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"Neue" Rechte? | Von "nationalrevolutionären" Debattenzirkeln zum "rechtsintellektuellen" Netzwerk

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Über die „Neue Rechte“ wird viel berichtet zur Zeit, häufig im Zusammenhang mit den Erfolgen der AfD, PEGIDA-Demonstrationen oder den medienwirksamen Aktionen der „Identitären Bewegung“. Im Zentrum stehen dabei immer wieder die gleichen Protagonist_innen rund um das „Institut für Staatspolitik“ in Schnellroda in Sachsen-Anhalt, dennoch bleibt oft unscharf, wer oder was mit dem Begriff der „Neuen Rechten“ eigentlich bezeichnet werden soll.

Der Begriff einer „Neuen Rechten“ oder auch „Jungen Rechten“ tauchte erstmals Mitte der 1960er Jahre als Selbstbezeichnung einer Reihe junger rechter Aktivisten auf. Sie gehörten einer Generation an, die nicht mehr direkt durch den Nationalsozialismus geprägt worden war. Was diese „Junge Rechte“ auszeichnete, war allerdings keineswegs ein grundsätzlich weltanschaulicher Bruch mit der „alten“ Rechten, für die damals vor allem die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) stand. Vielmehr sah sie die Notwendigkeit, die Strategien und theoretischen Grundlagen der extremen Rechten zu erneuern. Die NPD war zum einen ideologisch und personell noch sehr im NS verhaftet und erschien zum anderen der jungen Generation in ihrem ganzen Auftreten viel zu behäbig und unflexibel, um auf die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der 60er Jahre zu reagieren oder sie sich gar zu Nutze machen zu können. Vor dem Hintergrund des Aufbruchs der 68er sah sich die Rechte zunehmend im Hintertreffen. Diese Einschätzung wurde noch bekräftigt, als die NPD bei der Bundestagswahl 1969 knapp an der Fünfprozenthürde scheiterte.

Die „Neue Rechte“ suchte nach neuen Theoriefundamenten, um ihr Gedankengut „von Hitler zu befreien“ und die extreme Rechte wieder politikfähig zu machen. Diese Suchbewegungen fanden vor allem in Debattenzirkeln und Zeitschriftenprojekten statt, etwa im bereits 1964 erstmals von Lothar Penz in Hamburg herausgegebenen Jungen Forum oder in Zeitschriften wie fragmente (ab 1963) oder Neue Zeit (ab 1972). Die „Junge Rechte“ machte sich daran, verloren gegangene rechte Theoriestränge freizulegen, die weniger direkt durch den Nationalsozialismus diskreditiert waren. Für etwa anderthalb Jahrzehnte dienten ihr dabei vor allem nationalrevolutionäre Ideen als Referenzpunkte.

Auch über ihre Debattenzirkel hinaus begann sich die „Neue Rechte“ abseits der Strukturen der „alten“ Rechten zu organisieren. Unter dem Eindruck der linken Studentenbewegung gründeten sich Ende der 60er Jahre rund 20 lokal agierende „Basisgruppen“, unter anderem auch im Ruhrgebiet in Bochum. Viele dieser Gruppen beteiligten sich an den militanten Aktionen der von der NPD initiierten Aktion Widerstand, mit der die nach ihrer Wahlniederlage an Bindungskraft verlierende Partei versuchte, junge, stärker aktionsorientierte rechte Aktivist_innen zu integrieren. Letztlich gelang dies nicht, die NPD zog sich zurück und viele der beteiligten „neu“- sowie „altrechten“ Gruppen fanden sich 1972 in der Aktion Neue Rechte (ANR) zusammen. Die nationalrevolutionären „neurechten“ Akteure versuchten hier selbstredend, ihren Einfluss geltend zu machen. Sie gerieten jedoch letztlich mit den „altrechten“ Kräften um den Vorsitzenden Siegfried Pöhlmann, ehemals Landesvorsitzender der bayrischen NPD, aneinander und es kam schon bald zu Abspaltungen und einer Ausdifferenzierung auch innerhalb der nationalrevolutionären „Neuen Rechten“.

Neuer nationalrevolutionärer Nationalismus

In einer von Umbrüchen und politischen Veränderungen geprägten Gesellschaft stellte sich die „Junge Rechte“ die Frage, ob „die Grundlagen unseres Handelns noch den Erfordernissen der heutigen Zeit entsprechen“. Anders als die „Leute mit dem ‚schwarz-weiß-roten Brett vorm Kopf‘, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollen“, wollte man als „volksbewußte Europäer“ „der Zukunft dienen und nicht der Vergangenheit“, hieß es im Editorial des Jungen Forums 1965. „Rechts“ müsse in Zukunft heißen „nicht reaktionär, sondern fortschrittlich, nicht bürgerlich, sondern sozialrevolutionär“ und „nicht staatsnationalistisch, sondern im Sinne eines modernen europäischen Nationalismus“, schrieb Gert Waldmann 1969 in Nation Europa. Darüber hinaus gelte es „die linke Unruhe nach rechts umzufunktionieren“, denn in der gesellschaftlichen Umbruchsituation und der Aufbruchstimmung der Linken meinte die „Neue Rechte“ eine günstige Gelegenheit zu erkennen, um ihre nationalrevolutionären Ideen erfolgreich ins Spiel zu bringen.

Ein zentrales Anliegen bestand dabei darin, einen zukunftsfähigen Nationalismus zu entwerfen. Nicht reaktionär und der Reichsidee verhaftet wollte man sein, sondern einen „modernen Nationalismus europäischer Prägung“ schaffen. Dessen Herleitung ist eng verknüpft mit dem von Henning Eichberg formulierten Konzept des Ethnopluralismus. Der Fokus der Argumentation der „Neuen Rechten“ liegt demnach nicht mehr auf der pauschalen Abwertung des „Anderen“ und auf der Überhöhung der eigenen (Staats-)Nation, sondern auf einem sauber voneinander getrennten Nebeneinander von in sich homogenen, aber gleichwertigen „Völkern“ und „Kulturen“. Heterogene Gesellschaften hingegen seien immer defizitär. So kann für rassistische Weltordnungsvorstellungen und Gesellschaftsentwürfe plädiert werden, ohne sich dabei allzu offensichtlich auf NS-belastete, diskreditierte Begrifflichkeiten und Logiken stützen zu müssen.

Eine völkische Neuordnung Europas entlang dieser „Ethnokulturen“ finde Eichberg zufolge ihren Ausdruck in einem „antiimperialistischen Befreiungsnationalismus“. Die „Völker Europas“ sollten sich gegen die „raumfremden Supermächte“ USA und UdSSR zur Wehr setzen, die durch ihre universalistischen Ideologien gleichermaßen die kulturelle Identität der europäischen Völker zu zerstören drohten und so Europa um seine Vormachtstellung brächten. Im Gegenzug zur „alten“ Rechten verschob sich also die Feindbildbestimmung. Zum „Hauptfeind“ der „Neuen Rechten“ avanciert, ganz im Sinne der jungkonservativen Strömung der „Konservativen Revolution“, der Liberalismus, wobei der Marxismus als eine seiner Spielarten mitinbegriffen ist.

Konservativ-revolutionär?

Im Verlauf der 70er Jahre überschritt die nationalrevolutionäre „Neue Rechte“ ihren Zenit und trat zusehends in den Hintergrund. Seit Mitte der 80er Jahre steht bei der „Neuen Rechten“ weniger die Bezugnahme auf die nationalrevolutionäre, sondern vielmehr auf die jungkonservative, eher an einem starken Staat und am Christentum orientierte Strömung der „Konservativen Revolution“ im Fokus.

Als „spiritus rector“ einer konservativ-revolutionären „Neuen Rechten“ gilt Armin Mohler. Denn er hatte mit seiner Dissertation 1949 Begriff und Idee einer „Konservativen Revolution“ geprägt und antidemokratische, antiliberale und antiegalitäre Strömungen der Weimarer Zeit vom Nationalsozialismus entkoppelt und so als theoretische Bezugspunkte für die Nachkriegsrechte nutzbar gemacht.

Mohler zufolge sollte der „Demutskonservatismus“ der Nachkriegszeit überwunden und Attribute wie „rechts“ oder „national“ wieder selbstbewusst gebraucht werden können. Hierfür spielte unter anderem die ab 1970 von Caspar Schrenck-Notzing herausgegebene Zeitschrift Criticón eine wichtige Rolle. Dem Selbstverständnis nach eine konservative Zeitschrift bot sie auch Autoren der „Neuen Rechten“ eine Plattform. Nicht zuletzt dank des Einflusses Mohlers konnte auch der intellektuelle Kopf der französischen „Nouvelle Droite“, Alain de Benoist, seine Ideen vor einem deutschen Publikum kundtun.

„Nouvelle Droite“

Die Ideen der französischen „Nouvelle Droite“ flossen durchaus in die theoretischen und strategischen Konzeptionen der deutschen „Neuen Rechten“ ein. Vor allem geschah dies über einzelne zentrale Personen wie Eichberg oder Mohler, die die Entwicklungen in der französischen Rechten verfolgten. Von der deutschen „Neuen Rechten“ als einem Ableger der französischen „Nouvelle Droite“ zu sprechen, greift indes zu kurz. Denn eine wirklich breite Rezeption ihrer Ideen blieb bis in die 80er Jahre aus. Darüber hinaus handelt es sich im Gegensatz zur deutschen „Neuen Rechten“ bei der „Nouvelle Droite“ in der französischen Debatte um eine sehr spezifische Strömung der antiegalitären und antidemokratischen Rechten, die eng verknüpft ist mit dem 1969 gegründeten G.R.E.C.E. (Groupement de recherches et d’études pour la civilisation Européenne). Als direkter Ableger des G.R.E.C.E. versteht sich indes lediglich das 1980 in Kassel von Pierre Krebs gegründete Thule-Seminar (S.??). Als für Deutschland wirkmächtigste Schrift aus den Reihen der „Nouvelle Droite“ kann sicherlich „Kulturkampf von rechts“ gelten, welche 1985 im in Krefeld ansässigen Sinus Verlag erschien. In dieser plädierte de Benoist anschließend an seine selektive Adaption der Ideen des italienischen Marxisten Antonio Gramsci für ein Wirken im „vorpolitischen Raum“. Unter dem Stichwort der „Metapolitik“ nimmt diese strategische Ausrichtung bis heute einen zentralen Stellenwert für „neurechte“ bzw. rechtsintellektuelle Netzwerke in der Bundesrepublik ein. „Uns geht es um geistigen Einfluss“, formulierte Karlheinz Weißmann Anfang der 2000er Jahre die strategische Ausrichtung des Instituts für Staatspolitik (IfS), „um Einfluss auf die Köpfe, und wenn diese Köpfe auf den Schultern von Macht- und Mandatsträgern sitzen, umso besser“.

