Als „das neue Kultur- und Lifestyle-Magazin“ vermarkten die Heraus-geber das „Arcadi Magazin“. Das Medienprojekt richtet sich vor allem an junge Menschen und weist eine große inhaltliche und personelle Nähe zur AfD und zur „Identitären Bewegung“ auf. Es ist als eine Art Brücke zwischen beiden Organisationen zu werten.Berichte über Videospiele, Comics und Star Wars neben Lifestyle-Ratschlägen à la „Hosenträger? Ja! Aber wie?“ und „Warum ich Scheitel trage“, ein bisschen Sex („Wer jeden oder jeden zweiten Tag masturbiert, wird also nie männlich sein“). Dazwischen wohlwollende Artikel über Projekte aus dem Umfeld der Identitären Bewegung (IB), Interviews mit rechten „Stars“ wie der „Alt Right“-Bloggerin Brittany Pettibone und Berichte über Initiativen der AfD. Das Arcadi Magazin bietet eine eigentümliche Mischung, die aber so gewollt ist.Denn die Herausgeber beanspruchen, politisch nicht festgelegte Jugendliche und junge Erwachsene zu erreichen und unterfüttern zugleich die verschiedenen (frivolen) Artikel, Erfahrungsberichte und Kulturrezensionen mit antifeministischen, rassistischen oder anderen extrem rechten Inhalten. Dies zeigt sich beispielsweise an einem Bericht über den neuesten Teil der beliebten Ego-Shooter-Serie Battlefield, in dem die „Fokussierung auf weibliche und schwarze Charaktere“ im Videospiel als Ausdruck von „Diversity“ und „Equality“ abgelehnt wird.Von der Einlösung des eigenen Anspruchs, mit Arcadi eine „Alternative“ zu Magazinen wie Neon oder Vice bieten zu können, sind die Macher noch weit entfernt. Denn bislang ist die Verbreitung von Arcadi begrenzt. Seit 2016 ist Arcadi als Webzine abrufbar. Seit vergangenem Jahr existiert auch eine Printausgabe mit einer Startauflage von 1.000 Exemplaren. Drei Hefte liegen bereits vor, ein viertes soll in Kürze erscheinen. Auf dem AfD-Bundesparteitag in Köln wurde Arcadi kostenlos verteilt, ansonsten müssen für eine Ausgabe 6 Euro bezahlt werden. Auch die Reichweite der Arcadi-Podcasts ist mit durchschnittlich einigen hundert Klicks pro Beitrag gering. Bei Facebook folgen dem Magazin nicht einmal 2.000 Personen.Dennoch sehen rechte Strateg_innen in dem Projekt offenbar Potenzial. Die Initiative Ein Prozent e.V. unterstützt Arcadi finanziell. In den Heften finden sich zudem zahlreiche Anzeigen von Gewerbetreibenden aus dem Umfeld der IB (zum Beispiel Jungeuropa Verlag, Phalanx Europa) und der Neonazi-Szene (zum Beispiel Greifvogel Wear, Sonnenkreuz Versand). Auch der extrem rechte AfD-Bundestagsabgeordnete Dubravko Mandic wirbt regelmäßig für seine Anwaltskanzlei (siehe Infoboxen). So können zwei Arcadi-Redakteure für ihre Arbeit entlohnt werden.Die HerausgeberHinter Arcadi steht als Herausgeber der Verein Publicatio e.V., der im August 2016 in Leverkusen gegründet wurde. Der Verein verpflichtet sich laut Satzung, die „Kultur und Bildung des deutschen Volkes zu wahren und zu fördern“. Neben der Herausgabe des Magazins soll dieser Zweck auch mit der Durchführung von Veranstaltungen erreicht werden. Vereinsvorsitzender ist der Arcadi-Chefredakteur Yannick Noé, der zugleich Vorsitzender des AfD-Kreisverbands Leverkusen ist. Als sein Stellvertreter im Vereinsvorstand fungiert Maximilian Schmitz. Mitbegründet wurde der Verein von André Ufer (Bundesvorstand Junge Alternative aus Dresden, vorher Düsseldorf), Raimond Hoffmann (stellvertretender Vorsitzender der Jungen Alternative Baden-Württemberg), Dominik Amann (stellvertretender Sprecher der AfD Leverkusen), Holger Noé (Unternehmer aus Leverkusen) und Daniela Boumann-Quast (AfD Düren). Die Gründungsversammlung des Publicatio e.V. leitete Zacharias Kornelius Martin Schalley, der Beisitzer im Vorstand der Jungen Alternative NRW ist und für den AfD-Landtagsabgeordneten Christian Blex arbeitet.Yannick Noé, Schmitz und Schalley waren bereits gemeinsam für die Campus Alternative Düsseldorf, einer zwischenzeitlich inaktiven AfD-nahen Hochschulgruppe an der Heinrich-Heine-Universität, politisch tätig und gehören alle drei der Alten Halleschen Burschenschaft Rhenania-Salingia zu Düsseldorf an, die im extrem rechten Dachverband Deutsche Burschenschaft (DB) organisiert ist. So erklärt sich auch, warum im Falle der Vereinsauflösung das Vermögen des Publicatio e.V. an den Denkmalerhaltungsverein Eisenach e.V. gehen soll, der für die Deutsche Burschenschaft das Burschenschaftsdenkmal in Eisenach betreut. Aufgrund ihrer Parteiarbeit verfügen Schalley und Noé über zahlreiche Kontakte zu Führungskadern der AfD.Enge Verbindungen zu den „Identitären“Offiziell besteht seitens der AfD ein Unvereinbarkeitsbeschluss mit der Identitären Bewegung, der aber immer wieder unterlaufen wird. Arcadi ist dafür ein weiteres Beispiel. Zwar gehören Magazin und herausgebender Verein nicht offiziell zur AfD, sie werden aber von AfD-Mitgliedern getragen. Noé und Schalley sind als Funktionäre in führenden Positionen der AfD beziehungsweise ihrer Jugendorganisation tätig. Neben der deutlichen inhaltlichen Bezugnahme des Arcadi-Magazins auf die IB gibt es aber auch persönliche Verknüpfungen: Yannick Noé machte seine Funktion als Anführer der Identitären Bewegung Leverkusen in seinem Facebook-Profil öffentlich. Zumindest bis 2016 war er auch in einer geheimen Facebook-Gruppe der Identitären Bewegung aktiv. Mit John David Haase, einem Gründungsvorstand der Identitären Bewegung Deutschland e.V., war er gemeinsam in der AfD-Hochschulgruppe beziehungsweise Campus Alternative Düsseldorf tätig. Auch unter den Arcadi-Autor_innen finden sich mit Jan Scharf (Kontrakultur Halle) und Justin Cedric Salka (stellvertretender Vorsitzender des AfD-KV Westerwald) Personen, die sich mehrfach an Aktivitäten der Identitären Bewegung beteiligt haben.„Arcadi-Fest“Die engen Verbindungen zur Identitäten Bewegung zeigen sich auch bei den zwei bislang stattgefundenen „Arcadi-Festen“. Bei der Erstauflage der Veranstaltung im Juli 2017 sprachen die IB-Aktivisten Martin Sellner (Sprecher der IB Österreich) und Mario Alexander Müller (Kontrakultur Halle). Auf der Bühne stand der Rapper Christoph „Chris Ares“ Zloch (Bündnis deutscher Patrioten). Ursprünglich sollte die Veranstaltung auf Schloss Morsbroich stattfinden, einem Gebäude der Stadt Leverkusen. Eine Antifa-Veröffentlichung machte die Anmietung zunichte, daher mussten die Veranstaltenden auf andere Räumlichkeiten ausweichen.Beim zweiten „Arcadi Fest“ am 25. Januar 2018 gingen die Veranstaltenden vorsichtiger vor. Beworben wurde es nur konspirativ über bundesweit verstreut wohnende Vertrauenspersonen. Nicht zuletzt hier offenbarten sich die engen Verbindungen zur IB. Für den Ausschank sorgte Daniel Fiß (IB Rostock) mit seiner Biermarke „Pils Identitär“. Es gab einen Bücherstand vom Jungeuropa Verlag, dessen Inhaber Philip Stein auch im Vorstand von Ein Prozent e.V. sitzt. Ebenfalls vertreten waren Verkaufsstände der „identitären“ Mode-Labels Phalanx Europa von Patrick Lehnert (IB Österreich) sowie Cuneus-Culture von Jannik Brämer (Junge Alternative Berlin) und Karsten Vielhaber (IB Berlin). Live-Auftritte hatten die extrem rechten Rapper „Chris Ares“ und Patrick Uli „Komplott“ Bass (Burschenschaft Germania Marburg, IB Ulm) sowie Die Nackte Wahrheit, ein Musikprojekt der aus Essen-Borbeck stammenden IB-Aktivistin Melanie Schmitz (Kontrakultur Halle). Deutlich wird: Die Initiator_innen versuchen, ganz im Sinne der IB-Strategie der „Kontrakultur“, mit dem Arcadi-Fest und dem Magazin eine Ideologieschmiede und identitäre Erlebniswelt zu entwickeln.Der Ansatz der „Kontrakultur“Am Rande des zweiten Arcadi-Festes interviewte Arcadi-Autor Johannes Thiesen (Libertärer Stammtisch, Youtuber „Philosophy Workout“) Bass und Schmitz zum Konzept der „Kontrakultur“, worunter Schmitz die Möglichkeit versteht, „aus dieser Gesellschaft und ihrem Konsens auszusteigen und in eine Gegenkultur einzutauchen“. Sie bezeichnet „Kontrakultur“ zum einen als ideologisches Angebot, zum anderen auch als Aufgebot von „eigenen Künstlern, eigener Musik, eigener Wohnräume“. Es solle die Möglichkeit geben, „komplett auf die normale Gesellschaft zu verzichten“ und die „Gegenkultur“ anzunehmen. In einer Diskussion zwischen verschiedenen Vertretern der IB und deren Dunstkreis, darunter der ehemalige Blood & Honour-Aktivist Sven Liebich und der deutsch-italienische IB-Aktivist Eric Graziani Grönwald alias „Sebastiano Graziani“ aus Berlin, wird das Arcadi-Fest als eine Veranstaltung beschrieben, die dem Konzept der „Kontrakultur“ entspreche.Offenkundig versuchen die „identitären“ Vertreter_innen Bezug auf Konzepte einer in linken Szenen geprägten Alternativ- und Subkultur zu nehmen, wo eigene ästhetische Ausdrucksformen und Praxen in Opposition zu der als dominant oder hegemonial verstandenen Kultur — dem sogenannten Mainstream — entwickelt wurden. Freilich finden sich aber erst Ansätze dieser propagierten „Kontrakultur“ von rechts. Verglichen mit den Angeboten aus dem Umfeld der italienischen Casa Pound-Bewegung ist deren Bedeutung begrenzt. Die neofaschistische Bewegung aus Italien übt eine große Ausstrahlungskraft nicht nur auf die „Identitären“ aus Halle aus, sondern ebenso auf die Macher von Arcadi. Dies zeigt der Artikel „Wieso ich Casa Pound so geil finde!“ von Antonio Giovanni Copolla, der 2016 auf dem Weblog erschien.
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„Kontrakultur“ aus NRW | Das „Arcadi Magazin“
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Nach dem Prozessende | Bundesanwaltschaft und Verteidigung haben Revision eingelegt
Das Urteil im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München ist gesprochen: lebenslang für Beate Zschäpe und Haftstrafen für die anderen vier Angeklagten, von denen zur Zeit aber niemand mehr in Haft sitzt. Nach Ende des Prozesses stellt sich die Frage, wie die juristische Aufarbeitung des NSU-Terrors weitergeht.In der Öffentlichkeit sorgte das Urteil für Kritik: Nicht mit einer Silbe wurden die Betroffenen des NSU-Terrors in der mündlichen Urteilsbegründung bedacht. Mit Ausnahme der Strafen für Zschäpe und für den einzigen voll geständigen Angeklagten, Carsten Schultze, blieb das Strafmaß unter den Forderungen der Bundesanwaltschaft (BAW). André Eminger erhielt sogar einen Teilfreispruch und wurde direkt nach der Urteilsverkündung aus der Haft entlassen. Auf der Empore des Saals A101 brachen die anwesenden Neonazis deshalb in Jubel aus.Raus aus der HaftEminger wurde zwar wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu einer geringen Haftstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt, von den Vorwürfen der Beihilfe zum versuchten Mord und zum bewaffneten Raub aber freigesprochen. Nachdem die BAW in ihrem Plädoyer zwölf Jahre Haft für ihn gefordert hatte, hatte der Senat ihn im September 2017 nochmals in U-Haft genommen. Seine Haftentlassung am Tag der Urteilsverkündung war juristisch folgerichtig. Dass Ralf Wohlleben nicht auch direkt aus der Haft entlassen wurde, macht aus juristischer Sicht hingegen nicht viel Sinn. Wohlleben war zwar wegen der Lieferung der Tatwaffe „Ceska 83“ zu zehn Jahren Haft verurteilt worden, saß aber schon seit November 2011 in U-Haft. Vermutlich um in der Öffentlichkeit nicht als zu milde zu wirken, wartete der Senat lieber den unvermeidlichen Antrag der Wohlleben-Verteidigung auf Haftentlassung ihres Mandanten ab.Keine Woche nach der Urteilsverkündung, am Nachmittag des 17. Juli 2018, konnte Wohlleben die JVA München-Stadelheim still und leise verlassen. In der Begründung des Antrags auf Aufhebung des Haftbefehls hatten Wohllebens Anwält_innen angeführt, ihr Mandant könne nach seiner Entlassung sofort in der Nähe seines Wohnorts eine Arbeitsstelle antreten. Wohlleben lebt nun im sachsen-anhaltinischen Bornitz, einem Ortsteil der Gemeinde Elsteraue.Dort lebt auch Jens Bauer, Chef der völkischen Artgemeinschaft und einer der eifrigsten Unterstützer Wohllebens während des Prozesses. Bauer besuchte diverse Male den Prozess, er begleitete auch mehrfach Jacqueline Wohlleben. Diese durfte — wie später auch Susann Eminger — als sogenannter rechtlicher Beistand während der Hauptverhandlung neben ihrem Ehemann Platz nehmen. Gemeinsam mit dem Neonazi-Kader Enrico Marx präsentierte Bauer nach Ende des 429. Verhandlungstages auf dem Vorplatz des Münchner Strafjustizzentrums ein Banner mit den Konterfeis von Wohlleben und Eminger und der Aufschrift „Gemeinschaft statt Isolation! Freiheit für Wolle & André“.Zeit-Online zufolge wurde Wohlleben nach seiner Haftentlassung am Steuer des Wagens von Bauers Firma gesehen. Und auch André Eminger macht — vom Urteil offenbar unbeeindruckt — in der Neonazi-Szene weiter. Nach Recherchen des MDR besuchte er bereits kurz nach seiner Haftentlassung ein von der Neonazi-„Bruderschaft“ Turonen organisiertes Konzert in Kirchheim (Thüringen).RevisionsverfahrenAber wie geht es juristisch für Eminger, Wohlleben und die anderen Angeklagten weiter? Alle fünf Angeklagten haben das Urteil angefochten, die BAW nur hinsichtlich des Teilfreispruchs von Eminger. Die Nebenklage kann nur gegen (Teil-)Freisprüche vorgehen, nicht aber gegen die Höhe des Strafmaßes. Daher hat niemand der Nebenkläger_innen Revision eingelegt. Aufgrund der langen Prozessdauer hat der Senat nach der mündlichen Urteilsverkündung theoretisch 93 Wochen Zeit, um das schriftliche Urteil vorzulegen. Angesichts der inhaltlichen Dürftigkeit der mündlichen Zusammenfassung wäre es jedoch überraschend, wenn er so viel Zeit benötigen würde.Erst nach Zustellung des schriftlichen Urteils, so erläutert es das Blog NSU-Nebenklage, müssen die Prozessbeteiligten ihre Revisionen begründen. Dann beginnt ein schriftliches Verfahren, das noch einige Monate in Anspruch nehmen wird, bevor der Bundesgerichtshof über die Revisionen entscheiden kann. Zu der Revision der BAW findet sehr wahrscheinlich eine kurze Revisionshauptverhandlung in Karlsruhe statt. Revisionen der Verteidigung dagegen werden üblicherweise im schriftlichen Verfahren bearbeitet. Mit einem rechtskräftigen Urteil kann also frühestens Mitte 2019 gerechnet werden. Wird das Urteil ohne große Änderungen am Strafmaß bestätigt, müssten Wohlleben und Eminger wohl noch einmal in Haft. Für Haftentscheidungen ist bei beiden weiterhin der Staatsschutzsenat des OLG München zuständig.Eminger hat etwa die Hälfte seiner Strafe abgesessen, Wohlleben beinahe zwei Drittel, nach denen üblicherweise überprüft wird, ob der Rest der Strafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Eigentlich ist es unüblich für ein Staatsschutzverfahren, dass die Zweidrittelregelung Anwendung findet. Björn Elberling, Nebenklagevertreter im NSU-Prozess, auf Nachfrage der LOTTA: „Der deutsche Rechtsstaat und die Nazis, das ist ja immer ein Kapitel für sich. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass das OLG München — etwa mit der Begründung, dass es den NSU ja nicht mehr gäbe — hier die Zweidrittelregelung anwendet.“Weitere VerfahrenDie BAW ermittelt noch gegen weitere mutmaßliche NSU-Unterstützer_innen. Ob es gegen einzelne dieser Verdächtigen noch Prozesse geben wird, ist nicht bekannt, erscheint derzeit aber eher unwahrscheinlich. Bereits im November 2013 hatte der Vertreter der BAW, Jochen Weingarten, vor Gericht erklärt, das Verfahren gegen André Kapke sei „einstellungsreif“ — eingestellt wurde es aber bis heute nicht. Nebenklageanwalt Elberling befürchtet, dass die weiteren Ermittlungsverfahren im NSU-Komplex bald eingestellt werden.Die Angehörigen von drei NSU-Opfern wollen hingegen die juristische Aufarbeitung weiter forcieren. Bereits 2016 hatten sie eine Staatshaftungsklage gegen die Länder Thüringen und Bayern sowie gegen den Bund eingereicht. Dabei geht es um das Versagen der Behörden auf der Suche nach Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe im Jahr 1998. Die Klage ruht derzeit, da der Freistaat Thüringen zwischenzeitlich einen Hilfsfonds für die Opfer und Angehörigen aufgelegt hat. Abdul Kerim Şimşek, Sohn des ersten NSU-Mordopfers Enver Şimşek, betonte bei einer Pressekonferenz kurz nach dem Münchener Urteil, dass es bei der Klage darum geht, dass der Staat eingesteht, versagt zu haben. Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler kündigte an, das Verfahren könne bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen.Fest steht: Das Urteil hat rechte Terrorstrukturen nicht geschwächt. Als kürzlich in Chemnitz und Köthen tausende Rechte auf die Straße gingen, waren auch Unterstützer aus dem NSU-Umfeld mit dabei. Und die später festgenommenen Neonazis von Revolution Chemnitz wollten laut Chat-Protokollen mit ihren geplanten Terror-Anschlägen die „Kindergarten-Vorschulgruppe“ NSU sogar übertreffen.
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Was ist eigentlich aus dem "Thule-Seminar" geworden? | Eine Bestandsaufnahme
Das „Thule-Seminar“ galt lange vor dem Aufschwung von Kubitschek, Elsässer und Co. als Kernorganisation der „Neuen Rechten“ in Deutschland. Seit geraumer Zeit ist es sehr ruhig geworden um den Verein aus Kassel und seinen Vorsitzenden Pierre Krebs. Zeit, mal wieder genauer hinzusehen.Das Thule-Seminar wurde 1980 in Kassel von Pierre Krebs als deutscher Ableger des französischen Thinktanks der „Nouvelle Doite“, dem G.R.E.C.E. (Groupement de recherche et d'études pour la civilisation européenne), gegründet.Krebs, langjähriger Wegbegleiter von Alain de Benoist, dem intellektuellen Kopf der französischen „Nouvelle Droite“, sowie des Rechtsterroristen Dominique Venner, studierte und promovierte zunächst in Frankreich, wo er auch seine politische Karriere begann. Anschließend studierte er in Göttingen und Kassel, wo er seither tätig ist.Zu den Gründungsmitgliedern des Thule-Seminars gehörten u.a. das Verlegerehepaar Marieluise und Wigbert Grabert. Im Grabert-Verlag bzw. in seinem Tochterunternehmen, dem Hohenrain-Verlag, erschienen Anfang der 80er Jahre in kurzem Abstand die Schriften de Benoists in deutscher Übersetzung sowie der von Krebs herausgegebene Sammelband „Das unvergängliche Erbe. Alternativen zum Prinzip der Gleichheit“, der unter andern Armin Mohler, Alain de Benoist, Guillaume Faye und Jürgen Rieger unter dem Pseudonym Jörg Rieck als Autoren versammelt.Progammatisch war das Thule-Seminar eher an seinem französischen Vorbild als an den Debatten der deutschen „Neuen Rechten“ orientiert. Im Zentrum standen die Verbindung eines antichristlichen, paganen Weltbildes mit extrem rassistischen Elementen mit neuen Impulsen wie der oberflächlich gehaltenen Rezeption der Theorie der kulturellen Hegemonie des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci. Krebs bezeichnet die Programmatik als „Neue Kultur“, in der er versucht, eine vermeintlich gemeinsame europäische Denktradition zu bestimmen, die germanischen sowie griechischen und römischen Traditionen entstammen soll.Dem Verein angegliedert sind der Verlag Ahnenrad der Moderne sowie der Ariadne-Bücherdienst, ansässig im nordhessischen Bad Wildungen.Hoher Anspruch – tiefer Fall1980 stellte sich das Thule-Seminar in der Zeitschrift Nation Europa mit großen Zielen vor: „Das Thule-Seminar will eine Art Katalysator zur Ausrichtung geistig verwandter Menschen auf ein gemeinsames Ziel sein: die Schaffung der geistig kulturellen Grundlagen eines neuen Vaterlands der Völker Europas.“ Zunächst diente die von Grabert herausgegebene Zeitschrift Deutschland in Geschichte und Gegenwart als Mitteilungsorgan des Thule-Semimars. Doch es schien, als käme der hochtrabend philosophische Ton beim deutschen Publikum nicht gut an, bereits 1983 stieg Grabert aufgrund des ausbleibenden Erfolges aus.Ab 1986 brachte das Thule-Seminar seine eigene Zeitschrift Elemente heraus. Die Publikation, die eng am französischen Vorbild Eléments angelehnt war, bot deutschen und französischen AutorInnen ein Forum. Auch hier wurde erneut ein hoher Anspruch formuliert: „Elemente ist die Zeitschrift der europäischen Intelligenz – die wagt!“ - und auch hier stellten sich schnell Probleme ein. Erschienen die ersten beiden Ausgaben noch in kurzem Abstand, wurden die Zeiträume immer größer, sodass sich Burkhardt Weecke und Pierre Krebs als Herausgeber 1994 verpflichtet sahen, eine Stellungnahme in Nation Europa zu veröffentlichen, um Gerüchten in der Szene etwas entgegenzusetzen. Es sollte noch weitere vier Jahre dauern, bis die sechste Ausgabe der Elemente erschien. Der blick nach rechts kommentierte die siebenjährige Pause 1998 mit der Frage: „Zweite Luft oder letzter Atemzug?“ Es erschien noch eine siebte Ausgabe, danach wurde es wieder ruhig um den selbsternannten Elitezirkel aus Nordhessen.Neuer Anlauf – Scheitern und Fokussierung nach innenAnfang der 2000er Jahre legte Krebs noch einmal nach. Er startete ein neues Publikationsprojekt, die Zeitschrift Metapo, die jedoch nach einem Jahr und nur vier Ausgaben wieder eingestellt wurde. Nach dem erneuten Misserfolg änderte sich die Strategie des Thule-Seminars. Es wurde versucht, statt einer breiten Außenwirkung eine Festigung nach innen zu vollziehen. Die Publikationen beschränken sich seit 2001 auf einen Kalender mit dem Titel „Mars Ultor“, der neben wichtigen Daten und Personen aus der „Nouvelle Droite“ „germanische“ Feiertage vorgestellt. Er ist in jedem Jahr einem Oberthema gewidmet, den „Germanen“, „Spartanern“ oder „Völkischen Heldinnen, Rebellinnen, Rechtlerinnen“, wo Frauen aus der extremen Rechten wie die Elemente-Autorin Sigrid Hunke oder die NS-Aktivistin Pia Sophie Rogge-Börner vorgestellt wurden. Die aktuelle Ausgabe 2016 wurde von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert.Seit 2001 finden auch die vorher nur sporadisch organisierten „Tafelrunden der freien Geister“, eine Art Klausurtagung des Thule-Seminars, jährlich auf Schloss Garvensburg in Züschen bei Fritzlar statt. Auf eine dem Titel entsprechende aufgeblasene Atmosphäre wird dabei wert gelegt. Die Versammlungen werden unter „geistiger Schirmherrschaft“ in Gedenken an eine dem Thule-Seminar verbundene Person ausgerichtet, die bei der Versammlung gewürdigt wird. Beispiele hierfür sind Sigrid Hunke, Arthur Moeller van der Bruck oder Jürgen Rieger.Das Thule-Seminar arbeitet seit Anfang der 2000er Jahre von der Öffentlichkeit eher unbemerkt. Kurz stand der Verein im Rampenlicht, als 2008 aufgedeckt wurde, dass Yvonne Olivier von der CDU in Meißen früher führendes Mitglied des Thule-Seminars war. Doch der Skandal blieb aus, Olivier ist auch heute noch aktiv.In jüngster Vergangenheit konzentriert Krebs sein Engagement auf Auftritte bei verschiedenen rechten Veranstaltungen sowie auf wirre Kommentare zum Zeitgeschehen auf der Homepage des Vereins. Flyer im gleichen Ton wurden kürzlich an der Uni Kassel verteilt. Neben Auftritten z.B. beim Eichsfeldtag von Thorsten Heise kündigte das Thule-Seminar 2013 an, eng mit der Europäischen Aktion zusammenarbeiten zu wollen. Hier ist Krebs in guter Gesellschaft: die engagierte Holocaustleugnerin Michèle Renouf ist Stützpunktleiterin der englischen Sektion, sie kaufte das ebenfalls in Nordhessen gelegene Haus des Rechtsterroristen Manfred Roeder nach dessen Tod.Das Thule-Seminar war in den 1980er Jahren mit dem Ziel gestartet, die Idee der „Neuen Rechten“, die jeden Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus leugnete, zu verbreiten. Diese Distanzierung war ein taktischer Zug, die Mitgliedschaft von Krebs in der neonazistischen-neoheidnischen Artgemeinschaft – germanische Glaubensgemeinschaft belegte schon damals eine Verankerung im Neonazismus. Heute tritt Krebs mangels Erfolgs fast ausschließlich in der neonazistischen Szene auf, die aktuell seinen Resonanzraum darstellt.
