzogen, also aus jenen Staaten, die am härtesten von der Euro-Krise und der Austeritätspolitik betroffen waren, punkteten die Rechtsparteien besonders stark im wirtschaftlich deutlich stabileren Mittel- und Nordeuropa. Im Ergebnis gingen rund 125 Mandate und damit jeder sechste der 751 Sitze im Europaparlament an eine Partei des nationalistischen und rassistischen Spektrums.

Der Zuwachs am rechten Rand von rund 50 Prozent (2009: 85 Abgeordnete) geht vor allem auf das starke Abschneiden der extremen Rechten in einer Handvoll EU-Staaten zurück. In Ungarn (Fidesz, 51,5 Prozent), Großbritannien (UKIP, 26,6 Prozent), Dänemark (DF, 26,6 Prozent) und Frankreich (FN, 24,9 Prozent) lagen die Rechtsaußenparteien in der Wählergunst an erster Stelle. In Polen ging die national-konservative PiS mit 31,8 Prozent nur knapp hinter der christdemokratischen Bürgerplattform von Premierminister Donald Tusk durchs Ziel. Diese fünf Parteien allein errangen 83 Sitze im Europaparlament.

„Fidesz“ wieder Mitglied der EVP-Fraktion

Die christdemokratisch geführte EVP-Fraktion ist der größte Zusammenschluss im Europaparlament. Fraktionsvorsitzender ist der CSU-Abgeordnete Manfred Weber. Ihr gehört auch in dieser Wahlperiode wieder der völkisch-nationalistische Fidesz von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán an. Eine kritische Auseinandersetzung darüber gab es nicht, obwohl die Ausgrenzung der Roma, die Einschränkung von Bürgerrechten und der Pressefreiheit sowie ein aggressiver Chauvinismus und Revisionismus gegenüber den Nachbarländern zum Kernbestand von Orbáns Politik gehören und neben der Flüchtlingspolitik international zu anhaltenden Protesten führen.

Ebenfalls Mitglied der EVP-Fraktion sind Parteien, die bereits mit der extremen Rechten auf nationaler Ebene koaliert haben, darunter die Österreichische Volkspartei (ÖVP) und Silvio Berlusconis Forza Italia (FI). Vergleichbare Konstellationen finden sich übrigens auch bei der liberalen Europafraktion ALDE. Sowohl die niederländische VVD, die sich zwischen 2010 und 2012 von Geert Wilders Partij voor de Vrijheid (PVV) dulden ließ, als auch die dänische Venstre, die sogar bereits seit mehreren Legislaturperioden von der DF geduldet wird, wurden dafür weder sanktioniert noch ausgeschlossen.

Weitere Fraktionen

Die Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR) ist nach den Christ- und Sozialdemokraten die drittgrößte Fraktion im Europaparlament. Ihr gehören vor allem etablierte nationalkonservative und rechtspopulistische Parteien an, darunter die dänische DF, die Partei Die Finnen, die lettische Nationale Vereinigung (NA) sowie die polnische PiS und die britischen Tories, die mit Abstand die größten Delegationen stellen. Insgesamt hat die EKR derzeit 74 Abgeordnete aus 16 Ländern. Auch fünf frühere AFD-Europaparlamentarier, die jetzt dem ALFA-Nachfolger Liberal-Konservative Reformer (LKR) angehören, sind Mitglied der EKR-Fraktion.

Die Fraktion Europa der Freiheit und der direkten Demokratie (EFDD) ist mit derzeit 42 Abgeordneten die zweitkleinste Fraktion im Europaparlament. Sie gilt als rechtspopulistisch und EU-feindlich und wird von der britischen UK Independence Party (UKIP) und der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo dominiert. Fraktionsvorsitzender ist Nigel Farage (UKIP). Einziges deutsches Mitglied der EFDD ist die AFD-Abgeordnete Beatrix von Storch.

Extrem rechte Europafraktion und Fraktionslose

Die Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF) ist die kleinste und jüngste Europafraktion. Sie wurde 2015 gegründet und hat derzeit 40 Mitglieder, die ausnahmslos extrem rechten Parteien angehören, darunter der französische FN, die niederländische PVV, die italienische Lega Nord (LN), die österreichische FPÖ sowie der belgische Vlaams Belang. Aus Deutschland gehört der ENF seit Mai 2016 das AFD-Mitglied Marcus Pretzell an.

Weitere sieben rechte Europaabgeordnete sind fraktionslos, weil sie in keiner Gruppe Aufnahme gefunden haben. Dabei handelt es sich um die jeweils drei Angeordneten der offen neofaschistischen Parteien Goldene Morgenröte aus Griechenland und Jobbik aus Ungarn sowie den ehemaligen Parteivorsitzenden der NPD, Udo Voigt.