Rechtsintellektuelle Netzwerke

Wenn derzeit über die „Neuen Rechte“ berichtet wird, so stehen in aller Regel Protagonist_innen rund um das IfS im Mittelpunkt, allen voran Götz Kubitschek und die mit ihm verheiratete rechte Publizistin Ellen Kositza, die früher für die Junge Freiheit (JF) schrieb und heute Redakteurin der Sezession ist. Das IfS besteht seit dem Jahr 2000, gegründet haben es Kubitschek und Karlheinz Weißmann. Beide kannten sich von der JF und waren – ebenso wie deren Herausgeber Dieter Stein – in der Deutschen Gildenschaft. Das neurechte „Mutterschiff“ Junge Freiheit wird bereits seit 1986 herausgegeben und navigiert seither auf dem schmalen Grat zwischen klassisch neurechten Positionen und gerade noch als seriös wahrgenommenem Nationalkonservatismus. Die JF reklamiert für sich die Bezeichnung „konservativ“ und sucht durchaus Anschluss an breitere Wirkungskreise. Ergänzend zum IfS entstand damals der Verlag Edition Antaios sowie 2003 die hauseigene Zeitschrift Sezession, beide bis heute betrieben beziehungsweise herausgegeben von Kubitschek. Zusammen mit der JF und der seit 2004 von Felix Menzel als Schüler_innenzeitung herausgegebenen Blauen Narzisse entstand im Laufe der 2000er ein aufeinander abgestimmt agierendes rechtsintellektuelles Netzwerk, das vor allem publizistisch in Erscheinung trat – und sich, mit Ausnahme der JF, vor allem mit sich selbst beschäftigte. Seit dem Herbst 2014 hat sich dies verändert. Das mittlerweile unter dem Einfluss von Götz Kubischek stehende IfS wittert vor dem Eindruck von PEGIDA-Demonstrationen und dem Kurs, den die AfD seit Mitte 2015 eingeschlagen hat, Morgenluft. Man wähnt sich an zentraler Stelle im Angesicht gesellschaftlicher Umwälzungen.

Gleichzeitig haben sich, nicht zuletzt entlang der Entwicklung der AfD, seit Jahren vor sich hin gärende kontrovers geführte Strategiedebatten im „neurechten“ Lager zugespitzt. Die JF hatte stets eher realpolitische Optionen mit im Blick und verschrieb sich weniger dem existenzialistischen weltanschaulichen Kulturkampf, den Götz Kubitschek bei jeder Gelegenheit hochhält. So begrüßte die JF von Anfang an das Auftauchen der damals noch von Bernd Lucke angeführten AfD und unterstützte die Partei. In ihr meinte sie die realistische Möglichkeit einer längerfristigen Veränderung des Parteiensystems in der Bundesrepublik zu erkennen. Kubitschek kann mit solch realpolitischen Sichtweisen wenig anfangen. In einer zu großen Anpassungsbereitschaft der Partei zum Zwecke des politischen Erfolgs sah er die Gefahr einer „eingehegten“ Rechten. Zum Streit kam es über die Frage des Umgangs mit der AfD Mitte 2014 auch mit Karlheinz Weißmann, der die Position der JF teilte und sich schließlich aus dem IfS zurückzog, nachdem er jahrelang dessen führender Kopf gewesen war.

Mit der Entwicklung der AfD seit dem Ausscheiden des Lucke-Flügels hat sich nochmals einiges verschoben. Björn Höcke, der Kubitschek und dem IfS nahe steht, trägt mit seinen pathetischen Reden und über die parteiinterne Plattform „Der Flügel“ kulturkämpferische „neurechte“ Impulse in die Partei hinein. Weißmann sieht durch Höckes Kurs und „Einflüsterer wie Kubitschek“ die Chancen der AfD zu Grunde gehen und sie als „Lega Ost“ enden.

Der „Einflüsterer“ selbst hingegen sieht sich und das IfS derzeit strategisch gut platziert. Er flankiert mit seinem jüngsten Projekt „Ein Prozent“ im Schulterschluss mit Compact-Herausgeber Jürgen Elsässer die Wahlkämpfe der AfD und unterstützt rassistische Proteste gegen Flüchtlingsunterkünfte sowie Aktionen der Identitären Bewegung. Auch letztere findet derzeit häufig in einem Atemzug mit Kubitschek, Kositza und dem IfS Erwähnung. Als spannende Option galt die für jugendlich inspirierten Aufruhr sorgende IB der Sezession und auch der Blauen Narzisse von Anfang an. Noch vor wenigen Jahren hatte Götz Kubitschek selbst mit der Konservativ-subversiven Aktion für Wirbel zu sorgen versucht. Er verließ damit das übliche publizistische Wirkungsfeld des rechtsintellektuellen Netzwerks und versuchte sich an der Provokation als Politikform. „Hüten wir uns aber, die Wirkung des geschriebenen Worts […] zu überschätzen“, schrieb er 2007, denn : „Was wäre all dieses Wissen gegen die eine Tat, die das, was man bloß wußte, verdichtet und übersetzt und mit einer Überzeugungskraft auflädt, die die Lektüre einer halben Bibliothek überflüssig macht!“ Sehr erfolgreich war er nicht. Die Aktionen wurden über den eigenen Wirkungskreis hinaus kaum wahrgenommen und schon nach wenigen Aktionen war im November 2009 Schluss mit dem Aktionismus. Derzeit versucht sich die IB an dieser „Propaganda der Tat“.

Kamerateams auf dem Rittergut

Über die sogenannte „Neue Rechte“ wird viel berichtet dieser Tage. Kubitschek und Kositza dürfen sich am Esstisch auf dem Rittergut in Schnellroda, wo sie wohnen und auch IfS und Verlag beheimatet sind, bei Bier und Wurstbrot fotografieren lassen und ihre Gesichter in allerlei Fernsehkameras halten. Sie können vor breitem Publikum „den Kampf um die deutsche Identität“ und eine „Asyleinwanderungsobergrenze von minus 500.000“ fordern, ohne beantworten zu müssen, welche Konsequenzen die Umsetzung einer solchen Forderung eigentlich nach sich ziehen würde. Ellen Kositza findet es „faszinierend, wie die Zeit gerade kippt und wie die Dinge in Bewegung geraten“. Es komme ihr „ein bisschen so vor, als ob man lange gesät, lange umgegraben hätte und jetzt werden die Sachen fruchtbar.“ Dass hier jedoch eine von langer Hand vorbereitete Strategie aufgeht, ist unwahrscheinlich. Das IfS und seine Protagonist_innen sind lediglich zur richtigen Zeit am richtigen Ort, nutzen dabei aber jede Gelegenheit, um sich zur rechten Avantgarde zu stilisieren.

Mit Blick auf die aktuelle Konjunktur, die die „Neue Rechte“ gerade zu haben scheint, zeigt sich letztlich: Wirklich neu ist an der „Neuen Rechten“ wenig. Neu für die rechtsintellektuellen Netzwerke sind die Umstände, Spielräume und politischen Handlungsfelder, die sich derzeit in einer nach rechts rückenden Gesellschaft für sie ergeben.


Aktionistische Avantgarde!? | Die "Identitäre Bewegung"

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Die „Identitäre Bewegung“ (IB) inszeniert sich als rechte Jugendbewegung für Europa und möchte mit militantem Neonazismus vorgeblich nichts zu tun haben. Die Identitären seien die Erben der „Neuen Rechten“, die jedoch die „intellektuelle Eitelkeit“ durchbrochen hätten, schreibt Martin Sellner, führender Kopf der österreichischen IB Wien 2015 in den „Burschenschaftlichen Blättern“. Ob bei der IB von einer eigenständigen „Bewegung“ die Rede sein kann, sei dahingestellt. Es handelt sich um einen relativ kleinen Personenkreis, der in letzter Zeit verstärkt durch medien- und öffentlichkeitswirksam inszenierte Aktionen auffällt, etwa durch die „Besetzung“ des Brandenburger Tors vor wenigen Wochen oder der SPD-Parteizentralen in Berlin und Hamburg Mitte 2015.

Auch wenn die Symbolik – das schwarze Lambda auf gelbem Grund – und das Auftreten der Identitären Bewegung für die extreme Rechte ungewöhnlich schien, war ihre Botschaft klar: Nicht weniger als eine „Kriegserklärung“ an die multikulturelle Gesellschaft sollte es sein, so formulieren es junge Aktivist_innen der französischen Génération Identitaire in einem pathetisch daherkommenden Video im Herbst 2012. Die Identitären sehen sich als Verteidiger_innen Europas gegen eine behauptete Invasion durch den Islam und setzen sich in ihrer Inszenierung in eine geschichtliche Tradition. So tauchen auf ihren Bannern und Grafiken beispielsweise immer wieder die Ziffern „723“ auf – die Jahreszahl der Schlacht um Tour und Poitiers, bei der fränkische Truppen unter Karl Matell die aus Spanien vorrückenden muslimischen Mauren zurückgeschlagen haben sollen. Auch auf die Jahreszahlen 1529 und 1683 wird regelmäßig Bezug genommen, sie markieren die gescheiterten Versuche der Eroberung Wiens durch das Osmanische Reich.

In ihrer Bild- und Symbolsprache greift die IB darüber hinaus klassische Themen und Begriffe der extremen Rechten auf. Heimat, Volk, Kultur und Tradition sind zentrale Schlagworte. Im Auftreten zelebrieren sich die Identitären mittlerweile weniger als noch zu Anfang als hippe, zu Techno tanzende Jugendliche, sondern stellen häufig eine kitschige bis mythische Heimatverbundenheit in den Vordergrund, die sich stilistisch an die völkische Jugendbewegung anlehnt.

Rezeption

Für die Popularisierung der Identitären innerhalb der extremen Rechten in Deutschland sorgte gerade zu Beginn die „neurechte“ Schüler- und Studentenzeitung Blaue Narzisse. Auch die Sezession, das Hausblatt des Instituts für Staatspolitik, gab den Identitären in einem Sonderheft im Mai 2013 viel Raum. Patrick Lenart schrieb dort über die IB in Deutschland: „Nach Jahrzehnten ohne erfolgreichen Widerstand wurde die linksextreme Diskurshoheit endlich breitenwirksam angegriffen [...] Provokation ist also weiterhin das Gebot der Stunde, denn es gilt, in die von Linken besetzte Öffentlichkeit vorzustoßen.“ Dass die IB durch die „Neue Rechte“ als junge Hoffnung angesehen wurde, überrascht nicht. Götz Kubischek und Felix Mentzel hatten bereits 2008 mit ihrer Konservativ-Subversiven Aktion erfolglos versucht, die verstaubte Studierstube der rechten Theorieproduktion zu verlassen. Mittlerweile ist die IB ein zentraler Bezugspunkt und Akteur im „neurechten“ Netzwerk um Schnellroda geworden.