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Wer den Schaden hat... | Das geplatzte Großevent in Wetzlar und die hessische NPD
Es sollte der große Wurf werden: Die NPD hatte sich mit einer Wahlkampfveranstaltung in die Wetzlarer Stadthalle geklagt, nachdem ihr die Stadt Wetzlar diese nicht zur Verfügung stellen wollte. Nachdem seitens der Stadt alle rechtlichen Mittel ausgeschöpft schienen, veröffentlichte die Partei ein — bis dahin in Hessen beispielloses — Veranstaltungsprogramm. Am Veranstaltungstag, dem 24. März 2018, verweigerte die Stadt der Partei erneut die Nutzung. Der NPD blieb letztendlich ein Trümmerhaufen.Bei der NPD Hessen bedeuten derartige Wahlkampfveranstaltungen zumeist Auftritte regionaler NPD-FunktionärInnen sowie einiger NPD-RednerInnen aus anderen Landesverbänden. Möglicherweise auch mal der Auftritt eines Liedermachers, der das Programm etwas auflockern soll. Das Anfang März veröffentliche Programm für ihre Wahlkampfveranstaltung am 24. März sah allerdings anders aus. Erst wenige Tage zuvor hatte der hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel (VGH) entschieden, dass die Stadt Wetzlar der Partei die Halle zur Verfügung stellen müsse. Das daraufhin angekündigte Aufgebot an Bands und RednerInnen hatte es in sich.Neben Mortuary, F.i.e.l. und Faust wurden die Szenegrößen FLAK, Kategorie C und Oidoxie angekündigt. Zusätzlich wurde noch eine RednerInnen-Liste bekanntgegeben. Neben den regionalen NPD-Funktionären Daniel Lachmann und Thassilo Hantusch wurden mit Ariane Meise, Dominik Stürmer und Sebastian Schmidtke weitere FunktionärInnen der Partei angekündigt. Zudem Hantuschs Großmutter Doris Zutt (Lotta #62) und der im AB Mittelrhein-Prozess angeklagte heutige JN-Bundesvorsitzende Christian Häger. Weitaus überraschender war die Ankündigung von Sven Skoda („Freie Kräfte“), sowie des Dortmunders Michael Brück von der Partei Die Rechte (DR).„Sammlungsbewegung“ NPD?Nachvollziehbar erscheint diese Orientierung vor dem Hintergrund einer „Proklamation“ des völkischen Parteiflügels um NPD-Vorstandsmitglied Thorsten Heise, die wenige Wochen vorher mit Unterstützung des hessischen Landesvorsitzenden Jean-Christoph Fiedler veröffentlicht worden war. Die darin postulierte Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und der Wunsch nach einer „Sammlungsbewegung“ wirkte wie eine Blaupause für die Veranstaltung in Wetzlar. Darüber hinaus wurde Wetzlar beim letzten Bundesparteitag im März 2017 als „Leuchtturm-Projekt“ ausgerufen.Nach vermehrten Aufmärschen in den vergangenen Jahren und dem erfolgreichen Abschneiden bei den Kommunalwahlen 2016 wurde hier offenbar Potenzial vermutet. Verbunden mit der Hoffnung, die Partei regional stärker zu verankern. Der erste Rückschlag erfolgte bereits im April 2017. Der Versuch, ein Bürgerbüro nebst Hausprojekt in der Wetzlarer Altstadt zu eröffnen, scheiterte. Die Stadt Wetzlar erfuhr von dem Vorhaben und schnappte der NPD die Immobilie vor der Nase weg.Strategie der Stadt Wetzlar geht aufNach der Veröffentlichung des Programms sah sich die Stadt Wetzlar getäuscht: Die Bands würden den Charakter der Veranstaltung ändern. Und so bestritt die Stadt ihrerseits den gerichtlichen Weg, sie zog bis vor den VGH in Kassel — und verlor. Die NPD, so die Argumentation der Gerichte, dürfe ihre Veranstaltung gestalten, wie sie wolle. Am 22. März, zwei Tage vor der Veranstaltung, war jedoch immer noch kein Mietvertrag zustande gekommen. Die Stadt sah nicht alle Auflagen erfüllt. Erneut ging es bis vor den VGH. Dieser ordnete unter Androhung einer Strafzahlung von 7.500 Euro für die Stadt an, dass bis zum 23. März, 11 Uhr, ein Mietvertrag zu unterzeichnen sei. Als dieses dann wiederum nicht geschah, wurde der Stadt eben diese Strafe auferlegt. Eine weiteres Strafgeld von 10.000 Euro umging die Stadt , indem sie Beschwerde einlegte.Die Stadt argumentierte, sie würde den Mietvertrag mit der NPD erst abschließen, wenn diese, wie alle anderen Veranstalter_innen auch, alle Auflagen erfüllen würde. Hierbei ging es vorrangig um einen gültige Haftpflichtversicherung für eventuelle Schäden während der Veranstaltung und um den einzusetzenden Sanitätsdienst. Nachdem am Morgen des 24. März den OrganisatorInnen und HelferInnen der Zutritt zur Halle verwehrt worden war, zog die NPD vor das Bundesverfassungsgericht (BVG) — und gewann. Doch die Freude war nur von kurzer Dauer, trotz der Entscheidung des BVG beharrte die Stadt Wetzlar weiterhin darauf, dass sie ohne die erfüllten Auflagen keinen Mietvertrag unterzeichnen könne. Gegen 17 Uhr gab die NPD dann letztendlich auf, verlegte das Konzert murrend und mit Konsequenzen drohend nach Leun-Stockhausen und machte sich auf den Weg in das Miet-Bistro Hollywood, das von dem NPDler Thomas Gorr betrieben wird.Das Nachspiel gestaltete sich dann unaufgeregter als erwartet: Das BVG beauftragte die Kommunalaufsicht des Regierungspräsidiums Gießen, sich der Sache anzunehmen und das Vorgehen der Stadt und der handelnden Personen zu überprüfen. Am 13. April wurde mitgeteilt, dass es keine weitere Strafe gegen die Stadt geben werde. Das Regierungspräsidium ließ verlauten, dass die Kommunalaufsicht zur Einsicht gekommen sei, dass sich die Stadt Wetzlar tatsächlich in dem von ihr dargelegten Dilemma befunden habe. Sie habe glaubhaft machen können, dass sie dem Beschluss der Gerichte habe nachkommen wollen. Eine „berechtigte Sorge um den Schutz der Besucherinnen und Besucher während der NPD-Veranstaltung mit Blick auf den fehlenden Nachweis einer Haftpflichtversicherung und eines ausreichenden Sanitätsdienstes“ habe sich nicht ausräumen lassen. Letztendlich blieb die Stadt Wetzlar gerügt zurück, konnte sich aber in ihrer Strategie bestätigt sehen.Wegbleiben statt SchaulaufenNach den Prognosen im Vorfeld war ein Schaulaufen der organisierten Neonazi-Szene für den 24. März erwartet worden, verbunden mit der Sorge, dass die zersplitterte und sehr heterogene hessische Szene die Veranstaltung zu einer besseren Vernetzung nutzen könnte. Ein Blick auf die Anwesenden an diesem Tag zeigte aber, dass es sich großteils um eher unorganisierte Neonazis handelte — teilweise von weit her aus anderen Bundesländern angereist. Das befürchtete Bedrohungsszenario bleib aus, auch zahlenmäßig blieb der Event mit etwa 200 Personen weit hinter den Erwartungen der Veranstalter zurück. Regionale Neonazis tauchten fast überhaupt nicht auf. Weder ließ sich derjenige Teil der Szene blicken, der gerne Präsenz bei Aufmärschen zeigt, noch waren die üblichen KonzertbesucherInnen anzutreffen.Auch Personen aus dem Spektrum von Blood&Honour, Combat 18 und „Hammerskins“ blieben fern, obwohl mit Oidoxie und FLAK ihren Netzwerken nahestehende Bands auftraten. Ebenso kaum anzutreffen waren Funktionäre neonazistischer Parteien. Der sich in Hessen im Aufbau befindliche Der III. Weg glänzte ebenso durch Abwesenheit wie die in Hessen wiedergegründete Die Rechte, obwohl mit Michael Brück ein DR-Bundesvorstandsmitglied als Redner angekündigt war. Auch von der NPD selbst war kaum Personal anwesend. Mit Ausnahme der angekündigten RednerInnen ließen sich keine weiteren NPD-Kader von außerhalb Hessens blicken. Auch viele hessische FunktionärInnen und LandtagskandidatInnen blieben der Veranstaltung fern, sofern sie nicht in die Organisation involviert waren. Nicht einmal der — zu diesem Zeitpunkt noch aktuelle — NPD-Landesvorsitzende Jean-Christoph Fiedler und die örtliche NPD-Fraktion Wetzlar ließen sich rund um die Stadthalle blicken — mit Ausnahme des Gastgebers Thassilo Hantusch.Neben dem Konzert in Leun-Stockhausen gab es am 24. März noch weitere Veranstaltungen. Nachdem ungefähr 15 Personen der JN und der Identitären Aktion von Wetzlar aus nach Gießen gefahren waren, um dort mit einer zehnminütigen Kundgebung vor dem Polizeipräsidium ihren Unmut kundzutun, reisten sie weiter Richtung Bonn. Dort sollte an diesem Abend der Anmelder der Kundgebung, Maximilian Reich, unter seinem Pseudonym „Jonas Freytag“ sein neues Buch in Rahmen einer Lesung vorstellen. Bei der zweiten Veranstaltung handelte es sich um ein Grauzonen-Konzert im nordhessischen Neunkirchen. Einigen Neonazis erschien das Angebot, direkt vor der Haustür mit den Freunden von „damals“ unbeschwert zu feiern, offenbar attraktiver als die massiven polizeilichen Kontrollen, die in Leun auf sie warteten.Zum Zustand der NPD in HessenDie hessische NPD befindet sich seit 2008 und dem Abgang von Marcel Wöll in einem desaströsen Zustand. Die Kommunalwahlen 2016 mit Ergebnissen um die 10 Prozent in Wetzlar, Büdingen und Leun täuschten darüber kurzzeitig hinweg, derartige Ergebnisse werden bei der anstehenden Landtagswahl kaum zu wiederholen sein. Hessenweit dürfte es für die Partei ohnehin eher um ein Überspringen der Einprozenthürde für die staatliche Parteienfinanzierung gehen. Ein Blick auf das Personal liefert genügend Gründe, warum die Partei in Hessen nicht für eine Sammlungsbewegung taugt. Auf allen Ebenen fehlt es an charismatischen, gut vernetzten oder auch einfach nur jungen FunktionärInnen. Die Wahl Daniel Lachmanns zum Landesvorsitzenden Mitte April und seine Nominierung zum „Spitzenkandidat“ für die Landtagswahl bringt den Zustand der NPD-Hessen auf den Punkt. Der langjährige NPD-Funktionär ist seit jeher um ein bürgerliches Bild der Partei bemüht. Er will mit der NPD akzeptierter Teil der Gesellschaft sein und hat wenig Anbindung an die Szene außerhalb der Partei. Dabei ist er alles andere als charismatisch und weiß auch als Redner nicht zu überzeugen. Bei den Kreisverbänden sieht es kaum besser aus: Der Kreisverband im Lahn-Dill-Kreis scheint zwar zu funktionieren, ein Blick auf seine Funktionäre zeigt jedoch ebenso wie bei der NPD-Fraktion in Wetzlar, dass die Struktur mit wenigen Ausnahmen hoffnungslos überaltert ist. In der Region Wetterau, wo die Partei ebenfalls vergleichsweise gut aufgestellt ist, sieht es kaum besser aus. Landesweit wurden in den vergangenen Jahren in allen hessischen Regionen Kreisverbände zu Bezirken zusammengelegt, damit überhaupt noch der Eindruck von einer flächendeckend präsenten NPD suggeriert werden kann. Dabei übernehmen einzelne Funktionäre wie Jean-Christoph Fiedler (Südhessen), Martin Kohlhepp (Osthessen) oder Roy Godenau (Nordhessen) nun ganze Regionen, die für die NPD im Grunde verloren sind.Unterm Strich bleibt festzuhalten, dass die NPD momentan weder das Personal noch die Struktur hat, um aus eigener Kraft heraus in Hessen eine ernst zu nehmende Kraft im rechten Spektrum darzustellen. Es zeigt sich zudem, dass sich die heterogene und überwiegend unorganisierte hessische Neonazi-Szene von der NPD nicht einbinden lässt. Demnach bedarf es immer wieder Unterstützung von anderen Landesverbänden, um kurzzeitig für Aufsehen zu sorgen. Dies betrifft gleichermaßen den Wahlkampf wie auch Aufmärsche oder das geplante Bürgerbüro. Mit Unterstützung von außen hätte sich Wetzlar auch zu einem Ort für als Parteiveranstaltungen angemeldete Neonazi-Konzerte entwickeln können, ähnlich wie das in Themar bereits der Fall ist. Die Stadt Wetzlar hat glücklicherweise mit Vehemenz die Nutzung der Halle verweigert.
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Kriminalisierung von Protest | Über die Repression nach NoG20
Es war mehr PR-Kampagne als Strafverfolgung, als die SoKo „Schwarzer Block“ der Polizei Hamburg Fotos von 104 Personen veröffentlichte, um sie als angebliche „G20-Straftäter*innen“ anzuprangern. Seit den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg im Juli 2017 versuchen Polizei und Staatsanwaltschaft, durch medienwirksam gerahmtes Vorgehen gegen linke Strukturen die brutale Polizeigewalt und das Außerkraftsetzen des Versammlungsrechtes während des G20-Gipfels zu legitimieren.Die erste größere Welle von Hausdurchsuchungen fand Ende September 2017 im Zusammenhang mit einem während des Gipfels geplünderten Apple Store statt. Durchsucht wurden 16 Wohnungen und Geschäfte in Hamburg. Nur vier Personen wurde dabei vorgeworfen, an der Plünderung beteiligt gewesen zu sein; alle anderen wurden beschuldigt, „Zeug*in“ oder mögliche Käufer*in von „Hehlerware“ zu sein. Auch Geräte, die nachweislich nicht aus dem geplünderten Laden kamen, wurden beschlagnahmt. Begründet wurden die Durchsuchungen mit der Auswertung von Videos und der Überwachung von Funkzellen zur „Tatzeit“ am Apple Store.Die zweite Durchsuchungswelle mit bundesweit 24 Hausdurchsuchungen am 5. Dezember 2017 richtete sich gegen Personen, deren Personalien am 7. Juli 2017 von der Polizei am Rondenbarg in Hamburg-Altona festgestellt worden waren. Der Polizei war offensichtlich daran gelegen, die Deutungshoheit über die Ereignisse am Rondenbarg zurückzugewinnen. Elf Demonstrant*innen waren durch das brutale Vorgehen der Polizei schwer verletzt worden, weshalb der Einsatz öffentlich in die Kritik geriet.Tonnenweise TerabytesSeit Herbst 2017 kontrollierte und fotografierte das LKA in Hamburg mehrfach Personen, die es als „G20-Gewalttäter*innen“ beschuldigte, um Vergleichsbilder zu erstellen. Die bislang größte Aktion dieser Art fand am 25. Oktober 2017 während einer Prozesspause statt, als dreizehn Prozessbeobachter*innen in einem Café gegenüber dem Gericht in Altona von ungefähr 40 Polizeibeamt*innen über eineinhalb Stunden gehindert wurden, das Café zu verlassen. Seit März 2018 nutzt die SoKo „Schwarzer Block“ eine Gesichtserkennungs-Software, um ihre sieben Terabyte Bildmaterial zu durchsuchen. Dazu kommen noch zehn Terabyte externe Dateien etwa von der am Gipfelwochenende online gestellten Denunziationsplattform sowie 450.000 Stunden Videomaterial der Hamburger Hochbahn. Auch die RTL-Gruppe gab bereitwillig ihr gesamtes Videomaterial heraus. Öffentlich-rechtliche Sender wie der NDR leiteten nach eigenen Angaben kein unveröffentlichtes, jedoch veröffentlichtes Material in höherer Auflösung an die Ermittlungsbehörden weiter.Internet-PrangerAm 18. Dezember 2017 startete die Polizei mit der Publikation von Fotos von 104 Personen ihre bisher bundesweit größte Öffentlichkeitsfahndung und präsentierte die Betroffenen auf einem eigens eingerichteten Internetportal als vermeintliche Straftäter*innen. Eine zweite Öffentlichkeitsfahndung gegen weitere 101 Personen begann am 16. Mai 2018. Besonders erfolgreich war dieses Vorgehen nicht. 74 der 104 Personen aus dem ersten Aufruf blieben bis heute unidentifiziert. Den Einwand, dass dabei auch Fotos von offensichtlich Minderjährigen veröffentlicht worden waren, wischte ein Polizeisprecher lapidar vom Tisch: Wer könne schon sagen, erklärte er, ob die abgebildeten Personen 18, 17 oder erst 14 Jahre alt seien.Mitte April startete die Fahndung nach zunächst 24 Personen in 15 anderen europäischen Staaten. Im Zuge der zweiten Öffentlichkeitsfahndung erhöhte die Polizei die Anzahl der Personen, nach denen international gefahndet wird, auf 91. Ende Mai 2018 folgten Hausdurchsuchungen in Frankreich, Italien, der Schweiz und Spanien.Die G20-ProzesseDirekt nach dem Gipfel saßen etwa 50 Gefangene in Untersuchungshaft. Die meisten Betroffenen mit deutschem Pass wurden relativ schnell wieder entlassen. Gegen die verbliebenen 30 Personen laufen seitdem Prozesse. Aufgrund der in der EU bestehenden Auslieferungsabkommen sind die betroffenen EU-Bürger*innen eigentlich rechtlich mit Deutschen gleichgestellt; sie hätten daher ebenfalls aus der U-Haft entlassen werden müssen, da Fluchtgefahr als Haftgrund nicht greift. Als juristische Rechtfertigung für die U-Haft wurde deshalb angeführt, das Rechtsempfinden der Hamburger Bürger*innen sei gestört worden; diese hätten daher ein Anrecht auf schnelle Urteile. Wenn aber Auslieferungsanträge gestellt werden müssten, zögen die Prozesse sich zu sehr in die Länge.Staatsanwaltschaft und Gerichte setzten die U-Haft gezielt als Druckmittel für Geständnisse ein. In mehreren Verfahren vermittelte die Staatsanwaltschaft immer wieder, es gebe Bewährungsstrafen nur im Falle eines Geständnisses. Dass dies nicht stimmt, wurde im Prozess gegen Emiliano Anfang Oktober 2017 deutlich. Dieser gab vor Gericht eine politische Erklärung ab, sagte jedoch nichts zur Sache aus und kam dennoch am ersten Prozesstag auf Bewährung frei. Auch Alessandro wurde ohne Geständnis an seinem ersten Prozesstag Ende Oktober 2017 auf Bewährung aus der Haft entlassen. Im Berufungsverfahren Ende April 2018 versuchte die Staatsanwaltschaft durchzusetzen, dass es bei einem G20-Verfahren ohne reuiges Geständnis keine Bewährung geben dürfe, doch das gegenteilige Urteil vom Oktober wurde bestätigt.Es würde zu weit führen, über alle Verfahren einzeln zu berichten. In einigen Fällen, unter anderem bei der Anklage wegen versuchten Mordes wegen des angeblichen Laserpointer-Angriffs auf einen Polizeihubschrauber, ist von den ursprünglichen Anklagepunkten nicht viel übrig geblieben. Auch Konstantin wurde von den meisten ursprünglichen Vorwürfen freigesprochen und bekam als bislang erster eine Haftentschädigung für seine vier Monate U-Haft. Sein Prozess endete am 8. Mai mit einer Verurteilung wegen vermeintlichen Widerstands; er soll mit den Füßen gezappelt haben, als vier Polizisten auf ihm saßen. Gegen das Urteil hat er Berufung eingelegt. Insgesamt fällt auf: Bei Verfahren, in denen strittig verhandelt wurde, ergab sich im schlechtesten Fall das gleiche Resultat wie bei Verfahren mit Geständnissen. Bestenfalls aber lösten sich die Vorwürfe ohne Geständnis als unhaltbar auf.Wieviele Prozesse tatsächlich stattfinden werden, ist noch unklar. Die Ermittlungen der Polizei laufen weiterhin auf Hochtouren. Im Juni 2018 befanden sich noch sechs Personen, nachdem sie erstinstanzlich verurteilt wurden, in Haft.DNA-EntnahmenObwohl eine DNA-Entnahme nur mit einem richterlichen Beschluss erzwungen werden darf, verschickte die Polizei wiederholt Vorladungen und forderte ohne einen solchen Beschluss per Post zur DNA-Abgabe auf. Auch Personen in U-Haft wurden unter Druck gesetzt; zuweilen wurde ihnen suggeriert, sie seien verpflichtet, DNA-Proben abzugeben. Einzelne Gefangene wurden sogar zur DNA-Abnahme ins rechtsmedizinischen Institut verbracht, ohne dass ein richterlicher Beschluss vorlag. Bei anderen wurden unmittelbar nach Verhandlungen im Gerichtsgebäude DNA-Abnahmen durchgeführt.Urteile als AbschreckungSchon im ersten G20-Prozess sollte das von Richter Johann Krieten gesprochene Urteil vor allem einschüchtern. Wegen des Vorwurfs des schweren Landfriedensbruchs, gefährlicher Körperverletzung, eines besonders schweren Angriffs auf Vollstreckungsbeamte sowie Widerstands verurteilte er einen 21-Jährigen aus den Niederlanden zu zweieinhalb Jahren Haft. Dieses Urteil dient de facto bis heute als Referenzrahmen. Insgesamt verhängte die Justiz bislang extrem harte Strafen und entsprach damit einer Forderung aus der Politik. Staatsanwaltschaft und teilweise auch Richter*innen behaupten immer wieder, aus generalpräventiven Gründen, also zur Abschreckung, seien harte Strafen nötig.Schritte gegen die Stadt HamburgIm Januar 2018 wurden sechs Klagen beim Verwaltungsgericht gegen die Stadt eingereicht, um juristisch klären zu lassen, dass mehrere Versammlungsverbote und Polizeieinsätze gegen Demonstrant*innen rechtswidrig waren. Dabei geht es unter anderem um die Protestcamps in Entenwerder und Altona. In Entenwerder hatte die Polizei eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung ignoriert, womit laut der anwaltlichen Vertretung der Anmelder*innen ein „eklatanter Rechtsbruch“ und „ein Putsch der Exekutive gegen die Judikative“ zu konstatieren waren. Das Protestcamp im Altonaer Volkspark reichte Klage ein, da es wegen massiver Schikanen seitens der Polizei nicht wie geplant durchgeführt werden konnte.Auch im Zusammenhang mit einer Blockadeaktion an der Außenalster wird gegen den Polizeieinsatz geklagt. Die Polizei hatte die Demo nicht ordnungsgemäß aufgelöst, sondern sie ohne Vorankündigung mit Schlagstöcken und Pfefferspray gewaltsam beendet. Mit drei weiteren Klagen will Attac die Rechtswidrigkeit der allgemeinen Demoverbotszone feststellen lassen.Außerdem klagen mehrere Personen gegen ihre Ingewahrsamnahme am Rande der Abschlussdemo am 8. Juli 2017 am Millerntor. Eines der Verfahren wurde Anfang Juni gewonnen. Das Gericht hat das Gewahrsam insgesamt für rechtswidrig erklärt.Delegitimierung von ProtestDie Repressionen gegen Linke im Zuge der G20-Prozesse zielen auf die Einschränkung und die Delegitimierung von Protesten. Die Hamburger Polizei nutzt die Fahndung nach „Straftätern“, um sich politisch in Szene zu setzen, ihr eigenes brutales Vorgehen gegen Demonstrant*innen zu rechtfertigen und mehr Befugnisse für sich selbst zu fordern. Unter anderem in diesem Zusammenhang werden aktuell Polizeigesetze in mehreren Bundesländern verschärft. Um tatsächliche Strafverfolgung geht es dabei nur am Rande. Zudem hat im Zusammenhang der G20-Ereignisse die Diskussion um „linksextremistische Gewalt“ bundesweit wieder verstärkt Einzug in öffentliche Debatte gehalten, was antifaschistischen Protest und emanzipatorische soziale Bewegungen kriminalisiert.„United We Stand“Seit dem G20-Gipfel gibt es monatliche Kundgebungen vor der JVA Billwerder; in zahlreichen Städten fanden Infoveranstaltungen und Solikneipen statt, und es wurden unzählige Briefe an die G20-Gefangenen geschrieben. Die Repression im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G20-Gipfel trifft einzelne Personen, doch zielt sie auf die Kriminalisierung und Einschüchterung jeglicher emanzipatorischer Politik und aller emanzipatorischen Strukturen. Umso wichtiger ist es, sich von der Repression nicht spalten zu lassen sondern solidarisch die Betroffenen zu unterstützen.Der Text basiert auf der im Juli 2018 erscheinenden Broschüre „Dissenz NoG20 — Antirepression, Reflektion, emanzipatorische Praxis“ und wurde für die Lotta gekürzt und überarbeitet. Weiterlesen könnt ihr auf unitedwestand. blackblogs.orgAktuelle Entwicklungen nach Redaktionsschluss:Am 27. Juni gab es erneut Hausdurchsuchungen in verschiedenen Städten. Von den vier festgenommenen Personen aus dem Raum Frankfurt am Main befinden sich zwei noch in U-Haft. Auch in Göttingen gab es eine Durchsuchung, die mit der Anwesenheit der Person bei den G20-Protesten in Hamburg begründet wurde. Peinlich für die Polizei: Es stellte sich heraus, dass die Person zu dem Zeitpunkt gar nicht in Deutschland war.Außerdem wurden mehrere Beschwerden gegen die Gefangenensammelstelle gewonnen. Das Landgericht Hamburg erklärte in mehreren Fällen den Polizeigewahrsam und einzelne Haftbedingungen (Ganzkörperkontrolle, offene Tür bei Toilettengang) für rechtswidrig.