Fazit

Die Entwicklung der letzten Jahre hat gezeigt, dass die europäische Ebene für die extreme Rechte zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Zum einen, weil sie ihre Kernthemen nationaler Politik wie Migration, Nationalismus, Rassismus, Anti-Establishment oder Anti-Globalisierung auf eine gemeinhin in der Gesellschaft ungeliebten Institution wie die EU projizieren konnten. Im Ergebnis haben sie bei Europawahlen in vielen Fällen zunächst besser abgeschnitten haben als bei nationalen Wahlen. Das hat die Basis für mehr bereitet.

Zum anderen ermöglicht die relativ gute finanzielle Ausstattung der Europaabgeordneten, der Fraktionen und der Europaparteien, einen politischen Apparat zu finanzieren, den sich insbesondere kleine Parteien sonst nicht leisten könnten. Und so ist es auch nicht weiter überraschend, dass aktuell gegen Marine Le Pen und sechzehn weitere EU-Abgeordnete der Front National wegen Untreue ermittelt wird. Sie sollen Mitarbeiter als parlamentarische Assistenten bezahlt haben, obwohl diese in Wirklichkeit für die Partei tätig waren. Laut EU-Parlament geht es insgesamt um rund fünf Millionen Euro.

„Europa gemeinsam verteidigen“ | Grenzüberschreitende Kooperationen der deutschen Neonazi-Szene

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Verschiedene Spektren der extremen Rechten arbeiten grenzüberschreitend in Europa zusammen, sei es auf Parteienebene im Europaparlament oder im subkulturellen Bereich in der RechtsRock-Szene. Auch Neonazi-Strukturen wie „Die Rechte“ und „Der III. Weg“ aus Deutschland pflegen Kontakte ins europäische Ausland.

Für europäische Parteien und Strukturen aus dem neonazistischen Spektrum war jahrelang insbesondere die NPD ein wichtiger Partner in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. In den 2000er Jahren war es die Europäische Nationale Front (ENF), in der sich in wechselnden Konstellationen verschiedene neonazistische und neofaschistische Parteien aus Europa vernetzten. Auch die NPD zählte zu den langjährigen Mitgliedsorganisationen der ENF, die in erster Linie durch gemeinsame Treffen und Konferenzen in Erscheinung trat. Regelmäßig europaweit ausgerichtete Treffen organisierte die NPD mit den sogenannten Europakongressen ihrer Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten (JN). Schon Mitte der 1990er Jahre fanden diese Zusammenkünfte mit europä-ischen Partnerorganisationen statt. Der letzte Europakongress wurde am 09./10. Oktober 2015 in Riesa durchgeführt. Gekommen waren Vertreter_innen neofaschistischer Organisationen aus Tschechien, Finnland, Italien, Belgien, Kroatien, Norwegen, Polen, Rumänien, Serbien und Spanien.

Die bundesweit zunehmend an Bedeutung verlierende NPD/JN versucht auf europäischer Ebene aktuell noch über ihren Europaabgeordneten Udo Voigt und den NPD-„Auslandsbeauftragten“ Jens Pühse in der ENF-Nachfolgeorganisation Alliance for Peace and Freedom als internationaler Player aufzutreten. Daneben sind es in der deutschen Neonazi-Szene insbesondere die Kleinstparteien Die Rechte und Der III.Weg, die einen Austausch ins europäische Ausland — vor allem durch Besuche europaweit wichtiger Aufmärsche — pflegen (vgl. Lotta #60, S. 22-24).