In den letzten Monaten ist zudem eine enge Kooperation zwischen der IB und Jürgen Elsässer sichtbar geworden. Elsässers Monatszeitschrift Compact widmete den dort als „hip, rebellisch konservativ“ bejubelten „neuen Helden“ den Schwerpunkt ihrer Septemberausgabe. Martin Sellner durfte bei „Compact Live“ in Berlin Mitte September über die IB „aus dem Nähkästchen“ plaudern und war als Referent bei der für den 29. Oktober 2016 geplanten, nun aber geplatzten Compact-Konferenz in Köln angekündigt.

Auch die Jugendorganisation der NPD, die Jungen Nationaldemokraten (JN), setzte sich 2013 in ihrer Zeitschrift Der Aktivist mit der IB auseinander. Grundsätzlich begrüßte dort die JN „den Versuch eine neue rechte […] Jugendbewegung in Deutschland zu etablieren“. Kritik übte der Autor Michael Schäfer an den Distanzierungen der IB Deutschland von extrem rechten Positionen sowie dem Versuch, die damals noch unkoordiniert im Internet entstehende „Bewegung“ in einer festen Struktur der IB Deutschland zu zentralisieren. Obwohl einige JN-Aktivist_innen auch in der IB aktiv sind, stellt die Bewegung durchaus eine Konkurrenz im Spektrum der extremen Rechten dar, setzt sie doch auf Themen, Aktionen und Formen der Inszenierung, die auch die JN für sich beansprucht. In NRW zeigte sich die militante Neonaziszene gegenüber dem Auftauchen der IB ablehnend. Die Rechte Wuppertal postete im Mai 2013 auf ihrer Facebook-Seite klar und deutlich: „Identitäre Spinner sind hier nicht erwünscht [...], kein Teil der nationalen Bewegung!“

Identitäre in NRW

In NRW tauchten ab Ende 2012 eine Reihe von Facebook-Gruppen unter dem Label „Identitäre Bewegung“ auf. Abseits ihrer Online-Präsenzen waren diese Gruppen jedoch kaum wahrnehmbar. Der rassistische Blog PI-News berichtete: „In Köln hat die dortige Gruppe der Identitären Bewegung ein erstes Zeichen gesetzt: Eine Aufkleberoffensive mitten im weihnachtlichen Trubel“. Auch an anderen Orten versuchten lokale IB-Ableger, mit kleineren Aktionen sichtbar zu werden, wurden aber kaum über ihren eigenen Wirkungskreis hinaus wahrgenommen. Im April 2013 versuchten IB-Aktivist_innen in Münster, mit der „Rückbenennung“ des heutigen Schlossplatzes in „Hindenburgplatz“ an die stadtinternen Debatten aus dem Vorjahr anzuschließen. In Ostwestfalen schüttete Weihnachten 2013 eine sich als IB Hermannsland bezeichnende Gruppe Schutt vor das Büro der Grünen in Paderborn. Dass sie damit gegen die Grünen in München protestieren wollte, weil diese eine kritische Auseinandersetzung mit dem Mythos der Trümmerfrau in der bayrischen Landeshauptstadt angestoßen hatten, erklärte die IB zwar in einem beigelegten Flugblatt. Warum sie dies ausgerechnet in Paderborn taten, erschloss sich daraus jedoch nicht.

Im Dezember 2013 veröffentlichte die IB Deutschland auf ihrer Facebook-Seite eine Liste von insgesamt 62 angeblichen Ortsgruppen, darunter 13 aus NRW. Bei vielen dieser Gruppen ist allerdings unklar, ob es sich um mehr als einen Facebook-Auftritt gehandelt hat. Kontakt und Vernetzung zwischen den Personen und Gruppen in NRW bestanden aber dennoch. Die IB Münster lud Anfang Oktober 2013 per E-Mail zu einer „Wanderung vom Hermannsdenkmal zu den Externsteinen [...] gemeinsam mit anderen Orts-IB´s“ für den 20. Oktober ein. Einen Tag später erschien auf Youtube ein Videozusammenschnitt der Wanderung, in dem eine Handvoll identitärer Aktivist_innen Lambda-Fahnen schwingend auf den Externsteinen posiert.

Doch bereits kurze Zeit später kam es im Rheinland zur Spaltung. Vom 29. bis 31. August 2014 hatte das „Identitäre Sommerlager Rheinland“ noch in Melanie Dittmers Wohnort Bornheim stattgefunden. In einem von der IB Rheinland veröffentlichten Bericht ist von 30 Teilnehmenden die Rede. Neben Vorträgen und Ausflügen diente das Camp eigenen Aussagen zufolge vor allem der Vernetzung. Auch bei dem nur wenige Tage später stattfindenden „neurechten“ „Zwischentag“ am 6. September 2014 im Haus der Breslauer Burschenschaft der Raczeks zu Bonn (LOTTA#57 S.62 ff) präsentierte sich Dittmer als Aktivistin der IB. Ihrer Aussage nach habe es jedoch Differenzen über die Kooperation mit der offen militanten und neonazistischen Rechten gegeben. Auch die mangelnde Abgrenzung Dittmers von der NPD passt nicht zum Konzept der IB. Dittmer gründete so kurzerhand die Abspaltung Identitäre Aktion.

Vereinsmeierei und AfD-Geklüngel

Seit April 2014 organisiert sich die IB bundesweit in größeren Regionalgruppen und tritt in NRW als IB Westfalen und IB Rheinland auf. Am 05. Juni 2014 ließ sich im ostwestfälischen Paderborn die Identitäre Bewegung Deutschland e.V. in das Vereinsregister eingetragen. Als Vorsitzende des Vereins sind dort der aus Altenbeken stammende Nils Altmieks und John David Haase aus Düsseldorf vermerkt. Altmieks tritt seither offen als Sprecher der IB Deutschland auf. Die Gründung des Vereins bietet der IB nicht nur die Möglichkeit, ihre Aktionen unter einem Dach zu koordinieren, sondern auch ganz praktische Vorteile wie ein Vereinskonto eröffnen zu können. Dieses Konto bei der Sparkasse Paderborn wurde nach der Aktion am Brandenburger Tor als Spendenkonto verwendet. Zu einem Anfang März 2016 organisierten „Deutschlandtreffen“ auf Burg Lohar in Thüringen reisten 120 Aktivist_innen an. Seit dem Treffen ist Sebastian Zeilinger aus Bayern neuer stellvertretender Vorsitzender des Vereins. Am 07. Oktober 2016 berichtete der NDR, der Verein wolle seinen Sitz nach Norddeutschland verlegen.

Als am 13. Mai 2016 auf der AfD-Kundgebung in Paderborn Björn Höcke als Redner auftrat, war die IB vor Ort und mit ihr auch David Mühlenbein. Mühlenbein war nicht nur an der Gründung des Identitäre Bewegung Deutschland e.V. beteiligt und ist regelmäßig auf Aktionen der IB zu sehen - beispielsweise verteilte er zusammen mit weiteren Aktivist_innen Anfang August während des Stadtfestes Pfefferspray und Flugblätter in der Innenstadt von Paderborn. Er war im Januar 2014 auch bei der Gründung der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative in Paderborn dabei. Berührungsängste zwischen AfD und IB scheint es in Paderborn nicht zu geben. Auf der Kundgebung der AfD bewarben die Identitären einen für den 11. Juni im „Raum Bielefeld“ angekündigten „Alternativen Kulturkongress“. Dort sollte neben Björn Höcke ursprünglich auch Martin Sellner als Referent auftreten. Der „Alternative Kulturkongress“ wurde jedoch kurzfristig von den Veranstaltern abgesagt, soll aber im Herbst dieses Jahres nachgeholt werden. Anstelle eines großen „Kongresses“ mit mehreren Referenten fand am 16. Juli in einer Dorfkneipe in der Nähe von Paderborn zumindest eine Veranstaltung mit Martin Sellner statt. Der identitäre Netzwerker soll darüber hinaus bei der „Bielefelder Idenwerkstatt“ der Burschenschaft Normannia Niebelungen am 5. und 6. November 2016 sprechen.

Medialer Erfolg

Auch wenn die IB sich von Anfang an als Stimme ihrer Generation und als Jugendbewegung zu inszenieren versucht hat, ist die tatsächliche Zahl der Aktivist_innen bisher überschaubar geblieben. Als am 17. Juni 2016 die erste Demonstration der IB in der Bundesrepublik durch Berlin zog, beteiligten sich daran etwa 150 Personen, die aus dem gesamten Bundesgebiet angereist waren. Und dennoch funktioniert ihre mediale Strategie der Selbstinszenierung über Videoplattformen und soziale Netzwerke, ihre letzten Aktionen fanden öffentlich verhältnismäßig viel Beachtung. Zudem scheint die IB im Fahrwasser der Proteste rassistischer „besorgter Bürger_innen“ oder diverser PEGIDA-Ableger und AfD-Kundgebungen derzeit in bester Gesellschaft. Sie kann sich in diesem Umfeld als attraktive rechte, aktivistische junge Gruppierung einbringen, weil sie sich vordergründig abseits gebrandmarkter neonazistischer Gruppierungen positioniert. Im Netzwerk der „Neuen Rechten“ wird sie dafür als aktionistische Avantgarde gefeiert.

„Die Anomalie Breivik“ | Interview mit der Soziologin Mia Eriksson

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Vor fünf Jahren erschütterten zwei Anschläge die norwegische Gesellschaft. Am 22. Juli 2011 zündete Anders Behring Breivik in Oslo eine Autobombe, die acht Menschen tötete. Wenige Stunden später erschoss er auf der Insel Utøya 69 Menschen, darunter viele Jugendliche, die an einem Zeltlager einer sozialdemokratischen Jugendorganisation teilnahmen. In seinem „Manifest“ erklärte sich Breivik zum „Tempelritter“, der gegen den Islam und den „Kulturmarxismus“ kämpfe.

2012 wurde Breivik zur Höchststrafe von 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Nach dem Schock über die Mordtaten setzte eine Debatte über den Täter und seine Motive ein. Die Soziologin Mia Eriksson von der Universität Göteborg hat zur Sicht der Öffentlichkeit auf den Täter Breivik geforscht.

Frau Eriksson, Sie haben jüngst eine Studie über die Rezeption der Mordtaten des Anders Behring Breivik verfasst. Was war der Fokus Ihrer Arbeit?