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Versuchte Vereinnahmung durch die extreme Rechte | Die „Gelbe Westen“-Bewegung in Frankreich
Ein Symbol ging um die Welt: Das Tragen von gelben Warnjacken ist bei sozial oder ökonomisch motivierten Protesten aktuell nahezu weltweit zu beobachten. Die Initiative dazu kam aus Frankreich. Den Anlass zu Unmut und Protest bot dort eine zum damaligen Zeitpunkt angekündigte, inzwischen (jedenfalls für 2019) stornierte Spritsteuer-Erhöhung. Von Anfang an waren auch Rechte beteiligt.Dagegen richtete sich ein doppelter Protest, der aus zwei unterschiedlichen Milieus kam und kommt. Einerseits meldete sich ein generell steuerfeindlicher, in der Tradition der „Steuerrebellen“ unter Pierre Poujade stehender Mittelständlerprotest zu Wort, der in keiner progressiven Tradition steht. Poujades Partei, die UDCA („Union zur Verteidigung der Geschäftsleute/Ladeneigentümer und Handwerker“) war von 1953 bis 1956 erfolgreich war. Als damals jüngster Abgeordneter der UDCA zog bei den Parlamentswahlen vom 2. Januar 1956 übrigens ein gewisser Jean-Marie Le Pen in die französische Nationalversammlung ein. Auf der anderen Seite wies die im Herbst 2018 gestartete Protestbewegung eine stärker „sozial“ geprägte Komponente auf, deren ProtagonistInnen auf mehr „Steuergerechtigkeit“ statt auf die generelle Infragestellung von Besteuerung setzten.Dieser Doppelcharakter drückt sich darin aus, wie sich unterschiedliche Teile der französischen WählerInnenschaft zu dem Protest stellten. In einer Umfrage, die am 30. November 2018 publiziert wurde, zeigte dieser sich am stärksten in zwei unterschiedlichen Wählergruppen verankert: Deutliche Unterstützung zeigten auf der einen Seite 68 Prozent der Wählerschaft des extrem rechten Rassemblement national (RN, diesen Namen trägt seit dem 1. Juni 2018 der frühere Front National) und 65 Prozent der WählerInnen des rechtsbürgerlichen, EU-feindlichen Nationalisten Nicolas Dupont-Aignan von der Kleinpartei Debout la France (DLF, in etwa: „Stehe auf, Frankreich“). Auf der anderen Seite äußerten 45 Prozent der WählerInnen des Linkssozialisten und Linksnationalisten Jean-Luc Mélenchon ihre aktive Unterstützung. Unter mehreren möglichen Antworten stellte „Unterstützung“ dabei die stärkste mögliche positive Antwort dar. Insgesamt vereinigten die positiven Antwortn, die von „Verständnis“ über „Sympathie“ bis „Verständnis“ reichten, über 70 Prozent aller Antworten auf sich.Unterstützung von rechten PolitikerInnenZunächst waren es die RN-Chefin Marine Le Pen und Nicolas Dupont-Aignan von DLF, die als erste SpitzenpolitikerInnen ab der vorletzten Oktoberwoche lautstark ihre Unterstützung für die im Internet angekündigten Verkehrsblockaden ab dem 17. November 2018 bekundeten. Erst ab Anfang November verkündeten auch andere Berufspolitiker wie der Konservative Laurent Wauquiez (Les Républicains, LR) und Jean-Luc Mélenchon als Chef der linkspopulistischen Wahlplattform La France insoumise (LFI) ihre Absicht, sich zum Protest anzuschließen. Zwar achteten Parteien wie der RN und DLF darauf, dass sie sich keine plumpe „Vereinnahmung“ (récupération) der Protestbewegung vorwerfen lassen mussten, wofür politische Parteien oft kritisiert werden.Deswegen verzichteten ihre AktivistInnen auch darauf, mit Parteiabzeichen oder -fahnen erkennbar aufzutreten. De facto jedoch waren beide vor allem in der Anfangsphase der Bewegung stark vertreten. Als es etwa am ersten landesweiten Protesttag am 17. November in Etaples-sur-Mer (am Ärmelkanal) zu einem Auffahrunfall mit einem PKW an einem Verkehrsblockadepunkt kam, bei dem ein örtlicher Kommunalpolitiker verletzt wurde, stellte sich heraus, dass es sich um einen Mandatsträger des RN handelte, Francis Leroy. Als Parteifunktionär bei Debout la France aktiv ist Frank Buhler, der Ende Oktober sowie nach dem 17. November 2018 zwei der mobilisierungsträchtigsten Videos der Bewegung in den sozialen Medien verbreitete. Besonders pikant ist, dass Buhler zuvor die Mitgliedsrechte beim damaligen Front National auf Zeit entzogen worden waren, nachdem er rassistische Witze bei Facebook veröffentlicht hatte, welche die Partei als kontraproduktiv bewertete.Zu einem späteren Zeitpunkt und an anderen Orten waren jedoch eher linke Kräfte vertreten. Die extreme Rechte in Frankreich macht nicht die Substanz der Protestbewegung aus und initiierte sie auch nicht. Doch sie hängt sich an die Proteste an und versucht, darüber Politik zu machen.Politisch heterogenAus diesem faktischen politischen Crossover-Phänomen resultierte auch die anfänglich sehr erhebliche Skepsis der französischen Gewerkschaften. Doch im Laufe der Wochen trat dann eine gewisse Änderung ein, da sich vor allem auf regionaler Ebene viele gewerkschaftliche Strukturen – etwa Kreisverbände der CGT – in die Proteste vor Ort einklinkten.Bis zum Schluss wies die Protestbewegung jedoch beide Facetten auf. An militanten Auseinandersetzungen mit der Polizei sowie Ausschreitungen, wie sie mehrfach - am stärksten am 1. und 8. Dezember 2018 - im Zentrum von Paris stattfanden, beteiligten sich sowohl militante Faschisten aus außerparlamentarischen extrem rechten Gruppen, etwa dem Bastion Social (hervorgegangen aus dem GUD – Groupe Union Défense, einer 1969 gegründeten, ursprünglich studentischen militanten Gruppe), und Monarchisten der traditionsreichen Gruppierung Action française als auch Angehörige autonomer und anarchistischer Strömungen. Beide Spektren arbeiteten keineswegs zusammen, sondern wurden parallel zueinander ohne jegliche Absprache oderKoordination aktiv.Linksradikale attackierten darüber hinaus am 1. Dezember den rechtsextremen Kader Yvan Benedetti innerhalb einer Demonstration und warfen ihn zu Boden. Hinzu kamen Gelegenheitsrandalierer und Plünderer, die oft zum ersten Mal im Leben an einer Demonstration teilnahmen, sich vom Aktionsfieber anstecken und dann erwischen ließen. Anlässlich der Eilprozesse, die etwa am 3. und 10. Dezember in Paris gegen Teilnehmer an Plünderungen stattfanden, waren vor allem Angehörige der letztgenannten Gruppe vertreten.Sprecherkollektiv der „Gelben Westen“Ab dem 26. November 2018 verlieh die „Gelbe Westen“-Bewegung sich ein offizielles Sprecherkollektiv aus acht Personen sowie einen Forderungskatalog aus 42 Punkten, der sozial progressive sowie steuerfeindliche, auch im Sinne von Unternehmen ausfallende, Forderungen miteinander vermischt und vermengt. Von den acht Personen – deren Legitimität, für die Protestbewegung zu sprechen, vor allem in West- und Südfrankreich schnell in Frage gestellt wurde – hat die Mehrheit einen eher rechten denn progressiven Vorlauf.Der 35-jährige LKW-Fahrer Eric Drouet, mittlerweile einer der bekanntesten Köpfe, verbreitete etwa im Frühsommer 2018 im Internet mehrfach einwanderungsfeindliche Kommentare. Anfang Januar 2019 entspann sich eine breite öffentliche Polemik um seine Positionen: Zunächst hatte der Linksnationalist Jean-Luc Mélenchon sich am 2. Januar positiv auf ihn bezogen und erklärt, von Drouet „fasziniert“ zu sein. Daraufhin behauptete der bürgerliche Fernseh-Starjournalist Jean-Michel Aphatie, Eric Drouet sei 2017 ein bekennender Wähler von Marine Le Pen „in beiden Durchgängen der Präsidentschaftswahl“ gewesen. Dies habe er mehrfach in den sozialen Medien gelesen, fügte er auf Nachfrage später hinzu. Allerdings dementierte Drouet alsbald, und zwei Tage später behauptete der Sender BFM TV, er habe vielmehr Mélenchon gewählt – was zutreffen mag oder auch nachträglich konstruiert sein kann, um nicht in eine „rechte Ecke“ gedrängt zu werden oder um sich für das öffentliche Lob Mélenchons zu revanchieren.Unterdessen gehen Medienkommentare etwa beim liberalen Wochenmagazin L’Express davon aus, Aphathie habe Drouet und einen anderen Sprecher der Bewegung, den 31-jährigen Leitarbeiter Maxime Nicolle alias „Fly Rider“, miteinander verwechselt. Was Nicolle betrifft, so ist auch dessen persönliches Wahlverhalten nicht bekannt, doch ist gesichert, dass er bei Facebook wiederholt Pressemitteilungen von Marine Le Pen mit einem „Like“ versah. Er trat auch wiederholt als Liebhaber von Verschwörungstheorien hervor.Neben Drouet und Nicolle zählt auch die schwarze Karibikfranzösin Priscillia Ludosky, eine 39-jährige Therapeutin, zu den bekannteren Gallionsfiguren der Protestbewegung. Sie war politisch zuvor ein unbeschriebenes Blatt, hat allerdings ein eher progressives und jedenfalls nicht rassistisches Profil. Aufgrund eines 14-tägigen USA-Aufenthalts Anfang Dezember verlor sie zwar zeitweilig de faco ihren Status als führende Exponentin der Bewegung, bei den Pariser Demonstrationen am 15. Dezember 2018 und am 5. Januar 2019 nahm sie jedoch eine zentrale Position ein.Polarisierungsstrategie stärkt die RechtenDie nicht zutreffende Darstellung der Proteste als insgesamt extrem rechts entwickelte sich unterdessen, vor allem seit dem Jahreswechsel 2018/19, zum Argument für einen Teil der gesellschaftlichen Eliten (etwa in bürgerlichen Medien) und das Regierungslager, um die „Gelbe Westen“-Bewegung insgesamt zu diskreditieren. Ein weiterer, mit Bestimmtheit negativer Nebenaspekt dieser Polarisierungsstrategie besteht darin, dass die extreme Rechte in vieler Menschen Augen zur „wichtigen und für die Regierung gefährlichen Oppositionskraft“ aufgewertet wird.Für den 18. Januar 2019 rufen nun prominente Vertreter der außerparlamentarischen extremen Rechten – wie der Berufs-Antisemit Alain Soral (Gründer der 2007 entstandenen Gruppierung Egalité & réconciliation, „Gleichheit und Aussöhnung“), der bekannte Holocaustleugner Hervé Ryssen sowie Jérôme Borbon von der 1951 gegründeten alt- und neofaschistischen Wochenzeitung Rivarol zu einer Großveranstaltung in Paris unter dem Titel „Gelbe Westen: die kommende Revolution“ auf. Dabei handelt es sich um einen offenen Versuch des Andockens an die Protestbewegung und deren Vereinnahmung. Dann wird sich zeigen, wieviel Aufmerksamkeit die extrem rechten ProtagonistInnen damit gewinnen können.
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Nur kosmetische Nachbesserungen | Massive Verschärfung des Polizeigesetzes NRW
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Das Internet ist an allem schuld? | Eine Einleitung in den Schwerpunkt
Nach mehr als zwölf Jahren wieder ein Schwerpunkt über das Internet und die extreme Rechte? Es wurde Zeit, denn seither hat sich das Internet und seine Nutzung stark gewandelt. Schon der Titel unserer Ausgabe #23 verdeutlicht dies: „Bits, Bytes, Neonazis?“ nannten wir den Schwerpunkt damals. Und obwohl auch 2006 schon in Gigabytes gerechnet wurde, war von „Big Data“ im allgemeinen Sprachgebrauch noch ebenso wenig die Rede wie von Facebook. Das derzeit (noch?) erfolgreichste soziale Netzwerk öffnete sich erst im September 2006 für die Allgemeinheit. Das erste Smartphone, das iPhone von Apple, wurde Anfang 2007 auf den Markt gebracht. Zwar gab es auch Mitte der 2000er Jahre schon Social-Media-Plattformen und -Netzwerke, beispielsweise Myspace, StudiVZ oder auch YouTube, und Antifaschist_innen registrierten aufmerksam, wie diese Dienste von Neonazis genutzt wurden. Aber diese Plattformen waren nicht dermaßen stark in den Alltag von einer so großen Zahl von Menschen integriert, wie es Facebook, Twitter und Instagram heute sind.Für die extreme Rechte ist das Internet alles andere als „Neuland“ — sie nutzt es seit langem als Kommunikationsmittel der politischen Propaganda, zur Mobilisierung zu Aktionen und der Organisierung von Sympathisant_innen und adaptiert die jeweiligen Veränderungen und neuen Möglichkeiten mal mehr, mal weniger erfolgreich.Unsere These ist, dass der aktuelle Rechtsruck auch mit der Art und Weise zusammenhängt, wie die extreme Rechte das „world wide web“ nutzt. Damit soll dem Internet nicht die Schuld für die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung zugesprochen werden — die Lage ist komplexer. Die technischen und kulturellen Funktionsweisen der Social-Media-Plattformen tragen aber erheblich zum Erfolg der extremen Rechten im Netz bei. Deren Geschäftsmodelle und die daraus resultierende Aufmerksamkeitsökonomie begünstigen emotionalisierte, Angst und Abwehr verstärkende Inhalte und schaffen Echokammern, die Selbstbestätigung anstelle von Debatte fördern. Auch eine Ästhetisierung von Politik, wie sie für Teile der extremen Rechten prägend ist, wird durch Medien wie Instagram begünstigt.Wie auf diese Entwicklung von antifaschistischer Seite reagiert werden sollte, dafür kennen wir auch kein Patentrezept. Es scheint, als seien die Social-Media-Plattformen ein schlechter Ort für Politiken, die sich Diskurs, Nachvollziehbarkeit und Rationalität zum Ideal nehmen. Dieses für die gesellschaftlichen Debatten so relevante Feld weitgehend kampflos der extremen Rechten zu überlassen, kann aber auch keine Option sein.Den Schwerpunkt eröffnen Jörn Malik und Jan-Henning Schmitt mit einem Artikel, der umreißt, wie die extreme Rechte aktuell das Internet zur Verbreitung von Propaganda, zur Mobilisierung und zur Organisierung nutzt.Andrea Becker zeigt, wie extrem rechte AkteurInnen beispielsweise bei Twitter versuchen, ihre Inhalte im Kampf um die Aufmerksamkeit mit Hilfe der Algorithmen reichweitenstark zu platzieren.Über das relativ neue Phänomen der extrem rechten YouTuber, von denen einige ein großes Publikum erreichen, schreibt Mark Breuer.Anhand von Instagram zeigt Nora Hinze, wie die Identitäre Bewegung für Jugendliche attraktive und den Regeln des Mediums folgende Propaganda verbreitet. Ein Fokus liegt dabei auf den verbreiteten Geschlechterbildern.Sonja Brasch und Sebastian Hell zeichnen nach, wie sich die Online-Medienarbeit von Neonazis professionalisiert und differenziert hat.
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Profilneurotiker mit Selfiestick? | „YouTube“ als Plattform extrem rechter AktivistInnen
Die Video-Plattform „YouTube“ hat für die Online-Strategien der extremen Rechten hohe Bedeutung. Nahezu sämtliche extrem rechten Organisationen und Zeitschriften betreiben auf der Plattform eigene Kanäle. Immer mehr Rechte fühlen sich zudem dazu berufen, als „YouTuber“ selbst regelmäßige Videos zu veröffentlichen.Zunächst vor allem zur Präsentation von Rechtsrock und NS-Propagandavideos genutzt, wird über YouTube mittlerweile versucht, „alternative Medienangebote“ zu etablieren. Diese sind häufig durch die Verbreitung von Halbwahrheiten und Lügen, vor allem über Migration und Islam, gekennzeichnet. Die Inhalte gehen oftmals mit verschwörungsideologischen Ansichten und antisemitischen Bezügen einher. Die Zahl dieser Kanäle ist kaum zu überblicken. Der Algorithmus von YouTube sorgt dafür, dass dem User automatisch weitere ähnliche Videos gezeigt werden. Auch im Falle extrem rechter Propaganda kann so schnell ein fast unaufhörlicher Fluss entstehen.Attraktiv für politische Propaganda wird die zum Google-Konzern Alphabet gehörende Plattform durch ihre Beliebtheit nicht zuletzt bei Kindern und Jugendlichen. Laut einer Studie des Verbands Bitkom aus dem Jahr 2017 nutzt bereits jedes zweite Kind im Alter von 10 und 11 Jahren regelmäßig YouTube, 76 Prozent der 16- bis 18-jährigen posten ab und zu selbst ein Video. 36 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen bezeichnen einen YouTuber als ihren Lieblingsstar. Videos von diesen auch als „Influencer“ bezeichneten YouTube-„Stars“ erreichen regelmäßig Millionen Menschen. Sie zeigen Ausschnitte aus ihrem Privatleben, bieten Tipps und Ratschläge sowie nicht selten Produktwerbung oder kommentieren aktuelle — virtuelle wie nicht-virtuelle — Geschehnisse.Selbstdarstellung als Erfolgsmodell?Im Oktober 2018 gewann der Film „Lord of the Toys“ der Filmemacher Pablo Ben Yakov und André Krummel den Preis für den besten deutschen Langfilm des Leipziger Festivals DOK. Die Dokumentation begleitet einige YouTuber um den Dresdener Max Herzberg, der die Kanäle „AdlerssonPictures“ und „AdlerssonReview“ betreibt. Auch Herzberg sendet teilweise live Geschehnisse aus seinem Leben und postet Produkttestberichte. Ein Großteil seiner Follower sind jugendlich. Der 22-Jährige hat Reichweite — seinem „Review-Kanal“ folgen beinahe 290.000 Menschen, dem anderen Kanal knapp 190.000.Seine Videos bei „AlderssonPictures“ brachten ihm die Kritik ein, mit NS-Inhalten zu spielen, rassistische und sexistische Äußerungen zu verbreiten und damit zu deren Normalisierung beizutragen. Aus diesen Gründen kritisierte das Aktionsnetzwerk Leipzig nimmt Platz anlässlich der Preisverleihung die Machart des Films. Ohne kritische Einordnung kämen extrem rechte Personen zu Wort, in der Premiere hätten antisemitische Sprüche und „Witze“, für Lacher gesorgt. Andere Sichtweisen, etwa Betroffenenperspektiven, fehlten ebenso wie eine kritische Einordnung der Verbindungen Herzbergs zur Identitären Bewegung (IB), insbesondere zu Alexander Kleine aus Leipzig.Von laut gelacht zu „Laut gedacht“Alexander Kleine ist selbst ein — weniger erfolgreicher — YouTuber. Als „Malenki“ postet er Videos zur Imkerei und zum Umgang mit Waffen, vor allem aber von IB-Aktionen. Rechte User bekommen somit bei Herzberg Spaß, bei Kleine hingegen Politik geboten. Letzterer ist Leiter der IB in Leipzig und betreibt zusammen mit Philip Thaler (Kontrakultur Halle) seit 2016 das YouTube-Projekt „Laut gedacht“. Am 29. November 2018 veröffentlichte „Malenki“ auf seinem eigenen Kanal ein vierzigminütiges Gespräch mit Max Herzberg, in dem es um dessen Wahrnehmung der Debatte um „Lord of the Toys“ ging. Im Intro bezeichnete Kleine Herzberg als „unpolitische Person“, die „politisch unkorrekt“ sei und „keinen Bock“ habe, „sich von Linken irgendwas vorschreiben zu lassen.“ Unter dem Video wiesen mehrere User darauf hin, dass Herzberg seinen Gesprächspartner „feature“ und mit seiner Popularität dem IB-Aktivisten zu weitaus mehr Reichweite verhelfe, als dieser sonst erreiche. Das Video wurde bei YouTube mehr als 74.000 mal aufgerufen. „Malenkis“ Kanal hat knapp 7.900 Abonnent_innen, seine Videos werden zumeist kaum mehr als 10.000 mal geklickt.Das Format „Laut gedacht“ hingegen verfügt über 30.900 Abos. Es hat den Anspruch, wöchentlich zu erscheinen, bislang sind mehr als 100 Folgen online. Der Kanal ist Sprachrohr der „Identitären“. Die Macher versuchen mit ihrem „hippen“ Auftreten Jugendliche anzusprechen, beispielsweise wenn sie einer Folge den Titel „Alex Gauland bester Mann“ verpassen. Auch ist das Format aufgrund der Kürze der Folgen zugänglicher als die halbstündigen Wohnzimmer- oder Autofahrt-Monologe vieler anderer rechter YouTuber. Den mehrheitlich aus der Generation der „digital natives“ bestehenden „Identitären“ liegt diese Art der Propaganda. Doch auch andere IB-YouTuber wie Leonard Fregin („Operation Fregin“, 9.682 Abos) verfügen nicht über die Reichweite von Martin Sellner, dem Kopf der österreichischen IB, mit seinen über 80.000 Abos und insgesamt 12 Millionen Klicks.„Für die Eigenen“Eine noch größere Resonanz erreicht Timm Kellner alias Tim K. aus Horn-Bad Meinberg (Kreis Lippe/NRW). Seinem Kanal, in dem er die Themen der extremen Rechten bedient, folgen über 100.000 Menschen. Kellner ist eine illustre Gestalt: Obwohl als Polizist tätig, ging er auf Tuchfühlung mit dem Rocker-Milieu, wurde wegen Körperverletzung verurteilt und vom Dienst suspendiert. Er verfasste ein Buch, in dem er sich als Opfer einer Polizei-Intrige darstellt und gründete 2015 den 1%-Motorradclub Brothers MC mit. 2017 trennten sich der MC und er, seitdem firmiert Kellner als Präsident des Chapter Brothers MC Salt City, das in seiner Heimatstadt über ein Clubheim verfügt. Kellner legt Wert darauf, dass er einen deutschen Club führt, in dem nur Menschen „aus dem westlichen Kulturkreis, keine Migranten, keine Moslems“ Mitglied werden können.Seine Karriere als rechter Online-Aktivist startete Anfang 2016 mit Äußerungen zu den sexualisierten Übergriffen in der Silversternacht in Köln und der Ankündigung des Brothers MC, künftig zum Schutz von Frauen zu patrouillieren. Im April 2018 trat Kellner erstmals auf einer Demonstration in Hannover als Redner auf. Es folgte ein Auftritt am 29. August 2018 in Chemnitz, wo er erklärte, das „komplette System muss rückabgewickelt werden“. Dort stellte er auch seine „Sammlungsbewegung“ Für die Eigenen — Die Liste vor: Was Sahra Wagenknecht auf der linken Seite mache, wolle er auf der konservativen umsetzen.Reportagen aus „besetztem Gebiet“Ein weiterer reichweitenstarker YouTuber ist Nikolai Nerling (58.498 Abos). Unter dem Namen „Der Volkslehrer“ wendet er sich vor allem an die Neonaziszene, Verschwörungsfans und das Pegida-Umfeld. Bekanntheit erlangte er aufgrund eines arbeitsrechtlichen Verfahrens: sein Arbeitgeber, das Land Berlin, kündigte dem Lehrer an einer Grundschule in Gesundbrunnen, da ihm Verstöße gegen die demokratische Grundordnung vorgeworfen wurden. Das Verfahren läuft noch. Hohen Stellenwert haben Inhalte, die der „Reichsbürger“-Ideologie zuzuordnen sind. In einer Episode besucht er die US-Air-Base Ramstein in Rheinland-Pfalz und stellt anhand ihrer Existenz fest, dass Deutschland „immer noch“ besetzt sei. Das Video endet mit der Texteinblendung: „Auf ein baldiges Ende unserer Gefangenschaft“.Wie auch andere rechte YouTuber stellt sich Nerling in seinen Videos häufig als vermeintlich neutraler Beobachter dar, was durch seinen Ansatz, ruhig, bedacht und etwas naiv aufzutreten, verstärkt wird. Ein Grund für seine Popularität, die mitunter den Neid von anderen Personen aus der Reichsbürgerszene auf ihn lenkt, liegt darin, dass er für Reportagen seine Wohnung verlässt und seinem „Interessensgegenstand“ persönlichen Besuch abstattet. So drehte Nerling ein langes, vermeintlich dokumentarisches Video über das „Schild und Schwert“-Festival 2018 in Ostritz und führte Interviews mit Die Rechte-Funktionären wie Sascha Krolzig oder Michael Brück. Insbesondere die Solidarität mit HolocaustleugnerInnen hat es ihm angetan. Am 10. November 2018 trat er in Bielefeld auf der Solidaritätsdemonstration für Ursula Haverbeck sogar als Redner auf.Dass YouTube-Formate auch für die Neonaziszene wichtiger geworden sind, zeigte sich im September 2018, als Die Rechte und Frank Krämer ein Video einer „Podiumsdiskussion“ produzierten, an der neben den beiden Kadern Alexander Deptolla und Krolzig auch Philipp vom YouTube-Kanal „Orwellzeit“ teilnahm. Letzterer erzählte, dass er seit 2015 Videos drehe. Er sei dann „auf die Wahrheit gestoßen“ und radikaler geworden. Nun verbreitet er biologistische Rassentheorien und Podcasts mit Titeln wie „Juden und unsere Eugenik“.„Der dritte Blickwinkel“Der im Rhein-Sieg-Kreis lebende Frank Krämer ist ein Beispiel für einen langjährig aktiven Neonazi aus der Kameradschaftsszene, der nun auf YouTuber macht. Sein Kanal „Der dritte Blickwinkel“ verfügt über 10.000 Abos. Er zeigt keinerlei Berührungsängste zu anderen YouTubern und nutzt Gespräche mit diesen zur Verbreitung neonazistischer Ideologie. Er geriert sich dabei als sachlich argumentierender Nationalist, propagiert aber offen Rassentheorien und bezeichnet den Nationalsozialismus als historisches Beispiel eines wünschenswerten, nicht-kapitalistischen Wirtschaftssystems.Besondere Aufmerksamkeit erregte Krämer durch die Zusammenarbeit mit dem schwarzen Videoblogger Nana Domega. Sie erstellten mehrere Videos zum Thema „Multikulturalismus vs. Nationalismus“, die sie als Versuch bezeichneten, einen Dialog zwischen grundsätzlich anderen gesellschaftspolitischen Meinungen zu führen. Die unkritische Herangehensweise Domegas ist dabei haarsträubend.Vernetzung und WerbungAuffällig ist der rege Austausch und die gegenseitigen Verweise dieser YouTuber untereinander: Hagen Grell (67.000 Abos) interviewt den „Volkslehrer“, dieser wiederum trifft sich mit Frank Krämer zum Gespräch. So entsteht ein selbstreferenzielles Netzwerk. Auch der IB-Kanal „Laut gedacht“ geht auf diese Art vor. So wurde im Januar 2017 der YouTuber Miró Wolfsfeld aus Köln vorgestellt. Dieser plädierte dafür, „libertäre Gedanken“ verstärkt mit „identitären Kreisen“ zu vernetzen und bewarb seinen Kanal „Unblogd“ (27.048 Abos). Wolfsfeld revanchierte sich im August 2018 mit einem Video über das „Europa-Nostra-Festival“ der IB in Dresden. Dort interviewte er vor allem Thaler und Kleine, die wiederum „Laut gedacht“ bewarben.Die kommerziell erfolgreichsten YouTube-Stars aus dem Mainstream können von ihren Videos gut leben, wobei sie eher weniger an der Beteiligung an den Werbeeinnahmen als durch Sponsoring und Product Placements verdienen. Auch die extrem rechten YouTuber versuchen, mit ihren Videos Spenden zu akquieren und ihre Produkte zu verkaufen: Krämer bewirbt die CDs seiner RechtsRock-Band Stahlgewitter, die über seinen Sonnenkreuz Versand zu beziehen sind, Sellner die neuen T-Shirts seines IB-Versands Phalanx Europa. Kellner kurbelt den Verkauf seiner Bücher an. Die Selbstvermarktung nimmt ähnlich viel Raum ein wie der politische Anspruch.