From Dortmund to Sofia

Am 13. Mai 2017 nahmen Dortmunder Neonazis an einem Kongress in Paris teil, der von der französischen extrem rechten Parti nationaliste français ausgerichtet wurde. Neben Teilnehmenden aus Frankreich und Deutschland waren unter den 100 Anwesenden Vertreter_innen neonazistischer Parteien und Strukturen aus Griechenland, Bulgarien, Spanien, Rumänien und Russland. „Auch ein Dortmunder Redner ergriff bei der Veranstaltung das Wort und ging in seinem Beitrag auf die Notwendigkeit einer länderübergreifenden Zusammenarbeit ein, die beispielsweise von Dortmunder Aktivisten seit vielen Jahren mit den Kameraden des ‚Bulgarischen Nationalbundes (BGNS)‘ vorgelebt wird“, heißt es im Nachgang in einem Bericht. Die jahrelangen Bulgarien-Kontakte der Dortmunder Neonazi-Szene um den ehemaligen Nationalen Widerstand Dortmund (NWDO) und heutigen Die Rechte-Kreisverband zeigen sich neben gegenseitigen Besuchen insbesondere bei dem jährlich im Februar stattfindenden „Lukov-Marsch“ in Sofia. An der Demonstration anlässlich des Todestages des ehemaligen bulgarischen Kriegsministers und Generals Hristo Lukov nehmen Dortmunder Neonazis seit mehreren Jahren teil. Auch beim diesjährigen Lukov-Marsch am 18. Februar war eine Delegation nordrhein-westfälischer Neonazis um die Dortmunder Alexander Deptolla, Dietrich Surmann und Matthias Deyda, der zum wiederholten Male ein Grußwort verlesen durfte, vor Ort. Auch Melanie Dittmer von der Identitären Aktion war Teil der Reisegruppe und schwärmte davon, dass „Schweden, Polen, Ungarn, Franzosen, Bulgaren, Deutsche und andere gemeinsam für einen europäischen Helden auf der Straße“ waren. Neben der Teilnahme an einer Kundgebung im Vorfeld des Aufmarsches und der Beteiligung am „Volksgedenkmarsch“ zu Ehren des bulgarischen „Revolutionärs“ Vasil Levski am 19. Februar, kam auch der gesellige Teil für die deutschen Besucher_innen an dem Wochenende nicht zu kurz. So durften laut einem Reisebericht in der Postille NS-Heute der abendliche Besuch des lokalen Clubhauses der bulgarischen Blood & Honour-Sektion sowie ein Kneipenbesäufnis mit den internationalen Kameraden nicht fehlen.

Der Weg nach Osten

Beim diesjährigen „Lukov-Marsch“ ebenso anwesend waren Mitglieder von Der III.Weg um deren Vorsitzenden Klaus Armstroff (Bad Dürkheim/RLP) und den rheinland-pfälzischen Neonazi Mario Matthes. Daneben nahmen auch der „Gebietsleiter West“ Julian Bender (Olpe) sowie Tony Gentsch (Plauen) und Matthias Fischer (Angermünde) teil. Gentsch und Fischer sind ehemalige Kader des verbotenen Freien Netzes Süd (FNS), der gute Kontakte in die ungarische Neonazi-Szene pflegte und die gemeinsame Zusammenarbeit unter das Label Deutsch-Ungarischer Freundeskreis stellte. Heute wird der politische Austausch mit den ungarischen Kameraden über die Struktur des III. Wegs weitergeführt. Die 2014 gegründete Kleinstpartei beansprucht eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit europäischen Partnerorganisationen und spricht sich „für die Schaffung einer europäischen Eidgenossenschaft auf Grundlage der Europäischen Kulturen sowie der gemeinsamen Geschichte“ aus. Was unter einer gemeinsamen Geschichte verstanden wird, zeigt sich jährlich in der ungarischen Hauptstadt Budapest. Zum „Tag der Ehre“ reisen aus diversen Teilen Europas Neonazis an, um der Soldaten zu gedenken, die beim Versuch, 1945 die Befreiung Budapests durch die Rote Armee zu verhindern, ums Leben kamen. Als Redner war hier unter anderem auch schon Klaus Armstroff in Erscheinung getreten. Gerahmt wird das Wochenende mit einem Rahmenprogramm inklusive „Leistungsmarsch“ und RechtsRock-Konzert. Insbesondere der positive Bezug auf die Waffen-SS und die Glorifizierung dieser als „europäische Bruderarmee“ spielen bei dem „Tag der Ehre“ eine bedeutende Rolle.

Noch keine Neonazi-Internationale

Die Inszenierung von neonazistischen Strukturen aus Deutschland als Teil eines gemeinsamen „europäischen Freiheitskampfes“ beschränkt sich allerdings meist auf den Bereich der gegenseitigen Besuche im Rahmen von Aufmärschen oder (sub-)kulturellen Events. Nichtsdestotrotz existieren mittlerweile jahrelange Kontakte und eine Zusammenarbeit mit verschiedenen europäischen Regionen. Dass es dabei auch zu einem ideologischen und konzeptionellen Transfer und Austausch kommt, hat sich in der Vergangenheit schon des Öfteren gezeigt. Seit einigen Jahren ist es insbesondere die CasaPound-Bewegung aus Italien, die eine Faszination für extrem rechte Gruppen in ganz Europa ausübt. Dabei wird nicht nur der Versuch unternommen, mit der Besetzung von Häusern vergleichbare „Soziale Zentren“ — wie sie in Italien entstanden sind — zu schaffen; CasaPound Italia ist auch ein zentraler Akteur und Motor der europaweiten Vernetzungsbestrebungen der extremen Rechten sowie Ausrichter „nationalrevolutionärer“ Treffen und Konferenzen. Auch aus Deutschland besuchen Personen und Strukturen aus verschiedenen Spektren der extremen Rechten mit Begeisterung die Projekte von CasaPound (siehe hierzu auch S. 22).

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