Ziel meiner Dissertation war es zu untersuchen, wie Breivik und die von ihm durchgeführten terroristischen Attacken erklärt und verstanden wurden. Ich wollte nachvollziehen, was den weißen norwegischen Terroristen ausmacht und wie über ihn gesprochen werden kann. Ich wollte den Fokus verschieben: weg von Breivik und hin zum gesellschaftlichen Kontext. Dafür habe ich die Bücher der norwegischen Journalist*innen Åsne Seierstad, Aage Borchgrevink and Erika Fatland untersucht. Außerdem eine Handvoll populärwissenschaftlicher und journalistischer Artikel. Gemein ist allen Texten, dass sie versuchen, Breiviks Radikalisierung anhand seiner Person zu erklären und dabei die sozialen und kulturellen Aspekte außer Acht lassen.

Wurden Breiviks Taten in der Öffentlichkeit als terroristische Anschläge bewertet?

Ja. Durch die Gewalttätigkeit der Angriffe und das von Breivik veröffentlichte Manifest ist es unmöglich gewesen, seine Aktionen nicht als Terrorismus einzustufen.

Wie ist denn die Sicht auf den Täter Breivik, der ja bis dahin ein eher unauffälliges Mitglied der norwegischen Mehrheitsgesellschaft war?

Natürlich gibt es verschiedene Sichtweisen in der Öffentlichkeit. Allerdings herrscht in den Texten, die ich untersucht habe, die Interpretation vor, Breivik sei eine Anomalie. Die Gründe für seine Radikalisierung werden in seiner Persönlichkeit und in seinen individuellen Erfahrungen gesucht, nicht in seinem politischen und sozialen Umfeld.

Wurden seine Verbrechen so schlussendlich entpolitisiert?

Ja, allerdings nur bis zu einem gewissen Grad. Der politische Hintergrund der Taten wurde im Allgemeinen schon wahrgenommen. Allerdings wurden Breiviks Motive oft als „irrational“ oder „nicht wirklich politisch“ beschrieben. In den von mir untersuchten Texten werden seine politischen Überzeugungen zudem oft als Folge seiner psychologischen Disposition und seiner schwierigen Kindheit interpretiert, weniger als tatsächlicher Antrieb für seine Taten.

Breivik verfasste ein langes, in großen Teilen aus Beiträgen von rassistischen Autoren zusammenkopiertes „Manifest“, in dem er seine Ideologie darlegte. Fand eine öffentliche Auseinandersetzung mit diesem Text statt?

Ja, allerdings wurde das Manifest vorwiegend als Ausdruck eines gestörten Geistes und nicht als politische Aussage behandelt. Ein Beispiel: Sein Manifest beinhaltet eine stattliche Menge homophober und frauenverachtender Passagen. Diese Aussagen werden aber nicht als Positionen wahrgenommen, die in einem politisch rechtem Spektrum zu verorten sind. Stattdessen werden sie als Beweise für Breiviks Kampf mit seiner eigenen Sexualität und seiner schwierigen Beziehung zu seiner Mutter verstanden. Es gab eine Tendenz, die Person Breivik anhand seines Manifests einer Psychoanalyse zu unterziehen. Es wurde hingegen kaum versucht, das politische Weltbild, welches das Manifest prägt, zu verstehen.

In einigen deutschen Medien wurden 2011 die Taten Breiviks in Bezug zu der rassistischen Agitation von rechten Bloggern gesetzt sowie Parallelen zwischen Breiviks Ideologie und der durch das rassistische Blog „Politically Incorrect“ verbreiteten Inhalte gezogen. Gab es eine ähnliche Diskussion auch in Skandinavien?

Solche Diskussionen wurden in der Tat geführt. Insbesondere darüber, ob und wie Breivik von Bloggern wie Fjordman und Gates of Vienna inspiriert wurde. Allerdings wurde daraus, zumindest in den Mainstream-Medien, an keiner Stelle der Schluss gezogen, dass die extreme Rechte in irgendeiner Form für Breiviks Taten mitverantwortlich gewesen sei. Die Gewalt diente hier als Trennlinie: Die extreme Rechte galt als ungefährlich und bis zu einem gewissen Grad als legitimer politischer Akteur, da ihr Nationalismus, Rassismus und so weiter als reine Rhetorik gesehen wurde. Breivik hat diese Überzeugungen hingegen in Gewalt umgesetzt. Damit hat er eine Grenze überschritten und wurde nicht mehr als Teil der extrem rechten Parteien und Organisationen angesehen, die lediglich darüber sprechen, welche Menschengruppen erwünscht und welche unerwünscht sind.

Sind Breiviks Beziehungen zur extremen Rechten untersucht worden oder galt er als „isolierter Einzeltäter“?

Es existiert eine Menge an Forschung zu seiner Beziehung zu rechten sowie extrem rechten Parteien und Organisationen. Aus dieser Forschung kann der Schluss gezogen werden, dass Breivik ideologisch in diesen Kontext gestellt werden kann und auch sollte, seine Terroraktionen jedoch von ihm alleine geplant und durchgeführt wurden. Leider haben diese Forschungsergebnisse außerhalb akademischer Kreise nur wenig Beachtung gefunden.

Hat sich die Sicht auf den Täter Anders Breivik durch den Prozess verändert?

Ich denke, den größten Wendepunkt stellte das Ergebnis der zweiten psychologischen Untersuchung Breiviks dar, die ihm attestierte, psychisch gesund zu sein. Denn damit hat sich die Wahrnehmung seiner Person verändert: Das Bild von einem irrational handelnden psychisch Kranken wurde langsam ersetzt. Breivik wurde nun immer mehr als kalt, berechnend und vor allem als narzisstisch wahrgenommen. Womit er für seine Taten die volle Verantwortung trägt.

Aktuell ist auch in Skandinavien im Zusammenhang mit der Debatte um Asylsuchende ein Anstieg rassistischer Gewalt zu verzeichnen. Sieht die Öffentlichkeit die Gefahr, dass sich rassistische Täter Breivik zum Vorbild nehmen und ähnliche Taten verüben könnten?

Es ist wirklich schwer, das zu beantworten. In dem Jahr nach den Anschlägen Breiviks war es in keinem skandinavischen Land möglich, mit ihm offen zu sympathisieren. Selbst extrem rechte Organisationen haben sich von Breivik distanziert. Ich denke, das hat über die Jahre nachgelassen. Nationalistische und rassistische Aussagen werden immer mehr als normal angesehen. Dadurch steigt das Risiko gewalttätiger Angriffe durch Gruppen und Einzelpersonen, die diesen Ideologien anhängen.

Vielen Dank für das Interview!

Altenaer Brandstifter vor Gericht | Normalitäten und rassistische Kontiunitäten der "deutschen Mitte"

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Durch den Brandanschlag auf ein von syrischen Geflüchteten bewohntes Haus in der sauerländischen Kleinstadt Altena (Märkischer Kreis) und das daraufhin folgende Strafverfahren erhielt die Debatte um den Rassismus der „deutschen Mitte“ neues Futter. Eindrucksvoll kristallisierte sich heraus, dass Rassismus kein extrem rechtes Rand-, sondern ein in allen gesellschaftlichen Schichten verankertes Alltagsphänomen ist.

Altena in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 2015: Dirk D. und Marcel N. sind auf dem Weg zu einem Wohnhaus, in dem seit Kurzem zwei syrische Familien leben. Einige Stunden zuvor hatten sie an einer Tankstelle Benzin gekauft und waren dann gemeinsam zu einem Kumpel gefahren, um eine Runde Playstation zu spielen. Nun wollen sie ein Wohnhaus anzünden. Um in das Haus einzubrechen, schlagen sie das Fenster der Hintertür ein. Anschließend besteigen sie über eine Luke den Dachboden. Hier verteilt D., hauptberuflich Feuerwehrmann, etwa 1,8 Liter Benzin auf die Stützbalken, um dann den Brandbeschleuniger zu entzünden. Bevor sich D. und N. vom Tatort entfernen, trennt einer der beiden noch das Kabel eines Verteilerkastens ab, um Telefonleitung und Brandmeldeanlage unbrauchbar zu machen. Erst am Vormittag wird der Schwelbrand entdeckt. Glücklicherweise wird niemand verletzt.

Unpolitische Hitler-Bilder in einer Kleinstadt-Idylle

Szenenwechsel: Knapp acht Monate später müssen sich der 25-jährige D. und der 23-jährige N. vor dem Landgericht Hagen verantworten. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen schwere gemeinschaftliche Brandstiftung vor. Die Nebenklage – gestellt durch eine der vom Anschlag betroffenen Familien – spricht von versuchtem Mord. Das Gericht schließt den Tatbestand des versuchten Mords zumindest nicht aus. Die beiden Angeklagten wirken unscheinbar. Sie leben und arbeiten in Altena und sind zuvor nie auffällig gewesen. Was veranlasst also zwei junge Erwachsene – die auf ein intaktes Elternhaus und eine unbescholtene Jugend zurückblicken – dazu, in einer nächtlichen Aktion einen Brandanschlag zu verüben? Diese Frage wird das Gericht an allen zwölf Verhandlungstagen beschäftigen. Und sie bringt eben jene abstruse These, nach der die „unpolitische Mitte“ mit der extremen Rechten nichts gemein habe, gründlich ins Wanken.

Der erste Verhandlungstag beginnt mit den Geständnissen und Ausführungen der Angeklagten zur Tatnacht und den vorangegangenen Stunden. D. und N. gestehen die Tat nahezu lückenlos. Einzig die Verantwortung für das abgetrennte Verteilerkastenkabel lassen sie offen, hierfür beschuldigen sie sich gegenseitig. Sie geben an, aus Angst vor dem Zuzug von Geflüchteten gehandelt zu haben und weil sie sich Sorgen um ihre Angehörigen gemacht hätten. Im Verlauf des Prozesses werden eine Reihe Zeug*innen gehört – von Partnerinnen über Anwohner*innen, Bekannte und Freund*innen, bis hin zu Sachverständigen und Polizeibeamten. Durch das Gros der Aussagen der ortsansässigen Zeug*innen ergibt sich ein interessantes Bild: Altena scheint die einzige Stadt in Deutschland zu sein, in der es keinen „Negativ-Diskurs“ zum Thema Geflüchtete gab und gibt. Weder die Angeklagten, noch andere Gesprächspartner*innen hätten sich jemals negativ zu der Thematik geäußert, man habe entweder „ganz normal“ oder überhaupt nicht darüber gesprochen. Eine rechte Gesinnung der Angeklagten wird von allen Zeug*innen negiert, es seien nie Gespräche geführt worden, die zu einer solchen Annahme Anlass geboten hätten. Erst die Auswertung der sichergestellten Datenträger des Angeklagten D. bringt etwas Licht ins Dunkel dieser Auffassung von „Normalität“. Neben diversen Hitler-Portraits mit Slogans wie „Moin Kameraden“ sind etliche Abbildungen von NS-Symboliken zu sehen. Hakenkreuze in unterschiedlichen Ausführungen, wenig lustige „Witzbildchen“, die eigentlich durchweg Hitler abbilden oder sich rassistisch über Menschen nicht-weißer Hautfarbe lustig machen. Daneben eröffnen die Materialien einen Blick in das sexistische und chauvinistische Frauenbild des Angeklagten. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Auswertung der Datenträger durch die eigenständige Inaugenscheinnahme der Nebenklage vorgenommen worden war (52.000 Dateien). Der Polizeiliche Staatsschutz Hagen hatte zuvor angegeben, keinerlei Hinweise gefunden zu haben, die auf eine politische Motivation deuteten – was offenbar auch die Ansicht des Staatsanwalts war, der von „geschmacklosen Darstellungen“ sprach, die aber nun einmal gesellschaftlicher Normalität entsprächen. Das Gesamtbild, das sich nach der Sichtung der Datenträger ergibt, widerspricht der These vom unpolitischen „Mitte“-Bürger deutlich. Zwar sind D. keine konkreten Kontakte zur organisierten, ideologisch gefestigten extremen Rechten nachzuweisen, dennoch liked er die NPD auf Facebook, schickt über WhatsApp Hitler-Bildchen durch die Gegend – und zündet ein von Geflüchteten bewohntes Haus an.