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Die Achse Marburg — Schnellroda | Veranstaltung mit Alain de Benoist in Marburger Burschenhaus
Am 24. November 2018 veranstaltete die „Marburger Burschenschaft Germania“ ein besonderes Stelldichein: Sie lud den französischen Publizisten und Vordenker der sogenannten Neuen Rechten Alain de Benoist (75) nach Marburg ein. Anhand der Veranstaltung lässt sich erneut festmachen, wie wichtig die Burschenschaften für die völkische Vernetzung in Deutschland sind.Die Einladung kam überraschend über die sozialen Netzwerke: Alain de Benoist, einer der meistzitierten Publizisten im „neurechten“ Spektrum, kommt zu einer Vortragsveranstaltung nach Marburg. Eigentlich hätte der Event still und abseits der Öffentlichkeit ablaufen sollen. Die Veranstalter hatten darum gebeten, die Einladung nicht im Internet zu verbreiten. Zwei Wochen vor der Veranstaltung geschah dies dennoch.Benoist trat schon häufiger bei Studentenverbindungen in Deutschland auf. 2003 war er als Festredner bei der Deutschen Gildenschaft eingeladen, 2009 sprach er bei einem Seminar des Rechtsaußenflügels der Deutschen Burschenschaft (DB), der Burschenschaftlichen Gemeinschaft. Er gilt als „Eminenz“ im rechten Lager. Der ehemalige Rechtsterrorist gründete mit seinem Weggefährten Dominique Venner Ende der 1960er Jahre den ersten neofaschistischen Thinktank, das Groupement de Recherche et des Etudes pour la Civilisation Européenne (GRECE), das wegweisend für die Entwicklung der „Neuen Rechten“ in Deutschland war. Das deutsche Pendant, das Kasseler Thule-Seminar von Pierre Krebs ist mittlerweile bedeutungslos. An seine Stelle ist das Institut für Staatspolitik (IfS) getreten.Benoists Bücher und Texte waren geraume Zeit in Vergessenheit geraten und nur einem kleinen Publikum bekannt. Das hat sich mit der laufenden Rechtsentwicklung stark verändert, und so war es eine Frage der Zeit, wann er wieder in Deutschland auftreten würde. Dass dies nun bei der Germania geschehen ist, wirkte auf den ersten Blick überraschend, ist aber bei näherer Betrachtung nicht verwunderlich. Neben Benoist waren der Marburger Bursche und Verlagsinhaber Philip Stein sowie der Autor Benedikt Kaiser als Redner angekündigt.Kaiser, der über Benoists 2013 verstorbenen Weggefährten Dominique Venner referierte, veröffentlichte kürzlich mit Benoist und dem italienischen Autor Diego Fusaro in Steins Verlag Jungeuropa den Band „Marx von Rechts“, zu dem Stein persönlich das Vorwort beisteuerte. Die Marburger Veranstaltung kann damit auch als Werbemaßnahme für den Verlag verstanden werden. Vor allem aber ging es Kaiser und Stein darum, ihre Thesen zur von ihnen so bezeichneten „Mosaikrechten“ zu verbreiten, zu einer rechten Bewegung, die zwar zersplittert sei, sich aber angesichts des Zeitgeistes zusammenfinden solle.„Burschenschaft Germania“ als NetzwerkerSpätestens mit der Übernahme des Vorsitzes der DB im Jahr 2014 stellte sich die Marburger Burschenschaft Germania als Kaderschmiede für die entstehende rechte Sammlungsbewegung auf (vgl. Lotta #60, S. 33-35). Der Dachverband stand damals nach seiner Spaltung vor einer Sinnkrise und musste sich neu ausrichten. Der parlamentarische Erfolg der AfD war für die Burschen mit dem braunen Schmuddelimage eine willkommene Gelegenheit, um dem eigenen Handeln wieder Sinn zu verleihen und sich als Elite für den „Volksaufstand“ von PEGIDA und Co zu imaginieren. Einer der Drahtzieher dieser Entwicklung war Philip Stein, der bis heute als Pressesprecher für den Dachverband auftritt.Stein baute außerparlamentarisch Strukturen mit auf und unterstützte Götz Kubitschek im IfS. Er wurde Leiter der Spendensammelorganisation Ein Prozent und gründete in Dresden seinen eigenen Verlag, in dem er faschistische Literatur aus mehreren europäischen Ländern verlegt. Derweil halfen seine „Bundesbrüder“ beim Aufbau der AfD-Fraktionen in den Parlamenten. Torben Braga in Thüringen und Robert Offermann in Hamburg sind nur einige Beispiele für Mitarbeiter in AfD-Landtagsfraktionen.Auch bei der Identitären Bewegung haben sich die Marburger Burschen einen Namen gemacht, sogar so sehr, dass das IB-Führungspersonal nahezu komplett der Germania angehört. Patrick Bass liefert als Rapper den Identitären ihren Soundtrack, Heinrich Mahling ist Regionalleiter der IB Hessen, vertrat die Burschen mit einem Stand beim „Kongress: Verteidiger Europas“ im österreichischen Aistersheim und arbeitete als Praktikant beim IfS. Schnellroda sei für ihn das „rechte Siliconvalley“, fabulierte er nach der „Sommerakademie 2018“ in einem Video auf YouTube.Die Bünde der DB sind aber nicht nur personell eine Ressource für die völkische Bewegung, sie bieten auch unkündbare Räume für Veranstaltungen, wie unter anderem die Veranstaltung mit Benoist zeigt. Auch die „neurechte“ Messe „Zwischentag“ fand zweimal auf Burschenhäusern statt, nachdem die Mietverträge für die angedachten Hallen gekündigt worden waren, beispielsweise am 6. September 2014 in Bonn (vgl. Lotta #57, S. 26—28) . Über ihr Verbandsblatt Burschenschaftliche Blätter (BBl) wirbt die „Neue Rechte“ für ihre Produkte und Ideen — und bittet um die finanzielle Unterstützung durch „Alte Herren“.Im elitären und intimen RahmenDie Vernetzung in die diversen Spektren der völkischen Bewegung zeigte sich auch an den Teilnehmenden am 24. November in Marburg. Ein großer Teil des Publikums bestand aus Burschenschaftern und Mitgliedern anderer Studentenverbindungen. Kader der Identitären reisten aus ganz Deutschland an, beispielsweise Freya Honold und Aline Catinca Manescu aus Dresden und Volker Zierke aus dem Kreis Plön (Schleswig-Holstein). Der Umgang miteinander wirkte vertraut.Auch Vertreter neonazistischer Parteien fanden sich ein. Neben der hessischen JN nahm eine Delegation des Der III. Weg teil, darunter deren Bundesvorstandsmitglied Matthias Herrmann (Vgl. Lotta #60, S. 22—24) und der bayrische Aktivist Martin B., die vor Ort Pressevertre-ter_innen anpöbelten.In den letzten Jahren waren die „Burschen“ der Marburger „Germania“ zwar überregional sehr aktiv beim Aufbau einer völkischen Bewegung, in Marburg selbst sind sie aber eher unbedeutend. Mit der Veranstaltung haben sie die extreme Rechte in die mittelhessische Idylle geholt und damit der städtischen Zivilgesellschaft unmissverständlich in Erinnerung gerufen, mit wem diese es zu tun hat. Mit über 150 Teilnehmenden war wohl das Maximum der Kapazitäten „auf“ dem Haus der „Germanen“ erreicht. Sicherlich hätte man mit Benoist als Referenten und der mit einem Burschenhaus verbundenen Planungssicherheit sowie kostenlosem Eintritt weitaus mehr Leute anziehen können. Die Veranstaltung war — trotz einer 400-köpfigen Gegendemonstration, die mehrheitlich auch von der Stadtverordnetenversammlung unterstützt worden war — ein Happening und eine Selbstvergewisserung für die eigene Szene. Im elitären und intimen Rahmen sollte der innere Zusammenhalt gestärkt und den Teilnehmenden ein Gefühl der Zusammengehörigkeit vermittelt werden.
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Falscher Gegensatz | Identitätspolitik und Klassenkampf müssen sich keineswegs ausschließen
Seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten ist eine Argumentation weit verbreitet. Demnach habe sich die Linke in den letzten Jahren nur auf die Anliegen von Minderheiten konzentriert. Soziale Ungleichheit und deren Bekämpfung sei aus dem Blick geraten. Kurz: Identitätspolitik habe den Klassenkampf abgelöst. Diese Entwicklung habe schließlich auch den Aufstieg der Ultrarechten beflügelt, wenn nicht sogar ausgelöst.Diese Kritik kommt aus unterschiedlichen politischen Lagern: Der rechtsliberale Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der mit seiner These vom „Ende der Geschichte“ in den 1990er Jahren für einiges Aufsehen gesorgt hatte, vertritt sie in seinem neuen Buch „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ (2018). Aber auch Leute wie der Showmaster Bill Maher, die Philosophin Nancy Fraser und der Soziologe Zygmunt Bauman haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder dieser Argumentationsfigur bedient. Linke Politik solle sich, fordert etwa auch der Politologe Mark Lilla, Autor des vielbeachteten Buches „The Once and Future Liberal: After Identity Politcs“ (2017), wieder Anliegen widmen, die „einem Großteil der Bevölkerung am Herzen liegen“. Denn diese Themen würden nun von den Rechten besetzt, was sich bitter gerächt hätte. Auch im deutschsprachigen Raum mehren sich die Stimmen, die behaupten, die Auseinandersetzung um Identitätspolitiken — also etwa das Eintreten für Feminismus, Homosexuellenrechte, „Black Lives Matter“ — hätte die Beschäftigung mit Ausbeutung und sozialer Ungleichheit ersetzt.Doch zum Proletariat, das mit der Wahl Donald Trumps angeblich Rache übte, gehört nicht nur der weiße Rust-Belt-Arbeiter, sondern auch die afroamerikanische Uber-Fahrerin, die lateinamerikanische Pflegerin sowie die Asian American im Call-Center. Angesichts des immer noch gewaltigen Gender und Racial Pay Gap müssten beispielsweise Afroamerikanerinnen eigentlich sogar die allerersten Adressatinnen für rechtspopulistische Arbeitskampfrhetorik sein. Doch die von Trump hat bei ihnen nicht verfangen, 94 Prozent der Schwarzen Frauen wählten Hillary Clinton. „Niemand vermochte je zu begründen, warum gerade jene, die die New Economy am gründlichsten abgehängt hatte — nämlich die schwarze und die hispanischstämmige Arbeiterschaft –, sich nie zu Trumps Anhängern gesellten“, schreibt Ta-Nehisi Coates an die KritikerInnen der Identitätspolitik. Der Gegensatz von Identitätspolitik und Klassenkampf ist also falsch. Er verkürzt nicht nur die komplexen politischen Verschiebungen der Gegenwart auf eine einfache Formel, sondern er lässt sich auch historisch nicht halten.Der Vorwurf ist nicht neuDie Kritik an der Identitätspolitik ist letztlich so alt wie die linke Identitätspolitik selbst. Am berühmten „Hauptwiderspruch“, also der kapitalistischen Ausbeutung, mit dessen Beseitigung sich auch alle anderen Unterdrückungsformen ganz von selbst in Wohlgefallen auflösen würden, arbeitet sich insbesondere die feministische Kritik schließlich seit bald 150 Jahren ab. Doch bei dieser ausschließenden Gegenüberstellung des Kampfes um soziale Anerkennung versus des Kampfes gegen soziale Ungleichheit werden die vielen — praktischen wie theoretischen — Verknüpfungen von Politiken der Anerkennung kultureller Differenzen mit jenen gegen soziale Ungleichheit übersehen: Die US-BürgerInnenrechtsbewegung in den 1960er Jahren richtete sich gegen Armut ebenso wie gegen Rassismus, die feministische 1970er-Jahre-Forderung nach Lohn für Hausarbeit verknüpfte Anerkennungs- und Umverteilungsanliegen, seit den 1990er Jahren treten indigen geprägte Bewegungen in Lateinamerika gleichermaßen für die Anerkennung „traditionellen Wissens“ und für ein „gutes Leben“ (buen vivir) für alle ein. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.Mit dem Vorwurf, die Identitätspolitiken hätten die Thematisierung von Klassengesellschaft und Ausbeutung verdrängt, wird darüber hinaus so getan, als ginge es bei Identitätspolitiken nicht auch um ernsthafte linke Anliegen wie Gleichberechtigung, Partizipation, Umverteilung und Befreiung. Identitätspolitik ist ja immer die Reaktion auf einen spezifischen Ausschluss: Frauen gehen in der Kategorie Klasse nicht auf, Women of Colour haben andere Diskriminierungserfahrungen als weiße Frauen und so weiter. Insofern ist linke Identitätspolitik eine Inklusionspolitik. Sie zielt darauf ab, möglichst viele Unterdrückungsformen zu fassen.Sie tut dies überdies nicht aus purer Freude an der Differenz. Schließlich sind kollektive Identitäten immer Konstruktionen: Sie entstehen aus Selbstzuschreibungen wie auch aus den Zuschreibungen durch andere. Diesen Benennungen von außen lässt sich nicht leicht entfliehen: Wer als Frau ausgegrenzt oder als Schwarze diskriminiert wird, kann eben nicht einfach sagen, dieser Kategorie fühle ich mich gar nicht zugehörig. Diskriminierung und Exklusion verlaufen immer über kollektive Kategorien. Daher muss auch der Kampf gegen sie sich manchmal wohl oder übel auf diese Kategorien beziehen. Identitätspolitik ist in diesem Sinne eine notwendige Strategie.Identitätspolitik der ArbeiterInnenbewegungDiese Strategie ist übrigens keineswegs nur von Frauen oder ethnischen Minderheiten angewandt worden. Auch die ArbeiterInnenbewegung, also die wichtigste Akteurin im Kampf gegen soziale Ungleichheit, war eindeutig eine identitätspolitische Bewegung. Schließlich sind all jene praktischen wie theoretischen Versuche, unter den Lohnabhängigen (und über sie hinaus) ein Klassenbewusstsein zu formieren, Formen von Identitätspolitik: Auch hier ging es nicht zuletzt darum, dass die Einzelnen sich kollektiv über die Arbeit und über ihre Klassenposition identifizierten. Gemeinsamkeiten sollten betont, Ähnlichkeiten — Identität kommt vom Lateinischen idem, das heißt gleiches, dasselbe — hervorgehoben werden. Von Lenin über Georg Lukács, von Rosa Luxemburg zu Antonio Gramcsi sind die Texte der TheoretikerInnen der ArbeiterInnenbewegung voll von Gedanken darüber, wie ein kollektives Bewusstsein über die Gemeinsamkeiten der Klasse hergestellt werden könnte und sollte.Diese Gemeinsamkeiten waren zudem nicht bloß Kopfsache: Es ging nicht allein ums Klassenbewusstsein, sondern auch um die alltägliche Praxis. Menschen fühlten sich als Teil einer Gruppe — und wurden von anderen so wahrgenommen —, weil sie Kneipenbesuche und Mitgliedschaften in Sportvereinen, Waschküchen und Hinterhöfe miteinander teilten. Linke Identitätspolitik gibt es also nicht erst seit den 1960er oder gar den 1990er Jahren und sie ist auch nicht auf ethnische, geschlechtliche und sexuelle Minderheiten beschränkt.Überkreuzungen von UnterdrückungDie linken Identitätspolitiken der 1960er Jahre entstanden schließlich aus den Erfahrungen verschiedener Menschen, in den wichtigsten Kategorien — allen voran jener der Arbeiterklasse — nicht vorzukommen. Übersehene und ausgegrenzte Erfahrungen von Diskriminierung und Ausbeutung sollten benannt und sichtbar gemacht werden. Auch solche Kämpfe gab es schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts, insbesondere von Seiten der Frauenbewegungen. In den 1970er Jahre gewannen sie erneut an Schärfe. Und es kam die Einsicht auf, dass sich die verschiedenen Unterdrückungserfahrungen durch die patriarchale Ordnung, durch die Ausbeutung der Klassensubjekte und die Ausgrenzung und Diskriminierung ethnischer Minderheiten gegenseitig durchkreuzen. Nach diesen Überkreuzungen mussten sich schließlich auch die Kämpfe ausrichten.Das Combahee River Collective, eine Gruppe Schwarzer lesbischer Frauen, formulierte es in einem Text von 1977 so: „Gemeinsam mit Schwarzen Männern kämpfen wir gegen Rassismus, während wir gleichzeitig wegen Sexismus gegen Schwarze Männer kämpfen.“ Als Proletarierinnen und Lesben kämen für sie aber noch weitere Marginalisierungserfahrungen hinzu. Die einzelnen Kämpfe ließen sich kaum voneinander trennen: „Wir finden es oft schwer, rassistische, klassistische und sexistische Unterdrückung zu unterscheiden, weil wir sie in unseren Leben oft gleichzeitig erleben.“ An diesem Gedanken gilt es auch heute wieder anzuknüpfen. Er zielt auf Erweiterung der Perspektiven und auf Inklusion bislang Ausgegrenzter, nicht auf Segregation.Die vielstimmige Anklage gegen die vermeintliche Schwächung der Linken durch Identitätspolitiken blendet diese Geschichte völlig aus. Und auch im Hinblick auf die Gegenwart ist sie falsch: Ob nun in der SPÖ oder bei Labour oder der brasilianischen PT — wenn innerhalb der parlamentarischen Linken die soziale Frage vernachlässigt wurde, dann aufgrund neoliberaler Paradigmenwechsel und keineswegs deshalb, weil sie durch die identitätspolitischen Scharmützel von Splittergruppen ersetzt worden wäre. Für das 9,6-Prozent-Debakel der SPD bei der letzten Wahl in Bayern ist also die Debatte zum vielgescholtenen Transgenderklo definitiv nicht verantwortlich.Problematische IdentitätspolitikenSicherlich ist nicht jede Identitätspolitik von links per se emanzipatorisch. Sie ist es vor allem dann nicht, wenn sie zur inhaltsleeren, essentialisierenden Repräsentationspolitik verkommt. Wenn also die Legitimität einer Aussage sich nicht mehr am Argument und der Positionierung misst, sondern an Hautfarbe oder vermeintlich feststehender Gruppenzugehörigkeit. Problematisch ist Identitätspolitik auch dann, wenn sie als Immunisierungsstrategie gegen Kritik missbraucht wird, wenn also jede Kritik etwa an der antisemitischen Nation of Islam als Rassismus gegenüber Schwarzen abgeblockt wird. Genauso wenig soll geleugnet werden, dass identitätspolitische Kleinkriege schon viel Kraft und Geschlossenheit gekostet haben und sie sich mitunter auch in eitlen Distinktionskämpfen erschöpfen.Aber unterm Strich bildet die identitätspolitische Kritik von Minderheiten dennoch gerade die Stärke und eben nicht die Schwäche linker Bewegungen. Denn sie will Marginalisierungen überwinden und Minderheitenpositionen integrieren, um so gemeinsam für größere Gerechtigkeit für immer mehr Menschen einzutreten. Die identitätspolitische Kritik an gesellschaftlichen Ausschlüssen und Asymmetrien ist mitnichten bloß eine Schwäche, die zu Fragmentierungen und Zerwürfnissen führt, sondern sie ist auf lange Sicht gerade die Stärke linker Bewegungen. Nicht Spaltung ist also das Ziel, sondern vielmehr das, was vermeintlich verhindert wird: Solidarität.