Hass auf alles „Fremde“

Nimmt mensch nun Abstand vom Bild des unpolitischen „Mitte“-Bürgers, dann schließt sich ein Kreis, in dessen Zentrum Rassismus und NS-Nostalgie den Ausgangspunkt für Vertreibungs- und Vernichtungsphantasien bilden. D. und N. sind Paradebeispiele für das, was verharmlosend als „Wutbürger“ betitelt wird, ohne zu berücksichtigen, dass es weniger die Wut an sich ist, die Häuser anzündet und Menschen ihre Existenzberechtigung abspricht, sondern vielmehr das, was die Wut überhaupt erst erzeugt. Und das ist hier, wie in vielen anderen Fällen auch, der pure Hass auf alles, was außerhalb des „Wir“ steht. Ein „Wir“, das sich frei definieren und jederzeit deformieren lässt, indem „die anderen“ als nicht dazugehörig deklariert werden. Geflüchtete gehören für einen nicht unbedeutenden Teil der Bevölkerung nicht dazu – sie sind unerwünscht. Der Prozess um zwei junge Menschen aus „der Mitte“ hat gezeigt, dass sich auch hier – und eben nicht nur am „Rand“ – eine extrem rechte Gesinnung verfestigen kann, die ihren Hass auf alles „Fremde“ in Gewaltakten wie Brandstiftungen kanalisiert. Erwähnenswert ist zudem, dass diese Erkenntnis nicht nur von der

Nebenklage formuliert wurde, sondern auch von der Richterin. Wegen schwerer Brandstiftung und aufgrund der niederen Motivlage der Angeklagten wurde D. zu sechs und N. zu fünf Jahren Haft verurteilt. In der Urteilsbegründung wies die Richterin darauf hin, dass die Beweisaufnahme eine deutlich „ausländer- und fremdenfeindliche“ Gesinnung bei den Angeklagten belegen konnte, jedoch an keiner Stelle „Angst“ oder „Sorge“. Die Rechtsanwälte der Nebenklage teilten nach dem Urteil via Pressemitteilung mit, dass sie „auch nach diesem Urteil Anhaltspunkte für einen versuchten Mord“ sehen: „Deswegen werden wir das Urteil prüfen und gegebenenfalls Revision einlegen.“

Flüchtlingsschutz ohne Zukunft? | Der Angriff auf das individuelle Asylrecht

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Seit Herbst 2015 gibt es auf europäischer und deutscher Ebene zahlreiche Asylrechtsverschärfungen, die das individuelle Recht auf Asyl im Kern angreifen. Die herrschende Politik versucht damit eine scheinbare Handlungsmacht zu demonstrieren. Dem Aufschwung völkischer und rassistischer Parteien lässt sich mit einer verschärften Asylpolitik jedoch nicht begegnen. Ganz im Gegenteil: Die Wahlerfolge von AfD & Co. demonstrieren, dass eine progressive Flüchtlingspolitik, also die Ausweitung von Rechten sowie der legale Zugang zu Fluchtwegen, bitter nötig wäre.

Im März 2016 schloss die EU mit der Türkei einen Deal, mit dem die Flucht über die Ägäis-Route faktisch unterbunden wird. Türkische Sicherheitskräfte sorgen nunmehr dafür, Flüchtlinge bereits in türkischen Gewässern an der Abfahrt nach Europa zu hindern. Im Gegenzug hat die EU die Zahlung von drei Milliarden Euro an die Türkei zugesagt. Entgegen den Plänen der EU weigern sich allerdings viele griechische Verwaltungsgerichte, die Türkei als „sicheren Drittstaat für Flüchtlinge“ zu behandeln. Abschiebungen von Asylsuchenden in das Land finden kaum statt. Durch die Schließung der Balkan-Route sind die betroffenen Menschen aber praktisch in Griechenland eingesperrt. Aufgrund der humanitär unhaltbaren Zustände kam es im Herbst 2016 zu Aufständen in den Lagern von Moria oder auf Chios.

Das „EU-Asylpaket“

Die EU-Kommission hält dennoch unbeirrt daran fest, den Flüchtlingsschutz sukzessive auszulagern. Sie hat inzwischen einen Reformentwurf für ein neues „EU-Asylpaket“ vorgelegt und plant, mit einer Änderung der sogenannten Dublin-Verordnung die ohnehin marginalen Rechte von Asylsuchenden in Europa weiter auszuhebeln. Die Dublin-Verordnung regelt die Zuständigkeit für Asylverfahren in der EU und statuiert, dass der Staat der ersten Einreise vorrangig die Asylanträge bearbeiten soll. Am Ersteinreisekriterium will die Kommission festhalten, obschon dessen Unzulänglichkeit nicht zuletzt durch die aktuelle Krise des Flüchtlingsschutzes offensichtlich geworden ist.

Darüber hinaus will sie für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich festlegen, dass die Asylanträge von Personen als unzulässig abgelehnt werden, die aus angeblich sicheren Drittstaaten und angeblich sicheren Herkunftsstaaten eingereist sind. Hierzu verhandelt die EU bereits mit nordafrikanischen Staaten wie Libyen und Ägypten. Außerdem ist geplant, die Türkei trotz der faschistischen Tendenzen, die seit dem gescheiterten Putsch vom Juli 2016 zutage treten, auf die Liste der angeblich sicheren Herkunftsstaaten zu setzen. Das Ziel ist, dass kaum noch Flüchtlinge das Recht haben, in Europa ihre Asylanträge zu stellen. Sollte dieses EU-Asylpaket verabschiedet werden, dürften seine Auswirkungen noch weiter reichen als der „Asylkompromiss“ von 1993.

„Gute“ und “schlechte“ Flüchtlinge

Auch in Deutschland wurden das Aufenthalts- und das Asylgesetz umfassend geändert. Bereits im Oktober 2015 wurde die Liste angeblich sicherer Herkunftsstaaten um Albanien, Kosovo und Montenegro erweitert. Entgegen allen Behauptungen, in diesen Staaten gebe es keine asylrelevante Verfolgung, haben Menschenrechtsorganisationen dokumentiert, dass beispielsweise Roma strukturell aus dem Bildungs- und Sozialsystem ausgeschlossen werden und der Staat ihnen bei rassistisch motivierten Straftaten nicht hilft.

Hatte sich noch ein Jahr zuvor bei den Landesregierungen mit grüner Beteiligung erhebliche Kritik am Alleingang des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann bei der damaligen Einstufung der Westbalkan-Staaten als „sichere Herkunftsländer“ geregt, so stimmten unter dem Druck der politischen Stimmung fast alle Landesregierungen den Verschärfungen beim Asylpaket I zu. Kommt jemand aus einem „sicheren Herkunftsstaat“, so ist der Begründungsaufwand im Asylverfahren deutlich höher. Asylsuchende müssen dann beweisen, dass sie ganz speziell verfolgt sind, obschon das Land per Gesetz als sicher gilt. Die Erfahrung zeigt, dass solche Asylverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sehr schnell durchgeführt werden und sich in den Entscheidungen oft nur Textbausteine finden, ohne auf die individuelle Situation der Betroffenen einzugehen. Eine Rechtsberatung durch Anwält*innen findet ebenfalls kaum statt.

Asylsuchende aus sicheren Herkunftsstaaten sind zudem vielfältigen Sonderregelungen unterworfen, die mit dem Gleichheitssatz des Grundgesetzes kaum vereinbar sind: Sie unterliegen einem unbeschränkten Arbeitsverbot, sind zu Integrationskursen nicht zugelassen und müssen bis zur Abschiebung in den Erstaufnahmeeinrichtungen verbleiben. Ihnen drohen zudem Wiedereinreisesperren, wenn sie abgeschoben werden. Mit einem rechtsstaatlichen Asylverfahren hat dies kaum etwas zu tun.

Abschieben um jeden Preis

Ganz auf der Linie der aktuellen Abschiebepropaganda hat der Gesetzgeber zahlreiche Verschärfungen verabschiedet, um die Ausreise abgelehnter Asylsuchender durchzusetzen. Sehr schwerwiegend ist die nun bundeseinheitlich verpflichtende Norm, dass Abschiebungen nicht mehr angekündigt werden dürfen. Damit werden Überraschungsabschiebungen in der Nacht zur polizeilichen Regel.

Im Gesetz findet sich überdies die neue Vermutung, dass gesundheitliche Gründe der Abschiebung nicht entgegenstünden. Die Betroffenen können die Vermutung nur widerlegen, wenn sie innerhalb kurzer Zeit eine qualitativ ausreichende Bescheinigung vorlegen können. Da Asylsuchende oft nur unzureichende Möglichkeiten haben, Ärzt*innen zeitnah aufzusuchen, hat dies in der Praxis verheerende Wirkungen. Denn sollte das Attest nicht vorliegen, kann die Ausländerbehörde die Abschiebung anordnen, selbst wenn ihr offensichtlich ernsthafte gesundheitliche Gründe entgegenstehen. Die Abschiebung darf nur dann ausgesetzt werden, wenn schwerwiegende oder lebensbedrohliche Erkrankungen vorliegen. Laut Gesetzgeber zählen posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) nicht dazu. Doch gerade traumatische Erlebnisse führen bei Flüchtlingen oft zu Suizid-Versuchen. Wer PTBS per Gesetz bagatellisiert, spielt bewusst mit dem Leben der Betroffenen.

Weniger Bewegungsfreiheit

Auch die Freizügigkeit von Asylsuchenden und Flüchtlingen wurde durch die jüngsten Gesetzesänderungen erheblich eingeschränkt. Asylsuchende können jetzt bis zu sechs Monate lang in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht werden, in denen sie oft mit Sachleistungen abgespeist werden. Entsprechend wird auch die Residenzpflicht verlängert.

Eine ganz neue Einschränkung müssen selbst anerkannte Flüchtlinge über sich ergehen lassen: Durften sie nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Asylverfahrens frei entscheiden, wo sie wohnen wollen, unterliegen sie seit Juli 2016 einer Wohnsitzauflage. Sie müssen dort bleiben, wohin sie der Staat im Asylverfahren verteilt hatte. Ein Umzug ist nur möglich, wenn sie einen Arbeits- oder einen Ausbildungsplatz erhalten oder ein Studium aufnehmen. Klar ist aber auch: Für Flüchtlinge ist es besonders schwierig, eine Beschäftigung zu finden, wenn sie fernab der Ballungszentren zwangsweise festgesetzt werden.

Weniger Familiennachzug

In der Öffentlichkeit wurde sehr intensiv über die Aussetzung des Familiennachzugs für sogenannte subsidiär Schutzberechtigte diskutiert. Subsidiären Schutz erhalten jene, die nicht als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden, denen aber in ihrem Herkunftsland Folter, Misshandlung oder eine unmenschliche Behandlung drohen.

Entschied das BAMF im Jahr 2015 noch in sehr wenigen Fällen auf subsidiären Schutz, so änderte das Amt nach der Verabschiedung des Asylpakets II vom März 2016 seine Anerkennungspraxis. Mittlerweile bekommt zum Beispiel ein Großteil der syrischen Flüchtlinge nur noch subsidiären Schutz - und damit sind sie vom Recht auf Familiennachzug ausgeschlossen. Die Angehörigen müssen dann schutzlos in den Kriegs- und Krisengebieten zurückbleiben.

Neoliberales Flüchtlingsrecht

Durch die jüngste, euphemistisch als „Integrationsgesetz“ betitelte Asylrechtsverschärfung vom Juli 2016 wird faktisch die „Agenda 2010“-Politik auf den Bereich des Flüchtlingsschutzes angewandt. Asylsuchende können jetzt verpflichtet werden, Arbeitsgelegenheiten aufzunehmen, die mit 0,80 Euro pro Stunde vergütet werden. Weigern sich die Betroffenen, so drohen ihnen Leistungskürzungen bei der sozialen Grundversorgung. Ohnehin wird der Arbeitsmarkt immer stärker mit dem Asylverfahren verzahnt. Hierfür stand schon die Ende 2015 getroffene Personalentscheidung, Frank-Jürgen Weise in Personalunion die Leitung sowohl des BAMF als auch der Bundesagentur für Arbeit zu übertragen.

Die Angaben der Flüchtlinge über ihre berufliche Qualifikation werden nunmehr von Anfang an zwischen den Ausländerbehörden und den Arbeitsagenturen ausgetauscht, um geeignete Fachkräfte zu identifizieren. Im BAMF selbst wird das Rechtsstaatsprinzip immer stärker vom Effektivitätsprinzip abgelöst. Die Unternehmensberatung McKinsey wurde verpflichtet, die Verfahrensabläufe zu „optimieren“. Die Agentur sorgt aber vor allem dafür, dass Asylverfahren schneller abgearbeitet werden - zu Lasten der Qualität.

Von Leistungskürzungen bei der sozialen Grundversorgung sind auch Personen betroffen, bei denen vermutet wird, die Abschiebung könne aus „von ihnen selbst zu vertretenden Gründen“ nicht durchgeführt werden. In der Praxis trifft dies einen Großteil der Geduldeten, denn die Ausländerbehörden unterstellen ihnen, mutwillig Identitätsdokumente nicht vorgelegt zu haben. Den Betroffenen wird dann vollständig die Zahlung von Bargeld gekürzt.

Dies steht im krassen Widerspruch zu einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Juli 2012. Das oberste Gericht hatte damals klar entschieden, dass die Würde des Menschen auch bei Flüchtlingen nicht relativiert werden darf. Zur Menschenwürde zählt das Verfassungsgericht insbesondere ein menschenwürdiges Leben, das sozialstaatlich durch die Gewährung eines sozio-kulturellen Existenzminimums sichergestellt wird. Die Menschen sollen nicht nur mit Nahrung und Unterkunft versorgt werden, sondern auch über die finanziellen Mittel verfügen, um am kulturellen und gesellschaftlichen Alltagsleben teilzunehmen. Wieder einmal zeigt sich, dass der Gesetzgeber verfassungswidrige Gesetze auf Zeit verabschiedet, bis irgendwann einmal ein Fall erneut das Bundesverfassungsgericht erreicht.

Das Asylrecht unter Druck

Das individuelle Recht auf Asyl steht massiv unter Druck. Die pauschale Einstufung von immer mehr Staaten zu sicheren Herkunftsländern, die Neoliberalisierung des Asylrechts, härtere Abschieberegeln und die Auslagerung des Flüchtlingsschutzes an autoritäre Regime außerhalb der EU sind zugleich ein genereller Angriff auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auf eine emanzipatorische Trendwende ist leider kaum zu hoffen. Sollten Faschisten und völkische Nationalisten bei den kommenden Wahlen in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland ihre jüngsten Erfolge wiederholen, dürfte sich die Frage stellen, ob das Asylrecht überhaupt noch eine Zukunft hat.

„Tief gespalten“ | Die AfD in NRW

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Nordrhein-Westfalen ist mit seinen 4.200 Mitgliedern der größte Landesverband der „Alternative für Deutschland“ und gilt als wichtige Machtbasis für Bundessprecherin Frauke Petry. Doch dem mit ihr politisch und privat verbandelten NRW-Vorsitzenden Marcus Pretzell weht ein kräftiger Gegenwind verschiedener Strömungen entgegen.

Fast konnte man sich an den Essener AfD-Bundesparteitag Mitte 2015 erinnert fühlen, als die Basis Bernd Lucke - bis dahin das Gesicht der Partei - niedergebuht und vom Hof gejagt hatte. Ein paar Monate später, Ende November 2016 in Rheda-Wiedenbrück, stand der NRW-Vorsitzende Marcus Pretzell am Rednerpult eines Landesparteitags und musste sich empörter Zwischenrufe und des höhnischen Gelächters aus dem Saal erwehren. So laut war es schließlich, dass er genervt den Versammlungsleiter bitten musste, für Ruhe zu sorgen. Ganz ähnlich war es Lucke im Jahr zuvor ergangen.

Beschädigter Spitzenkandidat

Anders als Lucke damals kam Pretzell an diesem Tag aber mit einem tiefblauen Auge davon. Ein Antrag, die komplette AfD-Liste zur Landtagswahl - Pretzell an der Spitze und danach fast nur Gefolgsleute - wieder abzuwählen, scheiterte. Zu verdanken hatte er das der Geschäftsordnung: Erforderlich gewesen wäre eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Dieses Quorum wurde zwar verfehlt, doch die Abstimmung zeigte, dass die NRW-AfD in zwei ungefähr gleich große Lager gespalten ist, nach Einschätzung der meisten Beobachter jenes Parteitags mit einem leichten Übergewicht der Pretzell-Gegner. Das heißt auch: Die Partei zieht mit einer Liste in den Wahlkampf, die etwas mehr als die Hälfte ihrer Delegierten am liebsten wieder zurückgezogen hätte.

Politisch beschädigt worden war Pretzell bereits, als ihn die Delegierten bei einer ersten Landeswahlversammlung Anfang September zum Spitzenkandidaten gekürt hatten. Gerade einmal 54 Prozent stimmten für den 43-jährigen Europaabgeordneten, 44 Prozent für seinen öffentlich unbekannten Gegenkandidaten: den Mindener Thomas Röckemann. Pretzell setzte sich zwar durch. Doch gegen einen so blassen und rhetorisch um Klassen unterlegenen Konkurrenten nur etwas mehr als die Hälfte der Delegierten hinter sich zu haben, war faktisch eine Niederlage. „Von außen“ sei nach NRW hineingearbeitet worden, versuchte Pretzell sein dürres Ergebnis zu erklären. Man konnte ahnen, wen er meinte: vor allem Thüringens Landeschef Björn Höcke.

„Kultur des Verrats“

Die AfD sei in NRW „sehr tief gespalten“, hatte Röckemann in seiner Vorstellungsrede gesagt. Er „trete an, um diese Gräben zuzuschütten“. Dass er das bewerkstelligen könnte, mag man bezweifeln. Seine Zustandsbeschreibung passt aber. Das hatte sich vor, zwischen und bei den mittlerweile vier Wahlparteitagen mehr als einmal gezeigt.

Pretzells Gegner beklagten, dass ihre Anhänger bei der Wahl der Parteitagsdelegierten nicht zum Zuge gekommen oder mangels „Zuverlässigkeit“ sogar extra wieder abgewählt worden seien. Stattdessen habe es anonyme Kampagnen gegen sie gegeben. „In manchen 'NRW-Gliederungen' werde eine 'Kultur des Verrats' mit Diffamierungen, Verleumdungen und Abgrenzeritis von einigen wenigen willfährigen, unpolitischen, rückgratlosen und leistungsfernen Gesellen - Hetzern und Spaltern - zum 'Schaden der Partei' praktiziert“, wetterte Thomas Matzke, Kopf der „Patriotischen Plattform“ in NRW.

Doch nicht nur Pretzells Lager hatte dafür gesorgt, dass Delegierter nur werden konnte, wer stramm der richtigen Linie folgte. Wo die „Patriotische Plattform“ das Sagen hatte, konnte man ganz ähnlich rasch ins Aus geschossen werden. Pretzell-Anhänger Berengar Elsner von Gronow aus Soest, einer der beiden Vorsitzenden des AfD-Bundeskonvents, schimpfte: „Es offenbaren sich allerorten menschlich unschöne Charaktere, die nicht überzeugen wollen, sondern übernehmen.“ Glaubt man ihm, ließen die „Usurpatoren“,“Hasardeure“ und „Putschisten“ alle selbst in der AfD wohl üblichen Umgangsformen vermissen: „Es fallen Ausdrücke wie 'Volksverräter', 'Schädlinge'. Die, die nicht auf gewünschte Parteilinie gebracht werden können, sind keine 'Volksgenossen'. Vokabular aus düsteren deutschen Zeiten!“

Der Soester AfD-Funktionär lieferte einen seltenen Einblick, wie erbittert und rücksichtslos man sich im Kampf um Delegiertenposten bekriegte. Einer, der sich auch öffentlich kaum Zurückhaltung auferlegte, war sein Gegenspieler Matzke. Über den AfD-Landesverband notierte er: „Das Krebsgeschwür in NRW ist schon sehr tief gewandert - die Bezirke sind nahezu vollständig erkrankt, viele Kreise schon fast tot.“ Und, offenbar auf Pretzell gemünzt: „Der Fisch stinkt immer vom Kopf, d.h. die 'Führung' und die Strippenzieher, die von Hütchenspielern unterstützt werden, lähmen die wenigen Aktiven in der Partei.“ Matzkes Philippika gipfelte gar in einem NS-Vergleich: „Die Gleichschaltung der Partei in NRW soll nunmehr mit allen Mitteln durchgesetzt werden.““

Die Lage eskalierte weiter, als der Stern im November Auszüge eines WhatsApp-Protokolls veröffentlichte und später auch noch bekannt wurde, dass bei einer der Wahlen zur Landesliste fünf Stimmzettel nicht mitgezählt wurden. Vor allem das WhatsApp-Protokoll empörte viele in der Partei. Auf knapp 90 Seiten war dort nachzulesen, wie forsch und firm die Mitglieder jener Gruppe aus Pretzells Anhängerschaft - von Vorstandsmitgliedern über Mitarbeiter der Geschäftsstelle bis hin zu regionalen Funktionären - bei der Steuerung von Parteitagen agierten.