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„Diese Gerechtigkeit kommt spät, allzu spät“ | Ein Kommentar zum Stutthof-Prozess in Münster
Mit der Aussetzung des Prozesses endete Mitte Dezember 2018 der Versuch einer juristischen Aufarbeitung der Verbrechen im Konzentrationslager Stutthof vorerst ergebnislos. Der wegen Beihilfe zum hundertfachen Mord angeklagte ehemalige SS-Mann Johann R. aus dem Kreis Borken ist inzwischen nicht mehr verhandlungsfähig. Anfang 2019 soll nach erneuten medizinischen Gutachten über die Fortsetzung beziehungsweise Wiederaufnahme des Prozesses entschieden werden.Ab dem 6. November 2018 wurde vor dem Landgericht Münster einer der letzten Prozesse gegen ehemalige SS-Wachmänner eines Vernichtungs- und Konzentrationslagers geführt. Im November 2017 hatte die zur Verfolgung von NS-Verbrechen in NRW zuständige Staatsanwaltschaft in Dortmund Anklage gegen Johann R. und einen weiteren ehemaligen SS-Wachmann des KZ Stutthof erhoben. Das Verfahren gegen den zweiten Angeklagten aus Wuppertal wurde aber vor Prozessbeginn abgetrennt, da noch nicht endgültig entschieden war, ob der Angeklagte verhandlungsfähig ist.Viele Jahre vor Strafverfolgung geschütztMöglich wurde diese Anklagen durch das sogenannte „Demjanjuk-Urteil“ aus dem Jahr 2011. Damals wurde erstmals von der bundesdeutschen Justiz ein KZ-Wachmann für seine Tätigkeit im Lager wegen Beihilfe zum Mord verurteilt, obwohl ihm individuell keine konkrete Tat zugeordnet und nachgewiesen werden konnte. Das Landgericht München urteilte, dass er schon durch seine reguläre Wachtätigkeit im Konzentrationslager die Morde mit ermöglicht habe, somit Teil der NS-Vernichtungsmaschinerie und auch Täter war.Auch wenn das Urteil aufgrund des Todes des Angeklagten John Demjanjuk nie rechtskräftig wurde, kippte das Münchener Landgericht damit eine Rechtsauffassung, die 65 Jahre lang viele Täter*innen vor Strafverfolgung geschützt und ihnen ein Leben als unbescholtene Bürger*innen und einen ruhigen Lebensabend ermöglicht hatte.Das galt auch für den heute 95 Jahre alten Johann R.: Nach dem Krieg heiratete er, gründete eine Familie, promovierte, wurde Direktor einer Fachschule für Gartenbau und ging mit 65 Jahren in Rente. Eine deutsche Karriere wie so viele – ohne Reue, ohne Übernahme von Verantwortung, ohne Strafe.Eine Lebenslüge vor GerichtAuch weil die allermeisten NS-Täter*innen nach dem Krieg unbehelligt davon kamen, ist dieser Prozess für die insgesamt 17 Nebenkläger*innen, Betroffenen und ihre Angehörigen aus vielen Teilen der Welt so wichtig. Für sie bedeutet er eine „allzu späte“ Gerechtigkeit, wie es eine Nebenklägerin zum Prozessauftakt ausdrückte. Für die Opfer und Überlebenden ist dieser Prozess schmerzhaft, lässt er doch vieles wieder aufleben und konfrontiert sie erneut mit der Gleichgültigkeit, mit der die deutsche Gesellschaft und Justiz ihnen in den letzten 70 Jahren überwiegend begegnet sind.Johann R. zeigte vor Gericht keinerlei Bereitschaft, sich seiner Verantwortung zu stellen. Nachdem ein historisches Gutachten vorgelegt worden war, das die letzten Zweifel an den Zuständen im KZ Stutthof ausräumte, ließ der Angeklagte am 13. November durch seinen Verteidiger, Rechtsanwalt Andreas Tinkl, eine Erklärung verlesen. In dieser Erklärung ging es vor allem um sein eigenes Schicksal. So sei 1942 er nach seiner Einberufung zum Wehrdienst als „nicht fronttauglich“ eingeschätzt und nach kurzer Ausbildung bei der SS in das Lager versetzt worden. Das historische Gutachten legte jedoch dar, es habe in diesem Zeitraum in solchen Fällen keine belegbaren Zwangsrekrutierungen für die SS gegeben. Ein strittiger Punkt, der im Prozess nicht abschließend geklärt wurde. Gesichert ist jedoch, dass Johann R. von Juni 1942 bis September 1944 Mitglied der Wachmannschaft des KZ Stutthof war. Da er damals zwischen 18 und 21 Jahre alt war, wurde vor dem Landgericht Münster nach dem Jugendstrafrecht verhandelt.R. stritt in seiner Erklärung zwar nicht ab, dass in Stutthof Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden, wies aber jedwedes Wissen davon und jedwede Verantwortung dafür von sich. Er habe als Wachmann lediglich das Lager bewacht und Gefangene zu Arbeitseinsätzen begleitet. Von den systematischen Misshandlungen und Tötungen will er nichts mitbekommen haben. Lediglich die katastrophalen hygienischen Zustände in Stutthof und die schlechte Verfassung der Gefangenen habe er bemerkt. Dass er persönlich nie Zeuge von Tötungshandlungen gewesen sei, hatte R. bereits 1974 in einer Zeugenaussage gegenüber der Polizei geäußert, wie „Die Welt“ herausfand. Damals war er mit dieser Aussage davon gekommen.Doch jeder, der als Teil der SS-Mannschaften im KZ Stutthof eingesetzt war, hat die dort verübten Verbrechen sehen können, so die Überzeugung der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage. Deshalb beantragten die Nebenklagevertreter*innen direkt zu Prozessbeginn, dass das Gericht mit allen Prozessbeteiligten eine Ortsbegehung des KZ-Geländes durchführen sollte.Vor dem Landgericht Münster stellte sich Johann R. ausschließlich als Opfer dar: Ihm wäre das Schicksal der Gefangenen nicht gleichgültig gewesen, der Umgang mit ihnen wäre für ihn als „christlich erzogenen Menschen“ schwer zu ertragen gewesen. Aber aus Angst vor disziplinarischen Maßnahmen hätte er sich dazu nicht geäußert und auch nichts dagegen unternommen. Ein Nazi will er trotz seines jahrelangen Dienstes bei der SS nie gewesen sein, das erklärte er bei seiner Aussage mehrfach mit Nachdruck.Nur ihre Pflicht erfüllt?Es sind Worte und Haltung des Angeklagten, die fassungslos und wütend machen. Fassungslos ob der Dreistigkeit, mit der R. und seine Verteidiger die systematischen Verbrechen in Stutthof ausblendeten. Obwohl sie die Taten nicht bezweifelten, versuchten sie ein Bild des Konzentrationslagers zu zeichnen, in dem Gräueltaten nicht allgegenwärtiger Teil des Systems und seines perfiden Konzeptes gewesen wären, sondern still und heimlich von einem kleinen verschworenen Teil der SS begangen worden wären. Im Gegensatz zu diesen echten Nazis soll der Rest der Lagermannschaft dann nur ihre Pflicht getan und sich weder schuldig noch ideell zu Mittäter*innen gemacht haben. Wie diese arg- und schuldlose Pflicht in einem Konzentrations- und Vernichtungslager ausgesehen haben soll, wurde in dieser Erzählung freilich nicht erläutert.Mord an Zehntausenden MenschenIn Stutthof sind Zehntausende Menschen ermordet worden: Sie wurden mit einer Genickschussanlage hingerichtet, mit Injektionen vergiftet, vergast, erschlagen, im Winter vor den Baracken erfrieren gelassen, durch Arbeit bis zum körperlichen Zusammenbruch getötet und auf Todesmärsche getrieben. Zeitzeug*innen berichten davon, dass die Toten von der SS reihenweise vor die Baracken gelegt wurden. Dass jemand, der mehrere Jahre dort eingesetzt war, von all dem nichts mitbekommen haben will, ist schlichtweg unvorstellbar.Im Prozess in Münster legten der Angeklagte und seine Verteidiger Wert darauf, dass R. von der Existenz der Gaskammer, die 1944 dort errichtet wurde, nichts gewusst habe. Unabhängig von der Glaubwürdigkeit dieser Aussage: Macht es einen Unterschied, auf welche Weise Menschen ermordet wurden? Als wäre eine Genickschussanlage, das Erfrieren lassen oder die tödliche Arbeit im Lager keine Formen des industriellen Massenmordes gewesen.Des Weiteren ließ R. durchblicken, er hätte Stutthof als reines Strafgefangenen- und Arbeitslager verstanden, vornehmlich für politische Gefangene, von jüdischen Gefangenen will er nur wenig bemerkt haben. Als wäre es weniger Unrecht gewesen, wenn die Nazis ausschließlich ihnen politisch missliebige Menschen erniedrigt, gefoltert und ermordet hätten. R. versuchte hier auf perfide Art und Weise, die Opfer des Nationalsozialismus in Klassen einzuteilen und gegeneinander auszuspielen. Er rechtfertigt damit implizit Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wenn diese im vermeintlich legalen Rahmen des Regimes verübt worden wären.Keine Entschuldigung, keine ReueWütend macht auch die allzu bekannte Täter-Opfer-Umkehrung des Angeklagten. Die Zustände im Lager waren katastrophal, das ist vielfach belegt. Das verschwieg Johann R. auch gar nicht. Er bedauerte sich aber vor allen Dingen selbst. Der Gestank der Krematorien wäre „allgegenwärtig und unerträglich“ gewesen, gab er zu Protokoll. Er sprach von seiner Angst vor dem Krieg und den Schwierigkeiten, die Gräuel im Lager zu verarbeiten. Davon, dass er sich heute dafür schämt, wobei er doch von nichts gewusst haben will und für nichts verantwortlich gewesen sein möchte.Das zeigte sich auch am Beginn seiner Erklärung. Es müsse im Prozess allein um die Frage nach seiner individuellen Schuld, nicht um die Schuld „des Systems“ gehen. Letztere sei freilich unbestritten, so sein Verteidiger. Ein bekanntes Muster, mit dem eine ganze Generation von Täter*innen versucht hat, sich ihrer Verantwortung zu entziehen. Schuld war ein System, vielleicht eine kleine Riege von Verbrechern, vielleicht ein einzelner charismatischer Führer, aber niemals die Millionen, die ihnen nur zu gerne gefolgt sind und die Tausenden, die die Ideologie der Vernichtung gnadenlos in die Tat umgesetzt haben. Unerwähnt bleiben die im Verhältnis wenigen, aber dennoch vielen, Aufrichtigen, die sich unter Einsatz des eigenen Lebens dem NS-Regime verweigert, entzogen oder dagegen Widerstand geleistet haben – davon will man dann lieber nichts hören und flüchtet sich in Allgemeinplätze, die diese Option schlichtweg verleugnen.Was in Johann R.s Erklärung komplett fehlte: eine Entschuldigung. Mit keinem Wort richtete er sich an die Überlebenden, ihre Angehörigen oder die Angehörigen der Ermordeten. Kein Wort der Reue, keine offene Auseinandersetzung mit den eigenen Taten und der daraus resultierenden Verantwortung.„Zu wenig, zu spät“Einige der Nebenkläger*innen haben zu Beginn des Prozesses die Öffentlichkeit gesucht. Sie sagten, dass es ihnen nicht um eine „harte“ Strafe für Johann R. ginge, sondern darum, dass seine persönliche Verantwortung für die in Stutthof begangenen Verbrechen festgestellt wird. So ließ Marga Griesbach, die das KZ Stutthof überlebte, durch ihren Anwalt Mehmet Daimagüler mitteilen, dass sie vor allem nicht verstehen könne, warum über Jahre nichts oder wenig unternommen wurde, um die Täter*innen zur Verantwortung zu ziehen. Jetzt noch die wenigen, sehr alten Angeklagten vor Gericht zu bringen, sei „zu wenig und zu spät“. Trotzdem sei es für sie wichtig, dieses Verfahren noch zu erleben. Heute werde wieder die Shoa geleugnet, würde wieder gegen Minderheiten gehetzt, so die Überlebende. Da müssten Gerichtsprozesse wie dieser Zeugnis über die im KZ Stutthof verübten Verbrechen ablegen.Marga Griesberg überlebte die Konzentrationslager der Nazis, doch ihren damals sechs Jahre alten Bruder sah sie in Stutthof das letzte Mal. Er wurde von ihr getrennt, nach Auschwitz deportiert und dort unmittelbar nach der Ankunft in einer der Gaskammern ermordet.Auch die Überlebende Judith Meisel fragte in ihrer Prozesserklärung, warum die deutsche Justiz sieben Jahrzehnte für diese Anklage gebraucht habe. Die Gerechtigkeit käme zu spät. Judith Meisel wurde als Zwölfjährige mit ihrer Familie ins Ghetto gesperrt. Die Zustände dort seien schrecklich gewesen, aber trotzdem sei sie nicht darauf vorbereitet gewesen, was sie danach im KZ Stutthof erlebte, ließ sie über ihren Anwalt verlesen. „Ich erlebte die Hölle, eingerichtet und exekutiert von der SS. Der Tod wurde zum alltäglichen Gefährten“, so Judith Meisel.Ein Rad im Getriebe der Vernichtungsmaschinerie.Johann R. war eines der zahlreichen Räder im Getriebe dieser nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie. Ein Verbrechen bis dato unvorstellbaren Ausmaßes, das nur gelingen konnte, weil es von Menschen wie ihm mitgetragen und mit begangen wurde. Diese Menschen tragen eine Mitschuld an Mord, Folter und Entrechtung. Sie müssen sich ihrer Verantwortung stellen. Das ist die zentrale Botschaft der späten Prozesse gegen die KZ-Wachmannschaften. Und sie ist unabhängig davon, welches Strafmaß das Gericht letztendlich festlegt oder ob der greise Angeklagte seine Strafe überhaupt noch wird antreten können.Diese Prozesse hätten – wie so vieles in der Aufarbeitung der NS-Verbrechen – schon vor Jahrzehnten stattfinden müssen. Dennoch ist es richtig, sie jetzt noch durchzuführen. Es ist eine späte Form der Aufarbeitung, der Anerkennung von Mitschuld und Verantwortung, der Wiedergutmachung für die Betroffenen und ihre Angehörigen. Letzteren Raum zu geben und zuzuhören muss deshalb auch ein zentrales Anliegen im Prozess sein.In den beiden Stutthof-Prozessen ist es jedoch wahrscheinlich, dass die beiden Angeklagten nicht mehr verhandlungsfähig werden und die all zu späte juristische Aufarbeitung so ins Leere laufen wird.
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„...und die Jugendkultur fördern” | Neonazismus in Dortmund — ein aktueller Überblick
Dortmund ist nach wie vor bundesweit eines der attraktivsten Ziele für Neonazis, weiterhin ziehen zahlreiche Neonazis in die Ruhrgebietsstadt. Nach dem Verbot des „Nationalen Widerstands Dortmund“ (NWDO) hat sich die Szene nicht nur in der Partei „Die Rechte“ reorganisiert. Auch neue Gruppen sind entstanden.Rechte Gewalt hat in Dortmund seit 2000 fünf Todesopfer gefordert. Immer wieder kommt es zu Einschüchterungsversuchen, konkreten Bedrohungssituationen und Übergriffen auf politische Gegner_innen. Dass Dortmund den Ruf hat, eine Nazihochburg zu sein, liegt aber vor allem an den bundesweiten Mobilisierungen zu Großaufmärschen. Der wichtigste war jahrelang der sogenannte „Nationale Antikriegstag“, der 2008 seinen Höhepunkt mit zirka 1.200 Teilnehmenden erreichte. Mit der Ausrichtung des „Tags der Deutschen Zukunft“ 2016 und dem Start der Kampagne zum „Europa erwache“-Aufmarsch am 14. April 2018 versuchen die lokalen Strukturen an die Tradition der Großaufmärsche des im August 2012 verbotenen NWDO anzuknüpfen.Die Dortmunder Neonazi-Szene verfügt über eine gefestigte Struktur und Kontinuitätslinien. Ihre Ursprünge reichen bis Anfang der 1980er Jahre zurück. Bereits in den 2000er Jahren nahmen Dortmunder Neonazis eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung des Konzeptes der „Autonomen Nationalisten“ ein. „Aktivisten“ der ersten Stunde waren Dennis Giemsch aus Herdecke, Dietrich Surmann aus Hamm sowie der gebürtige Dortmunder Alexander Deptolla. Insbesondere Letzterer spielt nach wie vor eine zentrale Rolle. Der „Hammerskin“ Deptolla organisiert regelmäßig klandestine Konzerte und gehört zum Orga-Team des „Kampfs der Nibelungen“ (vgl. Schwerpunkt der Lotta #69). Die Übergänge zwischen „parteinahen Strukturen“ und rechten Erlebniswelten wie Fußball, RechtsRock und Kampfsport sind ohnehin fließend. Dass die Dortmunder Neonazis nicht nur bundesweit, sondern auch innerhalb Europas bestens vernetzt sind, ist ebenfalls nicht neu (vgl. Lotta #67).Die Szene entwickelt sich dynamisch. Durch Zuzüge und Knastaufenthalte verändern sich Aufgabenverteilungen, und es deuten sich interne Machtkämpfe an. So zieht sich der viele Jahre führende Neonazi-Kader und Betreiber des Webhosting-Dienstes logr.org Dennis Giemsch immer mehr aus der Öffentlichkeit zurück — offenbar aus privaten Gründen. Michael Brück hat nicht nur den Sitz im Rat der Stadt Dortmund und den Versandhandel von Giemsch übernommen, sondern fungiert auch als Anmelder von Versammlungen.„Nationale Freiräume erkämpfen“Rund um den Wilhelmplatz in Unterdorstfeld ist den Neonazis teilweise eine Verankerung im sozialen Nahraum gelungen. Ihre angestrebte Hegemonialstellung können sie jedoch abseits der wenigen Straßen um ihre Wohngemeinschaften nicht aufrecht erhalten, sie propagieren aber einen „Raumkampf“ um die Vorherrschaft im Stadtteil. Fester Bestandteil der lokalen Szene-Infrastruktur sind die seit über zehn Jahren in unterschiedlicher Besetzung bestehenden Wohngemeinschaften in den Häusern Emscherstraße 2 und Thusneldastraße 3. Die Räumlichkeiten dienen nicht nur zahlreichen Neonazis als Meldeadresse, sondern auch als Anschrift der Zeitschriften N.S.Heute und Reconquista sowie als Sitz des Bundesverbands von Die Rechte. Sie werden auch als Veranstaltungsorte genutzt, selbst ein Bundesparteitag von Die Rechte fand hier bereits statt. Die Proklamation Dorstfelds als „Nazi-Kiez“ übt eine große Anziehungskraft auf Neonazis aus. Dieses Image wird, beispielsweise über einen großen Artikel in N.S. Heute, regelrecht vermarktet. Dorstfeld ist vielfach die erste Anlaufstelle für Neonazis, die eine Unterkunft nach ihrer Haftentlassung benötigen, so auch aktuell für Matthias Drewer.Ausbau der InfrastrukturOffenbar verfügen die Neonazis über genügend finanzielle Mittel, so dass der vor einigen Jahren aus Ahlen (Kreis Warendorf) zugezogene Matthias Deyda 2017 ein Haus mit mehreren Wohneinheiten und einem Anbau in Dorstfeld kaufen konnte. Mit dem Haus „In der Siepenmühle 15“ stehen Räumlichkeiten mit Übernachtungsmöglichkeiten für auswärtige Neonazis bei Großveranstaltungen oder Aufmärschen zur Verfügung. Unwahrscheinlich ist, dass das Haus von Deyda selbst finanziert wurde. Finanzielle Zuschüsse erhielten die Neonazis schon zu Zeiten des NWDO über Hans-Jochen Voß, dem Vorsitzenden der NPD Unna/Hamm. Auch Ex-Feuerwehrchef Klaus Schäfer, der schon mehrfach öffentlich als Redner für Die Rechte auftrat, verfügt mit der Pension eines ehemals leitenden städtischen Beamten über entsprechende finanzielle Mittel. Geld dürfte darüber hinaus über Events wie das „Schild & Schwert“-Festival in die Kassen der Dortmunder Neonazis fließen. Bei dem Festival ist das „Kampf der Nibelungen“-Team involviert, zudem ist ein Auftritt der Dortmunder Band Oidoxie um Marko Gottschalk angekündigt. Seit Frühjahr 2016 bildet Brück zusammen mit Axel Thieme von der NPD eine gemeinsame Ratsgruppe, wodurch den Neonazis jährlich weitere 40.000 Euro aus kommunalen Mitteln zur Verfügung stehen.„Dortmunds Rechte“Der Dortmunder Kreisverband von Die Rechte ist bundesweit der mit Abstand aktivste und einflussreichste Verband innerhalb der Partei, die seit 2012 als „schützendes Dach“ für die verbotenen Kameradschaften dient und damit eher Mittel zum Zweck für die Weiterbetätigung ist. An die Parteispitze wurde Anfang April 2018 das Führungsduo Michael Brück und Sascha Krolzig gewählt. Letzterer war Anführer der verbotenen Kameradschaft Hamm, zog dann nach Bielefeld und jüngst nach Dortmund. Er amtiert zudem als NRW-Landesvorsitzender der DR und als „Schriftleiter“ von N.S.Heute. Zuvor hatte der Dortmunder Christoph Drewer fast ein halbes Jahr lang kommissarisch als Bundesvorsitzender fungiert, nachdem der Parteigründer Christian Worch überraschend seinen Posten niedergelegt hatte. Drewer fungiert nun wieder als stellvertretender Bundesvorsitzender.Obwohl Die Rechte nicht parlamentarisch orientiert ist, betrieb sie 2014 einen ernsthaften Kommunalwahlkampf, der ihr mit 1,0 Prozent der Stimmen einen Sitz im Stadtrat bescherte. Dieses Mandat hat aktuell Brück inne, der auch in der Bezirksvertretung (BV) Huckarde als DR-Vertreter sitzt. Weitere Sitze hat sie in den Bezirksvertretungen Scharnhorst (André Penczek), Innenstadt-Nord (Siegfried Borchardt) und Mengede (Thorsten Balzer). Mit Claus Cremer aus Bochum-Wattenscheid hat der Landesvorsitzende der nordrhein-westfälischen NPD eine bezahlte Anstellung als Geschäftsführer der Ratsgruppe gefunden. Das Verhältnis zwischen DR und NPD galt lange Zeit als belastet (vgl. Lotta #50, S. 35), das scheint nun nicht mehr der Fall zu sein. Christoph Drewer unterstützt die Öffentlichkeitsarbeit der Ratsgruppe als „Beauftragter für Außenwerbung”. Die politische Strategie der Neonazis im Rat ist simpel: Jede Möglichkeit der Wortergreifung wird von Brück ausgeschöpft. Mit „Anfragenoffensiven“ — mehrere hundert bislang von den Neonazis eingereichte schriftliche Anfragen — und Klagen wird die Stadtverwaltung beschäftigt. Michael Brück gefällt sich in der Rolle als „Dortmunds gefürchtetster Oppositionspolitiker“. Anfragen und Anträge setzen meist auf einen Provokationseffekt, so fragte die DR bereits nach der Anzahl der Menschen jüdischen Glaubens in den Stadtteilen oder forderte, die Stadt möge anlässlich des „Europa Erwache“-Aufmarsches schwarz-weiß-rote Flaggen am Rathaus hissen.„Aktionsgruppe West“Seit dem Verbot des NWDO hat sich die Szene auch in weiteren Gruppierungen reorganisiert. In einigen Dortmunder Vororten gibt es aktionsorientierte Neonazi-Gruppen mit enger Anbindung an Die Rechte. Die seit 2012 bestehende Aktionsgruppe West (AG West) um Alexander Pentrup ist neben der DR die aktivste Gruppe im Dortmunder Westen. Sie organisiert eigene kleinere Kundgebungen, „Heldengedenken“ und Flyer-Verteil-Aktionen und unterstützte Die Rechte mit Infoständen zur Mobilisierung für den 14. April 2018. Sie durfte sich beim Auftaktkongress der „Europa Erwache“-Kampagne im November 2017 in Schwerte vorstellen. Durch Aktionen und Graffiti versuchen sie, einen rechten Lifestyle in den westlichen Stadtteilen Kirchlinde, Nette, Westerfilde, Marten und Lütgendortmund zu etablieren. Dabei knüpfen sie an das Auftreten der „Autonomen Nationalisten“ an, um attraktive Aktionsformen anzubieten und dadurch neue Mitstreiter und Mitstreiterinnen zu rekrutieren. „Straßenkunst“ und Aktionen aus den Reihen der AG West werden regelmäßig auf dem Blog „Schwarz-Rot-Chrom“ oder dem Webportal „Dortmundecho“ dokumentiert. „Man muss immer interessant sein für jüngere Leute und die Jugendkultur fördern“, ließ sich Deptolla in der N.S. Heute zitieren. Inhaltlich verortet sich die AG West unmissverständlich: „Unsere Antwort ist eine nationale und sozialistische, die auf zwei wesentlichen Dingen fußt: Volksgemeinschaft und Nationalismus.“ Aus den Reihen der AG-West hat es in den vergangenen Wochen vermehrt Angriffe und Bedrohungen gegen Linke gegeben.„Freundeskreis Rechts “Ein weiteres Beispiel für eine relativ junge Gruppe ist der Freundeskreis Rechts, ein Zusammenschluss von Neonazis vor allem aus dem Stadtbezirk Eving. Die Gruppe besteht seit 2016. Ihre Mitglieder sind keine Unbekannten. Sie rekrutieren sich unter anderem aus der ehemaligen Nationalen Front Eving (NFE), es gibt zudem Überschneidungen zur „Neugründung“ der Borussenfront, die allerdings im Stadion keine nennenswerte Rolle mehr spielt (vgl. Lotta #61). Akteure wie Steven Feldmann und Frederic Mantwill, dessen Vater „Aki“ bereits in den 1980er Jahren in der Borussenfront aktiv war, pflegen enge Kontakte zur DR und sind mittlerweile fester Bestandteil der Szene in Dorstfeld geworden. Mantwill meldete beispielsweise in Eving einen Infostand für die Mobilisierung zum „Europa Erwache“-Aufmarsch an. Wie Deptolla wurden sie politisch sozialisiert durch die von Siegfried Borchardt gegründete Borussenfront. In Eving gibt es bereits seit den 1980ern Aktivitäten von Neonazis. Aktuell agitiert die DR dort gegen eine Geflüchtetenunterkunft. Die Facebook-Seite „Nein zum Asylheim in Eving“ hat über 2.600 „Likes“ und verlinkt Artikel der DR.Gestärkte SzeneAbschließend lässt sich festhalten, dass die Szene seit dem Verbot vor sechs Jahren stärker geworden ist. Ihre Infrastruktur ist spätestens mit dem Hauskauf im letzten Jahr wieder hergestellt. Unklar ist noch, inwieweit zugezogene Kader wie Matthias Drewer oder Sascha Krolzig Führungsansprüche erheben und wie sich das auswirken könnte. Insbesondere durch das Konzept „Nazikiez“ übt die lokale Szene eine große Anziehungskraft aus. Sie schafft es immer wieder, neue Leute und Gruppen an sich zu binden und zu integrieren. „Dorstfeld ist nicht bloß eine politische Kampfgemeinschaft, sondern eine Lebensgemeinschaft“, behauptet Krolzig in seiner Zeitschrift. Mit der Etablierung von eigenen Events nehmen die Dortmunder weiterhin auch überregional eine Vorreiterrolle in der sich professionalisierenden neonazistischen Szene in Deutschland ein. Innerhalb der Partei Die Rechte geht bundesweit ohnehin nichts mehr ohne die Dortmunder, die Dortmunder „Doppelspitze“ untermauert dies.
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Der „Silberjunge“ im Höhenflug | Das rechte Netzwerk um Thorsten Schulte und „Pro Bargeld e.V.“
Mit seinem Buch „Kontrollverlust“ schaffte es der Verschwörungstheoretiker Thorsten Schulte auf die Bestsellerlisten in Deutschland und wurde zu einem gefragten Referenten für (extrem) rechte Medien und Parteien. Aus Querfrontbestrebungen in Frankfurt am Main wurde eine rechte Karriere zwischen Ich-AG und AfD.Der 45-jährige gelernte Bankkaufmann Thorsten Schulte arbeitete zwischen 1999 und 2008 als Investmentbanker, unter anderem bei der Deutschen Bank und bei der DZ BANK AG. Er trat 1989 in die CDU ein, um sie im Oktober 2015 „aus Protest gegen die Migrationspolitik Angela Merkels“ zu verlassen. Bei einer Wahlkampfveranstaltung der AfD in Wiesbaden im Februar 2018 erklärte er seinen Beitritt zu der Partei.Bereits im Oktober 2014 war Schulte Podiumsgast auf dem vom extrem rechten KOPP Verlag organisierten „Goldkongress“ in Stuttgart. Dort diskutierte er mit Bruno Bandulet und dem heutigen AfD-Politiker Peter Boehringer (MdB, Vorsitzender des Haushaltsausschusses), mit denen er Ende 2014 das Buch „Insiderwissen Gold“ veröffentlichte. Seine Finanztipps und politischen Ansichten bewirbt Schulte unter dem Spitznamen „Silberjunge“ auf einer Webseite und einem YouTube-Kanal; Abonnements seiner Finanzbroschüren kosten zwischen 59 und 349 Euro im Jahr. Als Medieninhaber und Herausgeber seiner Webseite und seiner Schriften wird die 2011 gegründete Plutos GmbH in Hallein bei Salzburg in Österreich angegeben. Alleinvertretungsberechtigter der Firma ist Günther Riemer, derzeit stellvertretender Vorsitzender der Vereinigung alter Burschenschafter Salzburg der völkischen Deutschen Burschenschaft.Schulte im rechten NetzwerkUm für den „Schutz des Bargeldes“ einzutreten und sich selbst zu vermarkten, gründete Schulte im Juni 2016 den als gemeinnützig anerkannten Verein Pro Bargeld — Pro Freiheit e.V. (PB) mit Sitz in Bautzen. Zur Schriftführerin wurde Hannelore Thomas aus Köln gewählt, Vorsitzende des rechten Ökologievereins Fortschritt in Freiheit e.V. mit Sitz in der Schweiz. Erklärtes Ziel von PB ist es, „den Bürger vor der totalen Überwachung durch den Staat“ zu schützen, die durch die vermeintlich bevorstehende „Abschaffung des Bargeldes“ drohe. Der Verein arbeitet eng mit der gleichgesinnten Münchener Stiftung für Freiheit und Vernunft (SFV) um Dagmar Metzger und Steffen Schäfer zusammen.Querfront in FrankfurtNeben einer Online-Petition startete PB gemeinsam mit der SFV-Untergliederung Stop Bargeldverbot die Kundgebungsreihe „Finger weg vom Bargeld!“ in Frankfurt am Main, die im Mai 2016 startete. Getreu dem „überparteilichen“ Grundsatz des Vereins sprachen dort neben rechten Parteifunktionären wie Joachim Starbatty (Liberal-Konservative Reformer) und Max Otte (WerteUnion der CDU/CSU, Institut für Vermögensentwicklung GmbH) auch Joachim Koehn von der Initiative Neue Geldordnung (NG), die aus der Occupy-Bewegung hervorging. Der Sprecher der NG, Hajo Köhn, war im August neben Schulte und Uli Breuer (Datenschützer Rhein-Main) Podiumsgast bei einer Diskussion im linken Club Voltaire in Frankfurt mit dem Titel „Kampf um das Bargeld — Wo bleiben die Linken?“, woraufhin die NG zur Teilnahme an der nächsten Kundgebung aufrief.Die Querfrontstrategie wurde noch kurzzeitig weiterverfolgt — mit einer Einladung an Sahra Wagenknecht zu der Kundgebungsreihe, die diese allerdings ausschlug. Bei der nächsten Kundgebung im August sprach Schulte von der „Vorantreibung der bargeldlosen Gesellschaft durch eine unheilige Alllianz aus Banken, Finanzministern und der Kredikartenindustrie“. Im Oktober 2016 sprachen auf der letzten Kundgebung neben Starbatty und Metzger außerdem Ulrich Horstmann und Gottfried Heller. Auch wenn die Kundgebungen mit bis zu 200 TeilnehmerInnen nicht den gewünschten Erfolg brachten, wendete sich das Blatt im kommenden Jahr für Schulte.Bestsellerautor bei KOPP2010 hatte Schulte mit „Silber, das bessere Gold“ sein erstes Buch bei KOPP publiziert; 2011 folgte „Vermögen Retten“ mit laut Eigenangaben mehr als 25.000 verkauften Exemplaren. Mit „Kontrollverlust“ ergänzte Schulte im August 2017 seine Finanztipps um eine explizit rechte Botschaft. Im Vorwort beschreibt ihn Willy Wimmer (CDU, MdB 1976-2009) als mutigen Mann, der eine Antwort auf die vermeintliche Bedrohung durch eine „von Soros, Merkel, McCain und Obama gestellte kontinentale Gegenregierung“ habe.Schulte selbst stellt in dem Buch eine rechtslibertäre Verschwörungstheorie auf, in der er das Schreckenszenario einer von Banken und Politik geplanten Diktatur zeichnet, die auf der Abschaffung des Bargeldes gründe. Merkel und die „Politikerkaste“ hätten zudem ein „Migrantenproblem“ geschaffen; Asylsuchende terrorisierten durch Mord, Diebstahl und Vergewaltigung das Land. An dieser Stelle verweist Schulte auf die rassistische Verschwörungstheorie einer angeblichen „Asyl-Industrie“, welche der verstorbene KOPP-Autor Udo Ulfkotte kolportierte. Angesichts angeblicher migrantischer „Terroristen oder im Rudel auftretende[r] Kriminelle[r]“ fordert er ein liberaleres Waffengesetz in Deutschland und die Einführung einer Wehrpflicht nach Schweizer Vorbild.Außerdem vermarktet Schulte seine vermeintliche Finanzexpertise und rät seinem Publikum, größere Mengen Bargeld zu Hause zu horten und vor allem in Silber und in Silberminen zu investieren. Am Ende setzt er die „direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild“ den drohenden „Gefahren einer Weltregierung“ entgegen. Das Buch erreichte im September 2017 Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste.Rezeption im reaktionären ZeitgeistMit „Kontrollverlust“ wurde Schulte zur gefragten Person für (extrem) rechte Medien und Parteien. So wurde er nicht nur von Jasmin Kosubek für Russia Today und von Peter Feist für Compact interviewt, sondern erhielt positive Rezensionen von Ralf Flierl in dessen rechtem Finanzmagazin Smart Investor und von Ludwig Witzani in der Jungen Freiheit. Legitimation verschafften ihm Einladungen zu Sendungen öffentlich-rechtlicher Medien wie Die Diskussion auf Phoenix sowie wohlwollende Artikel in führenden Tageszeitungen wie der FAZ.Im Februar 2018 folgte Schulte Vera Lengsfelds Einladung zu einer Vernetzungskonferenz (extrem) rechter InternetmedienbetreiberInnen in Berlin. Im April 2018 stellte er ein Video zu seiner kurzzeitigen Anstellung als Mitarbeiter der AfD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Alice Weidel, online und witterte hinter seiner Entlassung bei Weidel eine Verschwörung.Schulte ist Teil eines Netzwerks, in dem (extrem) rechte Politik mit der Vermarktung der eigenen Finanzdienstleistungen verwoben ist. Exponierte Personen wie er dürften dabei erhebliche Summen verdienen; zugleich können sie ihre politische Arbeit über einen gemeinnützigen Verein und einen kostenlosen YouTube-Kanal billig betreiben. Angesichts der breiten gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit dieses rechten Netzwerks gilt es für Antifaschist*innen, es nicht zu unterschätzen und ihm eine materialistische Gesellschaftskritik entgegenzusetzen.
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„Niemand kam und fragte: Wie geht es Ihnen?“ | Die Betroffenen des Wehrhahn-Anschlags
Zehn Migrant*innen aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion wurden durch den Bombenanschlag am S-Bahnhof Wehrhahn verletzt, zwei weitere blieben unverletzt — zumindest körperlich. In der öffentlichen Berichterstattung waren und sind sie allesamt kaum wahrnehmbar. Und auch während des Prozesses vor dem Landgericht Düsseldorf spielten sie und ihre Perspektiven nur eine Nebenrolle.Nur dem Zufall war es zu verdanken, dass die Bombenexplosion am 27. Juli 2000 nicht zwölf Todesopfer forderte. Die wenigen Betroffenen, die sich öffentlich über den Anschlag äußern, beklagen, dass sie noch immer unter den Folgen des Anschlags leiden. Und sie kritisieren die mangelnde Unterstützung, die ihnen nach dem Anschlag zuteil wurde.Eine der Betroffenen, die heute öffentlich über die Anschlagsfolgen sprechen, ist Ekaterina P. Gegenüber dem WDR kritisierte sie die Politik: Niemand habe sich nach dem Anschlag für sie interessiert, kein Politiker und auch keine Behörde. Es habe keine Hilfe oder Entschädigung für die erlittenen Verletzungen gegeben. Ekaterina P. war kurze Zeit vor dem Anschlag aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. Wie die anderen Betroffenen auch besuchte sie einen Deutsch-Sprachkurs im Düsseldorfer Stadtteil Flingern. Zuvor hatte sie am Moskauer Handelsinstitut studiert und anschließend als leitende Kauffrau in einem Stoffgroßhandel gearbeitet. Nach dem Bombenanschlag, bei dem sie lebensgefährlich verletzt wurde, bemühte sie sich um Umschulungen, doch das Jobcenter habe ihr damals zu einem Putzjob geraten, so P. gegenüber dem WDR.Ekaterina P. leidet bis heute an den Folgen des Anschlags. Seit zwei Jahren wird sie durch die Opferberatung Rheinland (www.opferberatung-rheinland.de) unterstützt. In dem WDR-Interview wünschte sie sich eine Würdigung ihres Leidens durch die Politik. Nach der öffentlichen Kritik lud das Büro des Düsseldorfer Oberbürgermeisters, Thomas Geisel, sie ins Rathaus ein.Hilfe erhielten einige der Betroffenen bereits unmittelbar nach dem Anschlag durch die Jüdische Gemeinde in Düsseldorf, wie deren Geschäftsführer Michael Szentei-Heise bei einer Veranstaltung im Januar 2018 noch einmal berichtete. Der Rabbiner habe sich um sie gekümmert, unter den Gemeindemitgliedern seien Spenden gesammelt worden. Die Verantwortlichen der Gemeinde hätten die Betroffenen zudem auf deren Wunsch hin von den Medien abgeschottet.Ermittlungen im Opfer-UmfeldAuf der Suche nach einem Motiv für den Anschlag und nach den Täter*innen nahm die polizeiliche Ermittlungskommission auch das Umfeld der Opfer in den Fokus. In welcher Intensität dies geschah, ist unklar. Sicher ist jedoch, dass Theorien überprüft wurden, wonach die Täter*innen aus dem direkten Umfeld der Betroffenen kommen könnten. Eine davon zielte auf eine Eifersuchts- oder Beziehungstat ab. In der Bild erschienen Artikel, in denen auf reißerische Art entsprechende „Beobachtungen“ vermeintlicher Nachbar*innen präsentiert wurden.Eine andere Ermittlungstheorie besagte, dass sich möglicherweise einzelne Betroffene ihren Status als „Kontingentflüchtling“ illegal besorgt und hierfür Schulden bei der „Russenmafia“ oder anderen Strukturen der Organisierten Kriminalität (OK) gemacht haben könnten. Überhaupt scheint sich für die Ermittler*innen nicht erst nach der Einstellung des damaligen Ermittlungsverfahrens gegen Ralf S. im Jahr 2002 die Theorie, dass der Anschlag einen russischen oder polnischen, also osteuropäischen OK-Hintergrund haben könnte, durchgesetzt zu haben, ohne jemals hierzu etwas Brauchbares abliefern zu können.Als Zeug*innen vor GerichtIm Wehrhahn-Prozess war Ekaterina P. eine von fünf Betroffenen, die als Nebenkläger*innen auftraten. Als Zeugin sagte sie nicht aus. Diejenigen drei Betroffenen, die in den Zeugenstand traten, wurden erst am 26. Prozesstag gehört, zwei Prozesstage nach der Entlassung des Angeklagten Ralf S. aus der Untersuchungshaft. Lediglich drei Betroffene sagten als Zeug*innen am 8. Juni 2018 aus: Der 68-jährige Borys V., die 70-jährige Tuti A. und deren 42-jährige Schwiegertochter Naila A.Tuti A. berichtete, dass sie durch die Wucht der Explosion fast über das Geländer der Fußgängerbrücke gestürzt sei. Bei ihr hätten Bombensplitter entfernt werden müssen, zudem sei sie am Knie operiert worden. Ein großer und kleine Splitter hätten sie am Bein verletzt, diese hätten operativ entfernt werden müssen. Damals habe sie Probleme beim Gehen gehabt. Auch heute noch schmerze ihr linkes Bein manchmal. Auch V. erklärte, dass er noch heute Beschwerden habe. Er war durch Bombensplitter lebensgefährlich im Bauchbereich verletzt worden.Als einzige der als Zeug*innen befragten Betroffenen konnte Naila A. auch Angaben zum Angeklagten machen, nachdem sie zuvor ihre Erinnerungen an den Anschlagstag geschildert und über ihre Verletzungen gesprochen hatte. Sie erinnerte sich, den in Camouflage-Uniform Gekleideten häufig in räumlicher Nähe der Sprachschule gesehen zu haben, hin und wieder auch in Begleitung weiterer Personen. Gegen Sprachschüler*innen gerichtete Bedrohungen seien ihr aber nicht bekannt. Gegenüber der Westdeutschen Zeitung äußerte sie sich eher resigniert: „Wir sind nach der langen Zeit gleichgültiger geworden. Man beobachtet das Ganze ruhiger als am Anfang.“ Sie würde es aber begrüßen, wenn der Täter verurteilt werde, sofern man es ihm beweisen könne: „Damit er das nicht wieder machen kann.“„Es bleibt kein ‚In dubio‘“In ihren Abschlussplädoyers zeigten sich die Anwält*innen der Nebenklage von der Täterschaft von Ralf S. überzeugt. Der Nebenklagevertreter Rechtsanwalt Juri Rogner warnte die Kammer davor, im Falle eines Freispruchs „den schwersten Justizfehler in der Geschichte Düsseldorfs zu begehen“. Nebenklagevertreterin Rechtsanwältin Anne Mayer fasste zusammen: „In der Gesamtschau tragen zahlreiche Indizien und Aussagen von Zeugen und Zeuginnen zum Beweis der Täterschaft bei.“ Das Motiv sei „klar“, die Ankündigung der Tat „deutlich“, ebenso die „sorgfältige Vorbereitung auf ein Alibi vor der Begehung der Tat“. Hinzu kämen „die glaubhaften — und mutigen — Aussagen der Zeugen L[…] und P[…].“ Ihr Fazit: „Es bleibt kein ‚In dubio‘.“Der Nebenklagevertreter Rechtsanwalt Michael Rellmann äußerte sich nach der Urteilsverkündung wie folgt: „Das ist kein guter Tag für die Justiz und ein schlechter Tag für die Opfer des Anschlags.“ Diese hätten sich darauf verlassen, dass ein Urteil gefällt würde, was den Umständen und Indizien gerecht geworden wäre. „Das Leben aller ist aus der Bahn geworfen worden“, so Rellmann. Viele der Betroffenen seien heute noch traumatisiert.Gegenüber der Süddeutschen Zeitung forderte Anne Mayer, eine Gedenktafel am Tatort anzubringen und die Geschichte der Betroffenen sichtbar zu machen: „Dann hätten sie immerhin die Gewissheit, nicht völlig vergessen zu werden.“ Dieser Forderung haben sich auch diverse antifaschistische Initiativen aus Düsseldorf angeschlossen. Die Umsetzung der Forderung wird aktuell auf lokalpolitischer Ebene verhandelt.
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„Auf hohem Niveau“ im Kampf gegen das Regime | Die AfD hat eine parteinahe Stiftung gefunden
Mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit verschafften die Delegierten des Parteitages Mitte 2018 der „Desiderius-Erasmus-Stiftung“ (DES) den Status einer parteinahen Stiftung. Vorausgegangen war eine heftige und jahrelange Diskussion über Sinn und Zweck einer Stiftung im Allgemeinen und dieser Stiftung im Konkreten.Fünfeinhalb Jahre AfD sind eine Geschichte der stetigen Radikalisierung. In der Partei geht nichts mehr ohne ihren völkisch-nationalistischen Teil. Die, die sich „gemäßigt“ nennen, sind zum großen Teil so sehr nach rechts gedriftet, dass ein Unterschied etwa zu den Republikanern nicht mehr auszumachen ist. Diese Entwicklungen gehen mit einer Professionalisierung der Strukturen einher.Dazu gehört, dass es immer mehr Parteifunktionäre zu bezahlten Mandaten zieht. Im Bundesvorstand sind nur drei von 14 Mitgliedern noch nicht mit Parlamentssitzen versorgt. Gut möglich, dass die Zahl weiter sinkt, wenn die AfD Mitte November ihre Europa-Kandidaten nominiert. Noch wichtiger aber als die individuelle Absicherung ihrer Funktionäre ist eine Entscheidung, die der Bundesparteitag Mitte des Jahres traf: Die AfD verfügt nun über eine parteinahe Stiftung.In den Monaten vor dem Parteitag sah es lange wie ein Zweikampf aus: Auf der einen Seite buhlte die DES darum, von der AfD offiziell anerkannt zu werden, auf der anderen Seite die Gustav-Stresemann-Stiftung. Wer wann warum welche der beiden Initiativen unterstützte, war zuweilen nicht leicht zu erkennen. Klar war nur, dass die DES eher dem wirtschaftsliberalen Flügel um Alice Weidel zugerechnet wurde, während die Gustav-Stresemann-Stiftung von Alexander Gauland gepusht wurde. Unüberwindbar wirkten die Unterschiede freilich nicht. Immerhin saßen im Kuratorium der favorisierten, Weidel-nahen Stiftung Leute wie Karlheinz Weißmann oder Karl Albrecht Schachtschneider, die Anhängern der „Neuen Rechten“ trotz aller Differenzen durchaus gefallen können.Kampf ums GeldEs geht um sehr viel Geld aus der Staatskasse — auch wenn die DES eine Art Bescheidenheitsgelübde ablegte und für das zweite Halbjahr 2018 „nur“ 480.000 Euro beantragte. Rund 70 Millionen Euro jährlich könnte die AfD theoretisch beanspruchen. Das wäre immerhin das Vierfache dessen, was die AfD-Bundestagsfraktion für ihre Arbeit ausgeben kann.Zwischenzeitlich schien es, als seien die beiden konkurrierenden Initiativen auf (eine) Linie gebracht worden. Partei- und Stiftungsfunktionäre hatten vor einer Sitzung des AfD-Vorstands Mitte April einen Kompromiss ausgetüftelt. Die „Erasmus-Initiative“, an deren Spitze die Ex-CDU-Politikerin Erika Steinbach im Monat zuvor den AfD-Abgeordneten Peter Boehringer abgelöst hatte, sollte als parteinah anerkannt werden. Den Mitgliedern der „Stresemann-Initiative“, darunter AfD-Kulturpolitiker Marc Jongen, wurde im Gegenzug die Möglichkeit eingeräumt, in die DES zu wechseln. Und sobald dies rechtssicher durchgesetzt sei, sollte die Stiftung nach Gustav Stresemann benannt werden. Die Fraktionsvorsitzende Weidel war hernach zufrieden: Als „Ideenschmiede der AfD“ werde die Stiftung „wichtige Impulse für die politische Arbeit in unserem Land geben“.Doch das Kompromissgebilde platzte erst einmal. Der Konvent der AfD vertagte etwas überraschend Anfang Mai eine Entscheidung. Zuvor war deutlich geworden, dass die Konflikte zwischen den Stiftungsinitiatoren keineswegs beigelegt waren. Der Spiegel berichtete, der Stresemann-Vorsitzende habe der DES vorgeworfen, mit „unrichtigen“ Behauptungen zu arbeiten, Absprachen zu brechen und „politische Erpressung“ zu betreiben. Nach der Konventssitzung meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Stresemann-Vertreter hätten Nachforderungen gestellt und 20 Prozent der Einnahmen der DES für eigene Projekte haben wollen.GründungsmythenDabei war der Streit der Stiftungsfunktionäre nur eines der Probleme. Zumindest an der Parteibasis fürchteten Anhänger des rechten Flügels, dass ein Votum für die Desiderius-Erasmus-Stiftung auch eine Vorentscheidung im Machtkampf um die Linie der Partei insgesamt darstellen könnte. Sie monierten, dass Vertreter des „patriotischen“ Flügels — sprich: ausgewiesene Partei-Rechtsaußen — in den Gremien der DES fehlen würden. Quasi durch die Hintertür wolle das Weidel-Lager die Kontrolle über die AfD übernehmen.Vollends unübersichtlich wurde die Situation, als sich ein weiteres Lager lautstark zu Wort meldete: die, denen Stiftungen im Moment per se suspekt sind. Der Bundestagsabgeordnete Thomas Seitz warnte: „Kein Delegierter sollte übersehen, dass angesichts der noch weitgehend labilen Strukturen der AfD eine parteinahe Stiftung das künftige informelle Machtzentrum der Partei sein wird.“ Über die Stiftung werde „entscheidender Einfluss auf die künftige Ausrichtung der Partei genommen“ — ohne dass man wisse, „aus welchen Quellen sich die Stiftung finanziert“.Vor dem Hintergrund, dass eine AfD-Stiftung wohl erst frühestens 2021 in den Genuss staatlicher Gelder kommen könnte, befand Parteivize Albrecht Glaser: „Der Versuch, jetzt nach Euro-Millionen zu greifen, die es nicht gibt und auf absehbare Zeit nicht geben wird, würde unsere Prinzipienlosigkeit demonstrieren und uns der Lächerlichkeit preisgeben.“Glaser und Seitz griffen eine Stimmung auf, die an der Basis weiter verbreitet ist als in den oberen Rängen. Und die bei Mitgliedern, die früh zur AfD stießen, stärker ist als bei denen, die erst spät ihre Sympathien für die rechte Partei entdeckten. Es ist in weiten Teilen eine sehr nostalgische Stimmung. Sie knüpft an einen Gründungsmythos an: dass man völlig anders sei als die etablierten Parteien, transparenter vor allem. Doch die derart unbefleckte AfD gibt es längst nicht mehr. Sie ist ein intransparenter Karriereautomat geworden, in dem munter — und mitunter hasserfüllt wie in keiner anderen Partei — Machtkämpfe ausgetragen werden.Die Gründungsmythen haben für den AfD-Alltag keine Bedeutung mehr. „Waffengleichheit“ wurde zum Wort der Stunde: Wenn die anderen Parteien von ihren Stiftungen profitieren, muss die AfD mit ihnen gleichziehen. Am Ende wollten die Parteitagsdelegierten in Augsburg den gordischen Knoten durchschlagen, nach der jahrelangen Diskussion endlich zu einer Entscheidung kommen. Auch Höckes „Flügel“, der sich ansonsten als strenger Hüter alter AfD-Werte geriert, stellte sich nicht in den Weg. Steinbach kam dem Rechtsaußen-Flügel verbal entgegen. Sie versicherte, dass ihre Stiftung alle Gruppen in der AfD ansprechen wolle: die „Alternative Mitte“ ebenso wie den „Flügel“ oder die „Patriotische Plattform“.Stiftungs-PersonalDie völkischen Nationalisten fehlen freilich in den DES-Gremien. Eher orientiert sich die Stiftung am Bild, das auch die Bundestagsfraktion abliefert: Radikal rechts, aber ohne das Volksgedröhn Höckescher Prägung. Steinbach ist die alles dominierende Person. Zum zehnköpfigen Vorstand zählt auch wieder der ehemalige FAZ-Redakteur Konrad Adam, der Mitte September zum Ehrenvorsitzenden gewählt wurde. Als Vertrauter von Alice Weidel gilt Vorstandsmitglied Hans Hausberger, der nach Spiegel-Informationen in den 90er Jahren bereits die Republikaner bei drei Stiftungsprojekten unterstützt hatte. Ralf Nienaber aus Dinslaken (Kreis Wesel/NRW) stellt in der DES-Führung das Bindeglied zu den AfD-nahen Stiftungen auf Länderebene dar. In NRW leitet er den Immanuel-Kant-Verein. Ähnliche regionale Stiftungen existieren auch in anderen Ländern, in Brandenburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein als Erasmus-Stiftungen, in Sachsen-Anhalt als Friedrich-Friesen-Stiftung, in Baden-Württemberg als Gustav-von-Struve-Stiftung. Einen begehrlichen Blick haben sie allesamt auf die Landesetats gerichtet. Eine Stiftung in NRW könne mit sechs- und bei entsprechend großem Bildungswerk sogar mit bis zu siebenstelligen Summen pro Jahr kalkulieren, rechnet Nienaber vor.Dem Erasmus-Vorstand auf Bundesebene steht ein 29-köpfiges Kuratorium zur Seite. Die Stiftung will mit diesem Gremium einen „hochkarätigen Beraterpool quer durch alle Fachdisziplinen“ aufbauen. Mitglieder, die für Seriosität stehen sollen, zählen dazu, wie zum Beispiel der Vorsitzende des Gremiums, CDU-Mitglied Max Otte, oder Wolfgang Ockenfels, der der Ordensgemeinschaft der Dominikaner angehört. Die Bundestagsfraktion ist mit zwei Abgeordneten vertreten: Roland Hartwig und Marc Jongen, der nach der Parteitagsentscheidung zur DES stieß. Den antifeministischen Part der Kämpfer wider den „Genderismus“ deckt einer wie Ulrich Kutschera ab, Professor für Biologie an der Universität Kassel. Das Adoptionsrecht für Homosexuelle bezeichnete er einst als „staatlich geförderte Pädophilie“ und verglich die Gender-Forschung mit einem Krebsgeschwür. Und dann sind da jene, deren Biographien tief ins Lager der „Neuen Rechten“ verweisen. Der stellvertretende Vorsitzende Weißmann, Mitgründer des Instituts für Staatspolitik, zählt dazu. Oder Schachtschneider mit seinen vielfachen Verbindungen zur Jungen Freiheit und zu Compact, zu extrem rechten Burschenschaften und zur Patriotischen Plattform, zur Initiative Ein Prozent und zum Kopp Verlag.AfD-Narrative — wissenschaftlich verbrämtWeißmann und Schachtschneider waren es auch, die in zwei Veranstaltungen noch vor der offiziellen Anerkennung der Stiftung andeuteten, wohin die Reise gehen soll. Weißmann sprach Ende Mai in Dresden über den „Kulturbruch ’68“, die „linke Revolte“ und ihre Folgen, die die AfD ansonsten ihrer weniger bildungsbürgerlich beflissenen Anhängerschaft als „links-rot-grüne Versiffung“ verkauft. Staatsrechtler Schachtschneider, der der Justiz vorwirft, die „inzwischen herrschende Meinung der wenig kritischen Rechtslehre“ habe „das Tor Deutschlands für die Islamisierung weit geöffnet, ja Deutschland gegen die islamische Invasion schutzlos gemacht“, referierte bei einer Veranstaltung Anfang März in Berlin. Mitte Juni, wiederum in Berlin und gesponsert von der Stiftung, ging es um „Grenzöffnung, Rechtsstaat und die Rolle des Bundestages“ und dabei „auf hohem wissenschaftlichen Niveau“ um die Möglichkeit, „gegen die fortwährende Grenzöffnung und die damit verbundenen Rechtsverstöße vor dem Verfassungsgericht vorzugehen“. Eine entsprechende Klage der AfD-Bundestagsfraktion, so informierte die DES in ihrem Newsletter auf womöglich nicht ganz so wissenschaftlichem Niveau, sei „gegen das Regime Merkel“ gerichtet. Da fügt es sich ins Bild, dass der Kuratoriumsvorsitzende Otte nach Chemnitz auf Twitter die rhetorische Frage stellte, ob „die medial völlig verzerrt dargestellten Vorfälle von Chemnitz zum neuen Reichstagsbrand, zum Auftakt der offiziellen Verfolgung Andersdenkender“ würden — was ihm den Vorwurf einbrachte, NS-Verbrechen zu relativieren.Die Klagen über die „islamische Invasion“, „Gender-Wahn“, das verhängnisvolle ’68 und Merkels „Regime“, dazu die Umdeutung von Geschichte: Man kennt all das von PEGIDA-Aufläufen und AfD-Parteitagen — nun kommen die Standardnarrative der Partei auch in längeren Sätzen und wissenschaftlich verbrämt daher. Und nach Möglichkeit staatlich gefördert.