Kampf gegen Petry

Die Pretzell-Anhänger in NRW waren dumm genug, sich erwischen zu lassen. Sie waren aber nicht die einzigen. Mittlerweile wurden parteiintern weitere WhatsApp-Protokolle bekannt. Darunter mindestens eines von Pretzells Gegnern. Man muss die Texte nicht gelesen haben, um zu ahnen: In einer Partei, die sich zu großen Teilen aus „wutbürgerlichem“ Hass auf Merkel, Maas, „Volksverräter“ und „Lügenpresse“ speist, ist es nur ein sehr kleiner Schritt, bis sich dieser Hass mit gleicher Verve gegen die richtet, die gestern noch „Parteifreund“ waren.

Der Streit in NRW ist ein landesspezifischer. Doch er ist viel mehr: Wer Pretzell schlägt, trifft stets auch Frauke Petry, für die - abgesehen von der privaten Verbindung der beiden - der größte Landesverband mit seinen mehr als 4.200 Mitgliedern ihre (nach Sachsen) zweitwichtigste Machtbasis ist (oder zumindest war). Fiele einer von beiden, würde auch die politische Halbwertszeit des anderen rapide sinken.

Im Fall NRW mischten zwei Petry-Gegner, Parteivize Alexander Gauland und „Flügel“-Vormann Höcke, kräftig mit. Kaum war die erste Stern-Veröffentlichung auf dem Markt, wetterten sie, die Berichte würden „das Bild eines tief gespaltenen Landesverbandes und eines Machtkampfes“ zeigen. Eine „bestimmte Gruppe in der Partei“ arbeite „lieber mit Tricksereien, statt mit Argumenten zu überzeugen“, meinten sie und warnten vor einer „Instrumentalisierung der AfD für eigene Karriereziele“. Pretzell keilte zurück, nannte die Vorsitzenden aus Thüringen und Brandenburg indirekt „Spalter“. Höcke warf er - nun ganz offen - vor, er habe versucht, „Listenwahlen in NRW extern zu beeinflussen“.

Dass das Duo Petry & Pretzell selbst kräftig zur Radikalisierung der AfD beigetragen hat, nutzt den beiden inzwischen nichts mehr. Pretzells Plädoyer für eine AfD als „Auch-Pegida-Partei“; seine Äußerungen für einen Schusswaffengebrauch an den deutschen Grenzen, die Petry unfreiwillig schlagzeilenträchtig übernahm; Petrys Bemühen, den Begriff des Völkischen wieder zu rehabilitieren, die Annäherung beider an FPÖ und Front National: Alle Verneigungen nach ganz weit rechts können ihre Kritiker nicht ruhigstellen. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Im heimischen NRW bemüht sich Pretzell um ein betont seriöses Auftreten. Das von ihm gelobte Programm zur Landtagswahl etwa ist nach AfD-Maßstäben vergleichsweise „gemäßigt“ ausgefallen. Die taktische Zurückhaltung missfällt seinen Gegnern. Sie fragen sich zum Beispiel, mit welcher Berechtigung jemand, der Mal um Mal mit der FN-Chefin Marine Le Pen auftritt, zu Hause rigide gegen einen AfDler vorgeht, der sich in seinem Stadtrat mit einem ehemaligen pro NRW-Funktionär zusammengetan hat.

Vier Gruppen gegen Pretzell

Dabei profitiert Pretzell davon, dass seine Gegner keinen geschlossenen Block bilden. Aus mindestens vier Gruppen spürt er Gegenwind - wobei die Übergänge fließend sind und sich die Gruppen zuweilen auch untereinander beharken. Da sind die Anhänger der „Patriotischen Plattform“, deren NRW-Vormann Matzke freilich mit seinem Verbalradikalismus häufig die eigene Klientel verschreckt. Eine zweite Gruppe orientiert sich an Höckes völkisch-nationalistischer Plattform „Der Flügel“. Gegen Pretzell agiert auch jener Teil der Partei, der sich an seinen Ko-Vorsitzenden Martin Renner hält. Stramm nach rechts geht’s auch mit ihm, doch ohne das Völkisch-Dröhnende eines Björn Höcke.

Die vierte Gruppe bilden Mitglieder, die Pretzells Kurs nicht rundweg ablehnen, wohl aber seinen Stil. Sie sehen den AfD-typischen Anspruch, anders sein zu wollen als die „Altparteien“ unter die Räder gekommen angesichts der ausgeprägten Karriere- und Machtorientierung ihres Landeschefs.

In anderen Bundesländern hat es die AfD gelernt, über die Grenzen ihrer Flügel, Lager, Gruppen und Grüppchen irgendwie zu kooperieren. Dort vermitteln Ko-Vorsitzende zumindest den Eindruck, sie würde zusammenarbeiten. Nicht so in NRW. Dort befehden sich die Lager nach Herzenslust. Und die beiden Landeschefs agieren erkennbar höchstens nebeneinander und nicht selten sogar gegeneinander.

Zwei Kulturen prallen an der Spitze der NRW-AfD aufeinander. Bei einem Landesparteitag Mitte 2016 in Werl war es, als Renner zur Begrüßung der Delegierten ansetzte. Es wurde eine Abrechnung mit Pretzell & Petry, verkleidet in die Form von Mahnungen. Ohne dass er das Duo beim Namen nannte, erklärte Renner: „Wir von der AfD überziehen unsere Kollegen und Mit-Mitglieder nicht mit denselben Attacken und Vorwürfen, mit denen uns unsere politischen Gegner regelmäßig konfrontieren“ - ein Angriff auf Versuche von Petry & Pretzell, die Partei zumindest verbal nach rechts deutlicher abzugrenzen. Der Europaabgeordnete Pretzell musste sich sagen lassen: „Wir von der AfD entsenden Abgeordnete in das EU-Parlament, damit sie dort nicht an den kleinen Schräubchen der Prozesse mitfummeln sollen, sondern 'in hervorgehobener Position' dieses EU-Konstrukt als das markieren, was es ist. Ein die nationalen Identitäten zerstörendes Projekt.“ Zum Auftritt von Petry & Pretzell beim Bundespresseball fiel Renner ein: „Schon gar nicht nehmen wir AfDler an Festivitäten teil, an dem dieser scheinheilige Machtpopanz dann sich und seinen abgehobenen 'Elitismus' feiert. Pressebälle besuchen wir nicht, sondern dekuvrieren diese als scheinelitäre Lustbarkeiten der Bediensteten der temporären politischen und wirtschaftlichen Macht.“ Dass einer von zwei Vorsitzenden dem anderen vor Publikum derart ungeschminkt sagt, wie wenig er von ihm hält, war selbst für AfD-Verhältnisse ein Novum.

Erfolgreich trotz Streit?

Zum Jahreswechsel 2016/2017 diskutiert die Landes-AfD über eine von Pretzell-Gegnern gestartete „Mitglieder-Initiative“. Unter dem Motto „Basis wehrt sich“ wird ein Sonderparteitag zur Abwahl der Kandidatenliste gefordert. Ob es dazu kommt, ist offen. Für einen Abgesang auf die AfD ist es freilich zu früh. Bisher hat die Partei alle ihre Krisen überstanden. Aus der Abspaltung des Lucke-Flügels Mitte 2015 ging sie sogar gestärkt hervor. Und der Zustand der Partei scheint auch nicht das ausschlaggebende Moment für die Zustimmung bei den Wählerinnen und Wählern zu sein: Als sich Baden-Württembergs AfD in diesem Sommer bis hin zur Fraktionsspaltung zerstritten hatte, attestierten die Meinungsforscher ihr bei der nächsten Umfrage 17 Prozent, zwei Prozent mehr als bei der Landtagswahl.

Das männlich geprägte Bild von Antifa in Frage stellen | Interview mit der „ag5“ aus Marburg

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Antifa-Gruppen sind oftmals von einer männlichen Dominanz geprägt. Die Frage, wie Strukturen geschaffen werden können, in denen sich mehr Frauen*(1) angesprochen fühlen, sollte ein wichtiges Anliegen antifaschistischer Politik sein. Ein Gespräch mit der ag5 aus Marburgüber den Versuch mit einer Quotierung männliche Dominanz aufzubrechen.Das hat euch als Antifa-Gruppe dazu bewegt eine Frauenquote einzuführen?

Dass Antifa ein männlich dominiertes Politikfeld ist, ist ja keine Neuigkeit. Als Gruppe stellen wir immer wieder fest, dass potenzielle Neuzugänge meist männlich sind oder dass Männer eher als potenzielle Mitglieder angesehen werden. Das finden wir scheiße. Antifaschismus heißt für uns auch Kampf gegen das Patriarchat. Doch offenbar reproduzieren wir sexistische Stereotype, die Frauen* als weniger geeignete Mitglieder zeichnen, haben eine „männerbündischere“ Struktur als uns lieb ist oder präsentieren uns als Gruppe in einer Art, die Frauen* abschreckt.

Wie kam es zur Einführung der Quote?

Vor etwa zwei Jahren haben wir eine interne Auseinandersetzung geführt, um die Mechanismen, die Frauen* ausschließen oder abschrecken, zu thematisieren und Strategien zu deren Abbau zu entwickeln. Damals haben wir uns neben Aufforderungen zu konkreten Verhaltensänderungen von Gruppenmitgliedern für einen vorläufigen Aufnahmestopp für Cis-Männer, also Männer, die sich mit dem bei ihrer Geburt zugewiesenen Geschlecht weitestgehend identifizieren, entschieden. Wir sahen das als Chance, die Aufnahme von Frauen* in den Fokus zu nehmen und einer Verstärkung männlicher Dominanz in der Gruppe entgegenzuwirken. Vor etwa einem halben Jahr haben wir den Aufnahmestopp und die Entwicklung der Mitgliederstruktur und des öffentlichen Auftretens der Gruppe evaluiert. Dabei haben wir beschlossen, eine dynamischere und langfristigere Regelung zu treffen, da der Aufnahmestopp meist nur als „Phase“ wahrgenommen wurde.