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Ärger in der Hochburg | Die AfD in Fulda
Das erzkatholische Fulda ist eine Hochburg der AfD. Kontakte zur extremen Rechten erschüttern das Bild der Partei dort ebenso wenig wie auf Bundesebene. Weder interne Querelen und Austritte noch gerichtliche Auseinandersetzungen und das offensive Einschüchtern von Linken dürften der AfD in der Region Stimmen kosten.2016 erzielte die AfD in Fulda bei der Kommunalwahl knapp 15 Prozent und lag damit über dem durchschnittlichen Ergebnis in Hessen. Bei der Bundestagswahl 2017 erzielte sie im Wahlkreis Fulda sogar ihr hessenweit bestes Ergebnis. Wieder machten 15 Prozent der Wahlberechtigen ihr Kreuz bei den Rechten. Ein Grund für das gute Abschneiden dürfte der prominenteste Vertreter der hessischen AfD sein, der ehemalige CDUler Martin Hohmann. Bei der Kommunalwahl 2016 zog Hohmann als parteiloser Kandidat auf der AfD-Liste in den Kreistag von Fulda ein, er bekam damals die meisten Stimmen aller BewerberInnen, kurz darauf trat er dann in die AfD ein. Auch bei der Bundestagswahl 2017 erzielte er mit über 17 Prozent der Erststimmen das beste Ergebnis aller hessischen AfD-KandidatInnen. Dies reichte zwar nicht für ein Direktmandat, aber als Sechstplatzierter auf der Landesliste zog er trotzdem in den Bundestag ein.Zu seiner CDU-Zeit amtierte Hohmann zwischen 1984 und 1998 als Bürgermeister in Neuhof bei Fulda. Im Anschluss war er bis 2005 Bundestagsabgeordneter. Hier erlangte er erstmals größere Aufmerksamkeit, als er im Mai 1999 mit weiteren Bundestagsabgeordneten einen Antrag einreichte, mit dem die Errichtung des Berliner Holocaust-Denkmals verhindert werden sollte. 2003 wurde er aus der CDU ausgeschlossen, nachdem er zum Tag der Deutschen Einheit eine antisemitische Rede gehalten hatte, in der er in den Raum stellte, dass „man Juden mit einiger Berechtigung als ‚Tätervolk‘ bezeichnen“ könnte (vgl. LOTTA #15, S. 11-13).Streitigkeiten, Anklagen, AustritteTrotz aller Erfolge verstrickt sich die AfD in Fulda immer wieder in Querelen und Streitigkeiten. Einzelne müssen deshalb sogar rechtliche Konsequenzen befürchten. So wird momentan gegen den Kreissprecher Dietmar Vey wegen Beleidigung, übler Nachrede, Verleumdung und versuchter Nötigung ermittelt. Bei einer Mitgliederversammlung im Mai soll es zum Streit über den anhaltenden Rechtsruck des Kreisverbandes gekommen sein. Vey, der den Kurs verteidigte, soll dabei mehrere Mitglieder beleidigt und ihnen unterstellt haben, beim Landesparteitag in Stimmkabinen eingedrungen zu sein. Außerdem soll er eigenmächtig Abmahnungen gegen diese Mitglieder ausgesprochen haben. Im Nachgang der Mitgliederversammlung haben laut Polizei vier Personen Anzeige erstattet.Bei der Auseinandersetzung soll es auch um die Kontakte zur Identitären Bewegung (IB) gegangen sein. Hierbei stieß einigen Mitgliedern offensichtlich die Wahl von Jens Mierdel als Direktkandidat für den Wahlkreis Fulda I übel auf. Mierdel war bis 2015 bei der IB in Fulda aktiv. Erst 2016 hatte er gegenüber der Frankfurter Rundschau erklärt, sich dort nicht mehr zu betätigen. Dass dies jedoch keine Distanzierung nach sich ziehen muss, unterstrich wiederum Hohmann bei einer Veranstaltung im Juli, als er angab, keine Probleme mit der IB zu haben: „Im Gegenteil“, was sich „viele Jüngere immer wieder wünschen, dass unser politisches Leben bunt, phantasievoll und vielfältig ist“, das würde die IB bieten. Hohmann wünschte dieser „weitere Erfolge“.Auf die parteiinternen Streitigkeiten folgten mehrere Rücktritte, auch wenn dies bisher öffentlich bestritten und seitens der betreffenden AfDlerInnen persönliche Gründe vorgeschoben werden. Aus der Partei ausgetreten ist hingegen der ehemalige Kreissprecher der AfD-Fulda, Heiko Leimbach. Er begründete seinen Austritt öffentlich mit dem Rechtsruck innerhalb der AfD und der Nähe zu extrem rechten Gruppen und Personen. Er selbst sei laut Frankfurter Rundschau auch beleidigt worden und habe Drohmails bekommen, in denen ihm mit dem „Fegefeuer“ gedroht worden sei. Mit ihm ist auch der Schatzmeister des Kreisverbandes, Matthias Müller, zurückgetreten — und wenig später auch der Beisitzer Hermann Krauss. Zuletzt hat mit Marion Ascher ein weiteres Vorstandsmitglied ihren Posten verlassen.Zuletzt wurde dann noch bekannt, dass gegen ein ehemaliges Vorstandsmitglied der Jungen Alternative Hessen aus Fulda Anklage erhoben wurde. Toni Reinhard wird vorgeworfen, beim Notruf angerufen und sich für den Sprecher des Fuldarer Bündnisses Fulda stellt sich quer ausgegeben zu haben. Unter dessen Namen soll er behauptet haben, seine Frau ermordet zu haben. Dies zog einen Großeinsatz der Polizei nach sich, der wohl nun für Reinhard vor Gericht enden wird.Weitere Kontakte nach rechtsaußenMittlerweile sind Kontakte und Überschneidungen mit Akteuren der extremen Rechten für die AfD fast zur Normalität geworden. Dies lässt sich in vielen Regionen beobachten — auch in Fulda. So wird der AfD-Direktkandidat für den Wahlkreis Fulda II, Pierre Lamely, auf der Homepage des Bodybuilder-Blogs „Body-Extrem“ als Redaktionsmitglied aufgeführt. Neben ihm werden dort drei weitere Redaktionsmitglieder genannt, wovon einer in der Vergangenheit als Mitglied der Hammerskins auffiel und auch an deren Veranstaltungen teilnahm.Auch bei einer AfD-Kundgebung unter dem Motto „Die Polizei bleibt unser Freund“ am 30. April in Fulda wurden die Kontakte nach rechtsaußen deutlich. Hintergrund waren tödliche Schüsse eines Polizisten auf einen Geflüchteten und die nachfolgende Kritik an der Unverhältnismäßigkeit des Schusswaffeneinsatzes. Zur AfD-Kundgebung kamen etwa 150 Personen, darunter auch eine etwa fünfköpfige Gruppe der hessischen NPD. Als Ordner fungierte eine Person, die erst wenige Wochen zuvor zum NPD-Konzert nach Wetzlar angereist war (vgl. LOTTA #71, S.31-33) und ähnliche Veranstaltungen auch im vergangenen Jahr in Themar besucht hatte.Auch im Mitarbeiterstab von Hohmann lassen sich Schnittstellen zur extrem rechten Szene ausmachen. So beschäftigt er nach Erkenntnissen der tageszeitung unter anderem Katrin Nolte. Diese erlangte bisher hauptsächlich als Moderatorin von „Die Woche Compact“ Bekanntheit, eine Art Nachrichtensendung des Magazins von Jürgen Elsässer. Bemerkenswert ist auch, dass sie die Frau von Hohmanns AfD-Fraktionskollegen Jan Nolte ist, was einen Beigeschmack erzeugt, es könnte sich hierbei um das Zuschanzen von Posten handeln. Eine solche Praxis wirft die AfD eigentlich gerne den anderen Parteien vor.Ohne EffektLetztendlich ergeht es der AfD Fulda wie der Bundespartei. Es gibt Skandalträchtiges, Kontakte zur extremen Rechten und rechtliche Auseinandersetzungen, die im Grunde genommen der Partei elementar schaden müssten. Aber ebenso wenig wie sachliche Argumente hält das vermutlich viele potenzielle Wähler_innen nicht davon ab, für die Partei zu stimmen. Allerdings wird im Oktober keine Person aus der Region Fulda in den hessischen Landtag einziehen, es sei denn, es wird eines der Direktmandate gewonnen. Dennoch ist die AfD Fulda ein anschauliches Beispiel für die Entwicklung der AfD in Hessen.
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Zerwürfnis im Liberalismus | Die „Ludwig-Erhard-Stiftung“ und Roland Tichy
Der Rechtskurs von Roland Tichy, Chefredakteur von „Tichys Einblick“ und Vorsitzender der „Ludwig-Erhard-Stiftung“, führt zu Streit.Das ging selbst Friedrich Merz zu weit. Dem ehemaligen CDU-Politiker, der noch heute dafür bekannt ist, im Jahr 2000 die unsägliche „Leitkultur“-Debatte losgetreten zu haben, kann niemand unüberwindbare Allergien gegen dumpfe politische Vorstöße am rechten Rand der Unionsparteien nachsagen. Aber den Ludwig-Erhard-Preis annehmen, den die Ludwig-Erhard-Stiftung ihm verleihen wollte? Dazu war Merz nicht bereit. Mit dem Vorsitzenden der Ludwig-Erhard-Stiftung auf demselben Podium zu sitzen, das könne er nicht ertragen. Und er blieb dabei. Als das Handelsblatt die Sache Mitte Juli 2018 publik machte, da blieb ein kurzes, verstörtes Geraschel im deutschen Blätterwald nicht aus.Renommierter geht es kaumDie Bonner Ludwig-Erhard-Stiftung, 1967 vom Ex-Bundeskanzler (1963 bis 1966) Ludwig Erhard (CDU) zur Förderung der sozialen Marktwirtschaft gegründet, ist ein durch und durch arrivierter Verein. Ihrem Vorstand gehören zum Beispiel NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser und mit Alexander Tesche ein Vorstandsmitglied des Baukonzerns Züblin an. Mitglieder sind Personen wie Bundesbank-Präsident Jens Weidmann, die für Digitalisierung zuständige Staatsministerin im Bundeskanzleramt, Dorothee Bär (CSU), Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft aus Köln, mehrere Bundestagsabgeordnete und Ex-Deutsche Bahn-Chef Hartmut Mehdorn. Ihren Ludwig-Erhard-Preis hat die Stiftung zuletzt unter anderem Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach (2017), Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder (2016) und mehreren FAZ-Wirtschaftsjournalisten verliehen. Zuletzt hielt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier die Festrede bei einem Symposion, das die Stiftung am 28. Juni 2018 im Berliner FAZ-Atrium durchführte.Roland Tichy, der im Juni 2014 den Vorstandsvorsitz der Ludwig-Erhard-Stiftung von dem langjährigen FAZ-Redakteur Hans D. Barbier übernahm, passt bestens in dieses Milieu. Die Karriere des 1955 geborenen Ökonomen, der seine Laufbahn als wissenschaftlicher Assistent an der Ludwig-Maximilians-Universität in München begann, ist erfolgreich verlaufen. Zunächst arbeitete er von 1983 bis 1985 im Planungsstab des Bundeskanzleramts, ging dann als Bonner Korrespondent zur Wirtschaftswoche, leitete eine Weile das unmittelbar dem Vorstandschef zugeordnete Ressort „Corporate Issues Management“ bei Daimler Benz, bis er dann — nach einigen Jahren als Chef des Berliner Büros des Handelsblatts — im August 2007 Chefredakteur der Wirtschaftswoche wurde. Diesen Posten bekleidete er bis Juli 2014. Für seine Aktivitäten, zu denen auch das Schreiben von Büchern gehört — 1990 veröffentlichte er mit „Ausländer rein!“ ein Plädoyer für die verstärkte Aufnahme ausländischer Arbeitskräfte in Deutschland –, erhielt er 2008 den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik.„Euro-Rettung“ und „Migrationsstreit“Die Ludwig-Erhard-Stiftung kann, sollte man meinen, mit einem solchen Vorstandsvorsitzenden sehr zufrieden sein. Und das ist sie eigentlich auch — wenn da nur nicht dieses „Zerwürfnis“ innerhalb des deutschen „Liberalismus“ wäre, das der FDP-Bundestagsabgeordnete Frank Schäffler, ebenfalls Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung, beklagt: „ein Zerwürfnis zwischen den Anhängern des Merkel-Kurses und dessen Gegnern, sei es bei der Euro-Rettung und nun beim Migrationsstreit“. Der Konflikt zwischen den beiden Fraktionen tobt partei- und milieuübergreifend schon seit Jahren. Eskaliert ist er erstmals 2010/11, als etwa die FDP große Schwierigkeiten hatte, ihren Bundesparteitag im November 2011 von einem „Nein“ zur Euro-Rettungspolitik der Bundesregierung abzuhalten.Insgesamt hat sich bekanntlich in der Bundesregierung und auch in den Leitmedien weitestgehend diejenige Fraktion durchgesetzt, die um jeden Preis den Euro bewahren will und die 2015 auf eine gewisse Öffnung für Flüchtlinge setzte. Aus dem unterlegenen Flügel, der beides für verhängnisvoll hält, haben zunächst Wirtschaftsleute wie Bernd Lucke und Ex-BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel sowie Politiker wie Alexander Gauland die AfD gegründet. Deren zentralen Positionen werden bis heute auch in manchen Elitenvereinigungen wie der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft (vgl. Lotta #61, S. 49-51), die sich im Zerwürfnis des Liberalismus gegen die „Merkel-Fraktion“ positioniert und der einige führende AfD’ler angehören, unterstützt. Der Streit zwischen den beiden Fraktionen hält bis heute an; ausgetragen wird er nicht nur zwischen den alt-etablierten Parteien und der AfD, sondern auch — oft unterhalb der Schwelle öffentlicher Wahrnehmung — in einigen Zusammenschlüssen der Eliten.Das passt!Entzündet hat sich der Streit jüngst an Tichy, der — selbst der Anti-Merkel-Fraktion zuzurechnen — bereits im Jahr 2010 die Widersprüche der Euro-Rettungspolitik in Editorials in der Wirtschaftswoche schonungslos anprangerte, sich aber ansonsten noch vergleichsweise zurückhielt, bis er schließlich die Zeitschrift verließ, um sein eigenes Periodikum zu gründen: Tichys Einblick, 2015 zunächst als Onlineplattform konzipiert, ab 2016 auch als Monatsmagazin veröffentlicht.Wer schreibt für Tichy? Hugo Müller-Vogg zum Beispiel, lange Mitherausgeber der FAZ. Fritz Goergen, ein ehemaliger FDP-Bundesgeschäftsführer, der von 1982 bis 1995 geschäftsführend auch für die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung tätig war. Stephan Paetow, einst stellvertretender Focus-Chefredakteur; Oswald Metzger, einst „Grüner“, heute bei der CDU und Vorstandsmitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung; Bundestagsabgeordnete wie Frank Schäffler (FDP) und Klaus-Peter Willsch (CDU) sowie andere aus den deutschen Eliten. Und die Inhalte und zentralen Forderungen? Weniger Euro, weniger oder am besten gar keine Flüchtlinge! Italiens Innenminister Matteo Salvini kommt sehr gut weg. Chemnitz? „Noch nie wurde eine ganze Stadt wegen Fake-News von Medien und Politik derart verleumdet“, tönt Tichy höchstpersönlich. Tichys Einblick liege „oft auf den Pulten der AfD im Bundestag“, hat Alexander Graf Lambsdorff, stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion, beobachtet — und das passt.Es geht weiter nach rechtsMit Tichy wolle er nicht auf einem Podium sitzen, hat Merz erklärt, der beim Zerwürfnis des deutschen Liberalismus auf der anderen Seite gelandet ist. Vier Mitglieder der Preisjury, die den Erhard-Preis vergibt, haben ihm Recht gegeben und die Jury verlassen. Und die Ludwig-Erhard-Stiftung? Die Mitgliederversammlung Anfang Juli sei vollkommen friedlich verlaufen, war in der FAZ zu erfahren: Der Vorstand inklusive des Vorsitzenden Tichy sei entlastet worden — „und das ohne Diskussion und Gegenstimme“; man habe in „großer Harmonie“ getagt. Versuche, Tichys Einblick „als problematisch zu thematisieren“, seien vollständig „ohne Echo“ geblieben. Tichy treibt sein Publikum mit wohlwollender Billigung der Stiftung weiter nach rechts.
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Vom Volksempfänger zum Smartphone | Rechte Propaganda, Mobilisierung und Organisierung im Internet
Das Internet, insbesondere die Social Media- und Content-Plattformen, hat für die Verbreitung extrem rechter Propaganda mittlerweile zentrale Bedeutung. Dies liegt nicht nur an der Befähigung extrem rechter AkteurInnen zur Nutzung dieses Kommunikationsmittels, sondern vor allem an sozio-technischen Entwicklungen, die ihnen in die Hände spielen.Ausgerechnet „Ewiggestrige“ am Puls der Zeit? Was auf den ersten Blick wie ein Paradoxon erscheint, ist eine bereits seit mehr als 20 Jahren fortdauernde Entwicklung: Die extreme Rechte hat das Potenzial, welches das Internet bietet, früh erkannt. Begonnen mit eher klandestin — und mit tatkräftiger Hilfe des Verfassungsschutzes — aufgebauten BTX- und Mailbox-Netzwerken wie dem Thule-Netz Anfang der 1990er Jahre, gefolgt von der exzessiven Nutzung individueller Websites und Blogs über Foren wie Thiazi und den Aufbau eigener Medienprojekte wie Altermedia und PI-News hin zur Nutzung der großen Social-Media-Plattformen: Die extreme Rechte hat ihre Strategien zur Verbreitung von Propaganda, zur Mobilisierung für Events, zur Organisation und nicht zuletzt auch zum Kampf gegen politische Gegner_innen an den jeweiligen Zustand des Netzes und der Technik angepasst. Die Möglichkeiten, mit vergleichsweise einfachen Mitteln ein breites Spektrum an Menschen anzusprechen und gesellschaftliche Debatten zu beeinflussen, waren noch nie so vielfältig wie heute.Die Utopie eines freien NetzesUm zu verstehen, warum die extreme Rechte derzeit online so erfolgreich ist, bedarf es eines Rückblicks auf die Entwicklung „des Netzes“. Das Internet war — bedingt auch durch die militärischen Überlegungen zu seinem Aufbau — als weitgehend dezentrale und krisensichere Kommunikationsstruktur ausgelegt. Am Anfang der öffentlichen Nutzung standen utopische Erwartungen an das demokratische Potential des Internets: Mit dem Zugang zum Netz sollte jede_r die Gelegenheit bekommen, sich und andere unzensiert zu informieren. Viele Aktivist_innen der ersten Stunde glaubten an die emanzipatorische Kraft des „Cyberspace“ und schrieben die unbedingte Notwendigkeit eines freien Informationsflusses in die technischen Protokolle und Standards, die noch immer das Rückgrat dessen bilden, was wir heute als „Internet“ kennen.Diesen historischen Auftrag zur Verhinderung bzw. Umgehung staatlicher Zensur erfüllt das Internet weiterhin: Anonymisierungsnetzwerke wie TOR ermöglichen Menschen weltweit, sich dem Zugriff autoritärer Regime zu entziehen und Informationen auszutauschen. Eine Möglichkeit, die auch die extreme Rechte nutzt: Die vom US-Neonazi Andrew Anglin seit 2013 betriebene Website „The Daily Stormer“ ist seit dem Sommer 2017 auch über einen sogenannten „Onion Service“, eine Funktionalität des TOR-Netzwerkes, die Server und Nutzer_innen anonymisiert, verfügbar. Das TOR-Projekt positioniert sich zwar deutlich gegen Rassismus, stellte aber auch klar, dass das Netzwerk keinerlei Kontrollmöglichkeiten biete und niemals bieten dürfe. So paradox die Nutzung ihres im Sinne von Freiheit und Diversität konzipierten Dienstes durch die extreme Rechte auch sei, sie sei nicht zu verhindern und der Kampf gegen die extreme Rechte eine gesellschaftliche, keine technische Aufgabe, so die Macher_innen.Extrem rechte Online-MedienDie Publikation von Inhalten im Netz erlaubt es, unabhängig vom Zugang zu den Kommunikationskanälen der Massenmedien und weitgehend unbehelligt von staatlicher Kontrolle, Informationen und Meinungen zu publizieren. Wirksame Barrieren gegen die Verbreitung von Falschmeldungen und Lügen existieren nicht mehr. Die extreme Rechte fährt aktuell eine Doppelstrategie: Zum einen werden etablierte Massenmedien permanent als unfreie Organe der herrschenden Politik diskreditiert. Zum anderen wird über eigene Formate und Kanäle eine Gegenöffentlichkeit konstruiert, die auf die Erwartungen der eigenen Klientel und die strategischen Ziele zugeschnitten ist. So lassen sich Unwahrheiten verbreiten und Themen setzen, die aufgrund mangelnder Relevanz in den Massenmedien bestenfalls eine Randnotiz darstellen.Der Blog PI-News ist eines der erfolgreichsten Beispiele extrem rechter Online-Medien. (vgl. LOTTA #45, S.16—18) 2004 von einem kleinen Team um Stefan Herre aus Bergisch Gladbach gegründet, gelang es dem Blog mit einem Mix aus Nachrichten, Kommentaren und Aktivismus schnell, eine größere Gemeinschaft von LeserInnen zu gewinnen. Die verbindende Klammer bildeten dabei ein als „Islamkritik“ gelabelter antimuslimischer Rassismus und der sich selbst zugeschriebene „Mut zur politischen Inkorrektheit“ als Legitimation für Hetze gegen gesellschaftliche Minderheiten und Andersdenkende. Die LeserInnen werden durch in der Regel alarmistische, teils pathetische und stets polarisierende Beiträge, eine offene Kommentarpolitik und regelmäßige Aktionsaufrufe, z.B. zu Mails und Anrufen bei Journalist_innen oder Politiker_innen, bei Laune gehalten. Trotz des Bedeutungszuwachses der sozialen Netzwerke erfüllt der Blog als Plattform für eigene Inhalte, dauerhaft auffindbar, unter eigener Kontrolle und auf anderen Plattformen teilbar, weiterhin eine wichtige Funktion für die extrem rechte Propagandastrategie.Zuletzt sind weitere Seiten entstanden, die das aktuelle politische Geschehen kommentieren, beispielsweise David Bergers Philosophia Perennis oder der AfD-nahe Deutschland Kurier. Aber auch klassische Medien bleiben wichtig, weil sie den „Rohstoff“ liefern, auf dem die Beiträge der extrem rechten PropagandistInnen basieren, und als Referenz dienen. Besonders häufig wird von der deutschen extremen Rechten auf konservative Medien wie Die Welt und Focus, die russischen Staatssender RT Deutsch und Sputnik News sowie die ursprünglich von Anhänger_innen der chinesischen Sekte Falung Gong gegründete Epoch Times verwiesen. Hier existieren die größten politischen Übereinstimmungen, insbesondere beim Thema Migration.Echokammern und FilterblasenDie wichtigsten Kanäle zur Verbreitung extrem rechter Inhalte sind mittlerweile aber soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter und YouTube. Auch die vielfach zitierten „Echokammern“ und „Filterblasen“ sind Ausdruck selbst geschaffener Gegenöffentlichkeiten. Sie entstehen im Wesentlichen durch die Möglichkeit, selbst Inhalte zu veröffentlichen und diese massenhaft vornehmlich unter Gleichgesinnten zu teilen und zu diskutieren. Dadurch entsteht eine Dynamik, die mangels Gegenrede, Kritik und Reflexion maßgeblich auf der Bestätigung des eigenen Standpunktes und dessen Zuspitzung basiert.Bereits lange vor dem Aufkommen der sozialen Netzwerke existierte mit dem thiazi-Forum eine solche Echokammer für die extreme Rechte, in der zeitweilig bis zu 30.000 aktive NutzerInnen diskutierten sowie Musik und Medien austauschten. 2012 wurde das Forum nach Ermittlungen des BKA vom Netz genommen. Einige ModeratorInnen wurden 2018 wegen Bildung bzw. Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilt. (vgl. LOTTA #48, S. 31—34)Solche Foren haben an Bedeutung verloren. Der Austausch illegaler Inhalte wird meist über Dienste in Anonymisierungsnetzwerken, das sogenannte „Darknet“, abgewickelt, während Diskussionen vor allem bei Facebook und Co. stattfinden. Das Forum der „wütenden weißen alten Männer“ ist heute nicht mehr primär die Stammkneipe, sondern das globale Netz. Dabei spielen die Filter und Algorithmen der großen Social-Media-Plattformen eine entscheidende Rolle für den Erfolg extrem rechter Propaganda. Diese sind dazu designt, den Nutzer_innen die passenden Inhalte zu präsentieren, um sie möglichst lange auf der eigenen Plattform zu halten.Das funktioniert vor allem über Beiträge, die starke emotionale Reaktionen bei den Betrachtenden auslösen und diese damit zu einer Reaktion, z.B. Weiterleiten oder Kommentieren, veranlassen und so weitere Interaktionen im Netzwerk auslösen. Deshalb tendieren diese Verteilungsmechanismen dazu, Inhalte zu bevorzugen, die den Interessen und Erwartungen der Nutzer_innen entsprechen und sie auf einer emotionalen Ebene ansprechen. Somit entstehen auf vorgeblich neutralen und offenen Plattformen Echokammern aus Gleichgesinnten, die sich in stark emotionalisierten Debatten gegenseitig die eigene Weltsicht bestätigen und von „lernenden“ Algorithmen mit immer neuem Material versorgt werden.Deshalb entwickelt sich der Facebook-Newsfeed von Personen, die öfter auf extrem rechte Beiträge reagiert haben, schnell zu einer Art extrem rechter Onlinezeitung. Bei YouTube ist es nicht anders. In dieser Umgebung funktionieren klassische Propagandastrategien der extremen Rechten, die mit der Konstruktion von Bedrohungsszenarien und Identitäten sowie bewussten Tabubrüchen arbeiten, außerordentlich gut. Sie profitieren von den Mechanismen der Aufmerksamkeitsökonomie überproportional.Auf diese Weise erhält extrem rechte Propaganda eine viel größere Reichweite, weil die sozialen Netzwerke ihre Inhalte — genügend Aufmerksamkeit im eigenen Lager vorausgesetzt — auch über die Grenzen der eigenen Echokammern hinaus verbreiten und so bis in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs tragen können, wie z.B. die Kampagne gegen den UN-Migrationspakt zeigte.Mobilisierung mittels InternetDie sozialen Netzwerke erleichtern — über alle politischen Lager hinweg — die Bewerbung von Protestaktionen. Nicht nur weil Interessierte schnell erreicht werden, sondern auch weil diese sich über das Teilen von Inhalten leicht an der Mobilisierung beteiligen und unter Umständen auch in die Vorbereitung mit einbezogen werden können. Nicht länger ist es für die Organisator_innen notwendig, umfangreiche Email- und Postverteiler zu verwalten oder Plakate zu kleben. Und auch die ehemals starke Abhängigkeit von als Multiplikatoren dienenden klassischen Medien besteht nicht mehr. Auch wenn keine statistisch validen Daten über das gesamte Protestgeschehen in Deutschland vorliegen, drängt sich der Eindruck auf, dass in den vergangenen Jahren sowohl die Zahl von Protestereignissen als auch die Anzahl der insgesamt Beteiligten stark zugenommen haben.Mobilisierungen wie jene von PEGIDA wären ohne die sozialen Netzwerke nicht möglich gewesen. Sie bildeten die Basis für kleine Gruppen von OrganisatorInnen, um Kontakte zu knüpfen, Inhalte zu verbreiten, erfolgreich zu den eigenen Aktionen zu mobilisieren und diese im Nachgang zu dokumentieren. Dadurch ist allerdings auch eine neue Abhängigkeit entstanden, die AkteurInnen angreifbar macht.Die häufiger gewordenen Sperrungen extrem rechter Accounts zeigen Wirkung, weil auf einen Schlag sämtliche, womöglich über Jahre angesammelten Kontakte nicht mehr erreichbar sind und spontane Mobilisierungen schwierig werden. Auch deshalb ist seit einiger Zeit ein Ausweichen auf kleinere Dienste wie das russische VK oder die Nutzung von Messenger-Apps wie Telegram und WhatsApp zu beobachten. In den USA sind mittlerweile erste auf Open-Source-Technologie basierende Dienste wie gab, eine Art Twitter, entstanden, deren Betreibende sich selbst der „Alt-Tech-Bewegung“ zurechnen und deren NutzerInnen vornehmlich der politischen Rechten entstammen.Doch alleine mit technischen Faktoren lässt sich Erfolg oder Misserfolg einer Mobilisierung nicht erklären, wie sich jüngst beim gescheiterten Versuch zeigte, die in Frankreich für Schlagzeilen sorgenden „Gelbwesten“-Proteste nach Deutschland zu importieren. Obwohl eine Facebook-Seite mit 18.000 Followern entstand, bundesweit Dutzende offene Telegram-Gruppen zur Koordinierung von Aktionen gebildet wurden und eine interaktive Karte Treffpunkte für Aktionen markierte, blieben die Proteste vielerorts aus oder es beteiligten sich nur eine Handvoll Personen.Dass kurzfristige Mobilisierungen erfolgreich sein können, zeigte sich hingegen nach dem gewaltsamen Tod von Daniel H. im August 2018 in Chemnitz. Eine Kombination mehrerer Faktoren war entscheidend: Der Tod von Daniel H. war ein hochemotionales Thema, das entsprechend Aufmerksamkeit in den sozialen Netzwerken bekam. Zusätzlich verstärkt wurde dies durch die Behauptung, H. sei getötet worden, als er Frauen vor sexualisierter Gewalt habe schützen wollen. Eine Falschmeldung, die bewusst eines der erfolgreichsten Narrative der extremen Rechten der letzten Jahre aufgriff. Das Ereignis reihte sich zudem in eine monatelange Kampagne zu „Ausländergewalt“ und „Messereinwanderung“ ein. Und es ereignete sich in einer Stadt mit einer starken extrem rechten Szene, die angefangen bei der AfD über die lokale Gruppierung Pro Chemnitz und die UltraGruppe Kaotic Chemnitz bis zu den Strukturen der klassischen Neonazi-Szene gemeinsam für den Aufmarsch warb und die Strukturen vor Ort stellte.Organisierung im NetzNach den Aufmärschen in Chemnitz, bei denen die Polizei Gewalt und Ausschreitungen nicht verhinderte, gerieten die Sicherheitsbehörden in Erklärungsnot. Die Innenminister von CSU und CDU erklärten den „Smart-Mob“, gemeint war die Mobilisierung und Koordinierung via Smartphones, zum ausschlaggebenden Faktor. Auf dieses neue Phänomen sei man nicht vorbereitet gewesen. Tatsächlich haben solche Tools einen positiven Effekt auf die Mobilisierungs- und Aktionsfähigkeit, aber die Ausschreitungen von Chemnitz sind damit nicht erklärbar. Entscheidend war vielmehr der Organisationsgrad der Teilnehmenden sowie das Vorgehen der Polizei vor Ort.Facebook-Gruppen und Messengerdienste werden von der extremen Rechten auch verstärkt zur dauerhaften Organisierung genutzt. Über Chatgruppen und -kanäle werden Neuigkeiten verbreitet, Inhalte geteilt und auch Abstimmungen vorgenommen. Die Tools sind leicht zu bedienen, gelten als sicher und erreichen die Empfänger_innen unmittelbar. Durch das Agieren in einem (vermeintlich) geschützten Raum werden Beziehungen aufgebaut und gestärkt. Damit kann auch ohne Zutun der Belohnungsmechanismen sozialer Netzwerke oder regelmäßige persönliche Treffen eine Tendenz zur Radikalisierung der Beteiligten einhergehen. Diese Entwicklung lässt sich am Beispiel der 2015 von der Polizei zerschlagenen Gruppe Old School Society und dem kürzlich durch taz-Recherchen aufgedeckten Netzwerk extrem rechter „Prepper“ um den Verein Uniter in der Bundeswehr nachvollziehen.„We don’t need that fascist groove thang!“Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Erfolg der Aufmerksamkeitsökonomie im Internet und die damit verbundenen technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen vor allem der extremen Rechten nutzen. Sie schafft es dabei zunehmend, die Mechanismen für ihre Zwecke zu nutzen und so ihre eigenen Inhalte dauerhaft zu platzieren. Auf diese Weise kann die extreme Rechte ihre Reichweite deutlich steigern und auch in Spektren mobilisieren, die ihr bislang eher verschlossen waren.Durch den Aufbau eigener Online-Medienangebote werden auf die eigene Klientel zugeschnittene Gegenöffentlichkeiten geschaffen, die sich zunehmend gegenüber Kritik und Diskurs immunisieren. Mobilisierungen innerhalb dieser Echokammern können — sofern sie auf entsprechende organisatorische Strukturen und inhaltliche Vorarbeit stoßen — sehr erfolgreich sein und so Momente der Selbstermächtigung kreieren, die langfristig Wirkung entfalten. Die Inhalte der extremen Rechten bleiben in diesem Zusammenhang weitgehend unverändert, es ist der Umgang mit den neuen Möglichkeiten des Netzes, der sich weiterentwickelt hat.Es ist auch an der radikalen Linken, diese Mechanismen zu erkennen, zu analysieren und wirksame Gegenstrategien zu entwickeln, ohne dabei die berechtigte Kritik und Zurückhaltung gegenüber sozialen Netzwerken und der Aufmerksamkeitsökonomie abzulegen.
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Krieger und Walküre | Geschlechterverhältnisse im Kontext von Kampfsport in der extremen Rechten
Wie viele Elemente der extremen Rechten erscheint auch der Nazikampfsportsektor als reine Männerwelt: Fast alle Kämpfer sind Männer, fast nirgendwo sonst in der Szene kann man das archaische und dominante Männerbild so in Reinform betrachten. Doch auch Frauen sind bei den Events zu finden, nicht nur im Publikum, auch auf der Matte und als Teil der Organisationsteams. Sie haben kein leichtes Standing, ihr Auftreten wird vom szenetypischen Sexismus begleitet. Einend für Männer und Frauen ist die Vorstellung vom Leben als Kampf, für den man sich bereit und fit halten muss.Seit April 2016 tritt die russische MMA-Kämpferin Anastasia Yankova beim renommierten internationalen Kampfsport-Event Bellator Fighting Championship an. Sie ist eine von 38 Frauen unter insgesamt 169 Kämpfer_innen. Yankova hat sich in den letzten Jahren professionalisiert und wird mittlerweile von Nike gesponsert. In sozialen Netzwerken wird sie von Fans an ihre Verpflichtung erinnert: „Bitte vergesse nie, wofür es sich lohnt zu kämpfen! Volk, Nation, Vaterland!“ Begonnen hat Yankova ihre Kampfsport-Karriere bei White Rex. 2013 gewann sie bei einem der Geist des Kriegers-Turniere. Als Hauptdarstellerin eines Promotion-Videos von White Rex mit dem Titel „Strength Through Beauty“ wurde sie zur weiblichen Ikone in der rechten Kampfsport-Szene. Distanziert hat sich Yanova bis heute nicht, sie steht zu ihren Wurzeln.Auch beim deutschen Kampfsport-Event Kampf der Nibelungen (KdN) findet seit 2016 jeweils ein Frauenkampf statt. So stieg 2016 die JN-Aktivistin Julia Thomä aus Mecklenburg-Vorpommern in den Ring. 2017 traten dann „Tanja aus München“ und die zum Team von Pride France gehörende „Emma aus Frankreich“ gegeneinander an. In einem Bericht über den KdN in der Zeitschrift NS-Heute wird ein Zuschauer des Kampfes mit den Worten zitiert: „Die kämpfen besser als die Männer!” Dennoch scheint diesen Frauenkämpfen in der Selbstdarstellung des KdN keinerlei Bedeutung beigemessen zu werden. Auf der Facebook-Seite der Veranstalter beschwert sich „Emma Artimes“, die den Frauenkampf beim KdN 2017 gewann, in den Kommentaren, dass auch Frauen gekämpft hätten, diese aber nicht im Video auftauchten. Bis auf seltene Ausnahmen wie Yankova werden in der Selbstdarstellung der NS-Kampfsportmarken oder -events Frauen als„Nummern- und Showgirls“ oder Models gezeigt.Mutter und Kriegerin — Seiten einer MedailleDer Widerspruch, in dem sich die Frauen in der NS-Kampfsportszene bewegen, ist so alt wie die NS-Bewegung selbst. Sie wollen aktiver Teil der politischen Bewegung sein, ihre Arbeit wird aber von den Männern nicht als politische anerkannt. Schon Mitte der 1920er Jahre veröffentlichte die Nationalsozialistin Pia Sophie Rogge-Börner Schriften zur Emanzipation von „arischen“ Frauen, ihre Publikation „Die deutsche Kämpferin“ war der erste Versuch einer rassistisch-feministischen Organisierung in der deutschen Rechten. Die Zeitschrift wurde 1937 verboten, Rogge-Börner verfasste danach nur noch Prosa. Auch in den 1980er Jahren wurde über die Stellung von Frauen als aktiver Teil der Kampfgemeinschaft diskutiert. In der Zeitschrift „Die Kampfgefährtin“ der Deutschen Frauenfront (DFF) wurde die Frage thematisiert, welche Rolle Frauen und Mädchen im Straßenkampf zukommen sollte. Immer wieder beanspruchen Frauen ihren Platz, entweder in der ersten Reihe oder zumindest als kämpfende Gefährtin — und immer wieder werden sie von ihren männlichen Kameraden zurechtgewiesen, nicht selten auf extrem sexistische Art und Weise. Es lassen sich Parallelen zur Skinhead-Kultur ziehen.In der bürgerlichen Gesellschaft gilt die Hausfrau am Herd als Gegenstück zur Kämpferin. In der extrem rechten Ideologie ist diese Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit verschoben, denn auch das Dasein als Mutter wird als Kampf gesehen. Der Kampf der Frauen wird dann nicht mit Waffen ausgetragen, sondern mit der ideologischen Erziehung der Kinder, Frauen können sich damit ideologisch in allen ihren Aufgabenbereichen als wehrhaft und kämpferisch erleben.Kampfziel „Volksgemeinschaft“Im Zentrum dieses Verständnisses vom Leben als Kampf steht das Konstrukt der „Volksgemeinschaft“. Die „Volksgemeinschaft“ erscheint vor diesem Hintergrund in einem permanent bedrohten Zustand durch äußere Einflüsse — Stichwort „Großer Austausch“ — und innere Bedrohungen — Stichwort „Blutsreinheit“. Für den Fortbestand der „Volksgemeinschaft“ braucht es „echte“ Männer und Frauen, die gemeinsam als Familie deren kleinste Zelle bilden. Damit bietet das Konstrukt sinnstiftende Identitätsangebote für beide Geschlechter, aus denen sich spezifische Aufgabenbereiche ableiten. Nicht nur die Vorstellung von Geschlecht ist damit biologistisch, sondern auch die Vorstellung der gesamten Gesellschaft als organischer Zusammenhang, als „Volkskörper“. Rassismus und Sexismus sind dabei ideologisch fest miteinander verbunden, was sich auch im extrem rechten Diskurs über Sexismus niederschlägt. Dieser ist nur als ethnisierter Sexismus zu besprechen und muss deshalb von „Fremden“ kommen. Sexismus innerhalb der Szene und des eigenen „Volkes“ wird ausgeblendet.Die soldatische MännlichkeitDer Erhalt der „Volksgemeinschaft“ fordert auch von den Männern eine fest bestimmte Rolle. Das Leitbild der Männlichkeit, die sogenannte hegemoniale Männlichkeit, innerhalb der extremen Rechten ist der Soldat. Das Konzept der hegemonialen Männlichkeit, das von der australischen Soziologin Raewyn Connell entwickelt wurde, geht davon aus, dass es gleichzeitig ein gesellschaftliches Machtgefälle zwischen Männern und Frauen und ein Machtgefälle zwischen verschiedenen sozial konstruierten Männlichkeiten gibt. An der Spitze dieser Hierarchie steht die hegemoniale Männlichkeit. Dieser Typus profitiert vollständig von patriarchalen Herrschaftsstrukturen und ist an ihrer Durchsetzung interessiert. Also in den meisten Fällen der weiße, heterosexuelle Cis-Mann, der gesund und körperlich fit ist. Dem Typ der hegemonialen Männlichkeit entsprechen nur wenige Männer, die anderen streben die Idealvorstellung lediglich an.Hegemoniale Männlichkeit wird dabei als Ergebnis sozialen Handelns verstanden, um die gegebene Geschlechterordnung sowie weitere Machtverhältnisse, die damit verschränkt sind, aufrecht zu erhalten. Dabei ist sie aber auch historisch und gesellschaftlich veränderbar und Modernisierungsprozessen unterworfen. Gesamtgesellschaftlich gesehen, setzt sich aktuell vor allem eine Männlichkeitskonzeption durch, die sich weniger durch physische Durchsetzungsfähigkeit auszeichnet als durch Wissen und Expertentum. Hier zählt also eher der Manager als der Soldat. In der extremen Rechten und dort insbesondere in der Kampfsportszene ist eine andere hegemoniale Männlichkeit anzutreffen: der Mann als kämpferischer, das Volk und die Familie beschützender Recke. In einem Video zu einem von der extrem rechten Partei National Orientierter Schweizer durchgeführten Selbstverteidigungs-Seminar mit Denis Nikitin erklärt dieser, es gehe darum zu lernen, „stark zu sein. Unsere Frauen zu schützen und uns selbst schützen zu können“. Diese Männlichkeitskonstruktion, als doing gender verstanden, bildet sich vor allem auch über den Aspekt der Körperlichkeit heraus.Wesentliches Element extrem rechter Ideologie sind autoritäre Ordnungsvorstellungen, also die Orientierung an Macht und Stärke, Unterwürfigkeit gegenüber Autoritätspersonen und das Beharren auf Konventionen, Stereotypen und Vorurteilen. Autoritäre Ordnungsvorstellungen gehen dabei auch Hand in Hand mit der Durchsetzung der patriarchalen Ordnung. Die ideologische Hierarchisierung, also die eigene ausgemachte Überlegenheit gegenüber dem Anderen zeigt sich auch innerhalb der hegemonialen Männlichkeit: der Mann als der Stärkere und damit Dominierende gegenüber der Frau und/oder allen Schwächeren gegenüber, die dem hegemonialen Männlichkeitsbild nicht entsprechen. Das Idealbild des extrem rechten Mannes als kämpferischer, völkischer, die deutsche Familie beschützender Kämpfer lässt sich auch als Ausdruck und Versuch der Durchsetzung hegemonialer Ansprüche deuten. Hier bietet sich der Kampfsport besonders an, um dieses Bild zu verkörpern, auszutrainieren und zu zelebrieren.Gehorsam, Disziplin, StärkeDie im Kampfsport entstehenden Männerbünde sind kein rein rechtes Phänomen, sie sind aber zumindest unter dem Fokus Gender anknüpfbar für extrem rechte Ideologien. Ähnlich wie in anderen subkulturellen Bereichen wie der Hardcore- und Skinheadkultur ist davon auszugehen, dass extrem rechte Männer sich an Männlichkeitsvorstellungen orientieren, für die es in der modernen Gesellschaft ihrer Ansicht nach keinen Platz mehr gibt, die sich aber in diesen Kontexten nach wie vor wunderbar ausleben lassen. Im Kampfsport tritt der einzelne Mann als Einzelkämpfer in der Gruppe auf, in der er sich seinen Platz in der Hierarchie wortwörtlich erkämpfen und sich gegenüber Schwächeren durchsetzen muss. Innerhalb dieses Männerbundes im Kampfsport geht es aber auch um die oben genannte Stärkung und Verteidigung der individuellen Männlichkeit.Dieser gemeinsame Kampf in einem von autoritärer Ordnung geprägten, auf Drill ausgelegten Kampfsport-Kontext ist der Ort, an dem sich hegemoniale Männlichkeit konstituieren und manifestieren kann. Verhaltensweisen, die im klassischen Kampfsport das Grundkonstrukt bilden, lassen sich fast eins zu eins in der rechten Ideologie wiederfinden. Gehorsam, Disziplin, Stärke zeigen, Niederlagen einstecken, mit sich selber ausmachen und nicht nach außen zeigen, keinen Schmerz zulassen, für die Sache kämpfen, den Gegner besiegen und im besten Fall ausschalten: alles männlich konnotierte Eigenschaften, die dem Ausbau des Machtanspruchs stützen.Zwischen Normalo-Kampfsportlern und rechtem Kampfsportler zu unterscheiden, mag auf den ersten Blick gar nicht so leicht sein, da die Übergänge fließend sind und sich der Kampfsport in seiner strukturell männlichen Erscheinung als attraktiver Agitationsraum anbietet, um die rechte Ideologie salonfähig zu machen. Denn primär scheint es erst einmal nur um die Ästhetisierung des Körpers zu gehen, wenn auf das traditionelle Körperideal hin trainiert wird oder die Akzeptanz von Gewalt und Gewaltausübung in einem vermeintlich konsensualen Raum stattfindet. Doch hier wird Gewalt zum doing masculinity: Die Gewalt stellt die Männlichkeit her und damit auch die Unterdrückung des Nicht-Männlichen.Im Ring und im Gym: fight sexism — fight fascism!Wie in allen subkulturellen Bereichen, die sich aufgrund ihrer Strukturiertheit als Grauzonen anbieten, ist der Kampf gegen Sexismus eine wichtige Säule im antifaschistischen Kampf. Ob in der Kurve oder auf der Matte, dominante und unreflektierte Männlichkeit ist ein fester Bestandteil faschistischer Ideologien, Männerbünde sind elementar für ihre Struktur. Frauen sind weder friedfertig noch unpolitisch, ihr Aktivismus ist ebenso zu beobachten und zu bekämpfen wie derjenige der Männer.
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