Wie hoch ist eure Quote? 50%?

Nicht ganz (lacht). Tatsächlich ist es unser erklärtes Ziel, dass die Gruppe zu mindestens 50% aus Frauen* besteht. Nach langer Diskussion haben wir uns dazu entschieden zunächst eine Quote einzuführen, die den aktuellen Status quo nach unten hin absichert, also, dass der Frauen*anteil nicht unter den jetzigen sinken darf. Diese Quote wollen wir kontinuierlich steigern, um in absehbarer Zeit eine paritätische Mitgliederstruktur zu erreichen. Die Aufnahme von Personen, die weder Frauen* noch Cis-Männer sind, wird von der Quote nicht eingeschränkt. Sie können zu jedem Zeitpunkt aufgenommen werden.

Wie kam es zu dieser Entscheidung? Ist das ein Kompromiss?

Es gab verschiedene Gründe für die Entscheidung und ja, sie war ein Kompromiss. Stark vereinfacht lässt sich die Debatte auf einen Konflikt zwischen feministischen Forderungen innerhalb der Gruppe und dem Wunsch nach „Handlungsfähigkeit“ herunterbrechen. Es gab die Befürchtung, sollten Männer von der Aufnahme ausgeschlossen bleiben, oder - wie im Fall einer 50%-Quote - hohe Hürden für die Aufnahme bestehen, hätte die Gruppe nicht genügend wo*menpower, um weiterhin ihrem Anspruch an antifaschistische Politik gerecht zu werden. Die Erklärung der Absicht Frauen* aufzunehmen führt schließlich - leider - nicht augenblicklich dazu, dass Frauen* vor unserem Plenumsraum Schlange stehen, während dies bei Cis-Männern nach zwei Jahren Aufnahmestopp mehr oder weniger der Fall war.

Hat also euer Wunsch nach Handlungsfähigkeit überwogen?

Auch wenn wir uns für die pragmatischere „dynamische Quote“ entschieden haben, stimmt es nicht ganz, dass der Wunsch nach Handlungsfähigkeit gewonnen hat. Vielmehr hat die Diskussion darüber, was „Handlungsfähigkeit“ überhaupt ist dazu geführt, dass wir unsere Vorstellungen hinterfragen konnten. So haben wir festgestellt, dass „Handlungsfähigkeit“ oft indirekt mit „viele Männer in der Gruppe, die Antifa zu ihrer obersten Priorität machen“ gleichgesetzt wurde und dass mit „Handlungsfähigkeit“ meist die Befähigung zu einem ganz bestimmten Set an Aktionen gemeint ist. Uns das klargemacht zu haben, wird uns hoffentlich dabei helfen, unseren Blick auf Aktionspotentiale zu erweitern. Durch diese Einsichten konnten wir den Konflikt zwischen dem Ziel einer paritätischen Mitgliedschaft und fortbestehender Handlungsfähigkeit jedoch nicht auflösen.

Was heißt das konkret?

Als Gruppe in einer Stadt voller Student*innen müssen wir Strategien entwickeln, um die Mitgliederfluktuation zu bewältigen. Wir wollen unter anderem durch die Quote ausschließende Mechanismen innerhalb dieser Strategien abbauen. Jedoch geht das nicht von heute auf morgen, sondern braucht Zeit, Engagement etc. Eigentlich ist die Quote auch mehr Abwehrmechanismus als emanzipatorische Strategie.

Das heißt, ihr glaubt nicht, dass eine Quote ausreicht, um die männliche Dominanz in der Antifa abzubauen?

Naja, dass Quoten nicht die große Hoffnung der radikalen Linken sind, dürfte klar sein. Für uns ist sie eine Möglichkeit abzusichern, dass die männliche Dominanz in der Gruppe nicht zunimmt. Wir glauben aber, dass die Quote allein nicht ausreicht. Wie gesagt, Frauen* aufnehmen zu wollen führt nicht dazu, dass sich mehr interessierte Frauen* melden.

Wie wollt ihr erreichen, dass sich mehr Frauen* interessieren und melden?

Wir wollen versuchen durch Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen Frauen* auf uns aufmerksam zu machen. Wir wollen das stark männlich geprägte Bild von Antifa in Frage stellen und Räume für Antifaschistinnen* schaffen. Zudem wollen wir an unserer Gruppenkultur arbeiten, da diese ebenfalls dazu beitragen kann, dass Frauen* sich gegen eine Organisierung in unserer Gruppe entscheiden. Beispielsweise haben wir Sondertreffen der Männer der Gruppe einberufen, um die Reflexion von Privilegien und damit verbundenen Verhaltensweisen zu institutionalisieren.

Habt ihr nicht das Gefühl, dass ihr Potenzial vergeudet, wenn ihr motivierten (Cis-)Männern die Organisation in eurer Gruppe verwehrt?

Wir glauben, dass wir sehr viel mehr Potential vergeuden, wenn wir Antifa als „boys club“ gestalten „Potential“ gedeutet wird, heißt bei Frauen* nämlich meistens „keine Erfahrung“. Daher gelten Männer merkwürdigerweise als ideale Antifas, bevor sie irgendetwas getan haben, während Frauen* eher skeptisch beäugt werden und sich erst mal beweisen müssen. Also nein. Wir haben kein schlechtes Gewissen wegen all der motivierten Männer, die jetzt in weniger coolen Gruppen ihr Dasein fristen müssen. Ganz im Gegenteil: Wir erwarten von den Abgewiesenen Verständnis für unsere politische Auseinandersetzung, die als unpopulär wahrgenommene Absagen mit sich gebracht hat und ausnahmsweise mal auf männlicher Seite die Notwendigkeit zur Zurückhaltung. Letztlich ist es eine Abwägungsfrage und die haben wir nach langer Diskussion wie dargestellt entschieden - aus politischer Überzeugung und ohne weinendes Auge.

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(1) Der Begriff „Frau“ ist mit einem bestimmten Bild/einer bestimmten sozialen Konstruktion verbunden. Durch das Sternchen soll aufgezeigt werden, dass nicht nur diejenigen, die dem Bild entsprechen, gemeint sind, sondern alle, die sich als Frauen* definieren.


Martin Renner | Der überzeugungstäter

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Dass es ohne sie die AfD so gar nicht gäbe, können wenige ihrer heutigen Mitglieder sagen. Martin Renner gehört zu ihnen. Im Februar 2013 war er einer ihrer Gründungsväter. Gründungs-“Väter“ trifft es. Denn Frauen waren nicht dabei, als 15 Herren im hessischen Oberursel beschlossen, Partei zu werden. Dabei war ihm eine besondere Aufgabe zugedacht: Eitel, wie Renner ist, vergisst er auch heute nicht, in Gespräche oder Reden einzuflechten, dass er es war, der Namen und Logo der neuen Partei entwickeln sollte. Fremd war ihm die Arbeit an der Konstruktion eines Markenimages nicht, hatte der Diplom-Betriebswirt doch früher als Marketingdirektor in einem großen Unternehmen und später als geschäftsführender Gesellschafter einer Unternehmens- und Kommunikationsberatung gearbeitet.

Ganz früh war Renner, der von 1998 bis 2005 der CDU angehört hatte, in der AfD mit dabei, doch nie ganz oben. Eine Parteikarriere auf Bundesebene blieb ihm verwehrt. Und auch in NRW, wo der gebürtige Reutlinger seit längerem lebt, wurde ihm als Landesvorsitzender der Wirtschaftswissenschaftler Alexander Dilger vorgezogen. Der passte besser zur „Professorenpartei“ und bot Gewähr, nicht allzu sehr nach rechts abzudriften. Für Renner folgte der Komplettabsturz. Gerade einmal ein halbes Jahr im Amt, wurde er sogar als Landesvize abgewählt - es hatte Züge einer persönlichen Demontage. Anfang 2015, beim letzten AfD-Bundesparteitag, den sein Gründerkollege Bernd Lucke noch im Griff hatte, wurde Renner gnadenlos ausgebuht.

Doch am Ende stürzte Lucke. Der Wahl-Rheinländer Renner, der sich mit Vorträgen an der Basis eine neue Hausmacht aufgebaut hatte, triumphierte und wurde neben Marcus Pretzell zu einem der beiden Landesvorsitzenden gewählt. Es entstand ein Führungsduo der Gegensätzlichkeiten und Unverträglichkeiten. Hier Pretzell, der permanent unter Karrierismus- und Opportunismusverdacht steht. Auf der anderen Seite Renner, der zuweilen mitteilt, er arbeite an so etwas wie einer philosophischen Basis der AfD. Der nicht so flott wie Pretzell zu formulieren weiß, bei dem aber keine Zweifel bleiben, dass er seine Partei, wenn man ihn denn ließe, stramm nach rechts führen würde.

Wo Pretzell taktiert, spricht Renner Klartext. An der Basis kommt es an, wenn er sich freut, dass die AfD mit Lucke die „Systemlinge“ endlich losgeworden ist. Dort kommt es auch an, wenn Renner über „70 Jahre des linksideologischen Grauens“ klagt. Wenn er gegen die „zerstörerischen Kräfte der Linken und der Internationalisten“ wettert, wenn er „Gewerkschaften, Kirchen, Sozialindustrie, NGOs, Medien etc.“ als „Afterorganisationen“ der Parteien beschimpft. Wenn er eine multikulturelle Gesellschaft als „Gegenentwurf einer deutschen Staatsgrundeinstellung“ tituliert. Oder wenn er eine „Transkulturation von Deutsch zum Islam“ beklagt. Dass Renner mit Oswald Spengler gar einen herausragenden Akteur der antidemokratischen „Konservativen Revolution“ aus den Jahren der Weimarer Republik zur Lektüre empfiehlt, ist kein Zufall.

Als Renner 2015 sein Comeback erlebte, dachten seine Gegner, man werde einen Modus Vivendi finden: Pretzell für den Landtag, Renner für Berlin - und ansonsten ein allgemeines Wohlbefinden. Die Rechnung ging nicht auf. Einer der Strippenzieher im Dienste Pretzells drückte es so aus: „Wir hatten es wirklich gut vor, doch ich glaube, ich war naiv, als ich glaubte, dass sein Streben dann mit einem Mandat für den Bundestag befriedigt wäre.“ Die Rechnung konnte nicht aufgehen, da Überzeugungstäter für derlei Deals nicht sonderlich empfänglich sind.


Rechts der AfD | Antritt extrem rechter Wahlparteien bei den NRW-Landtagswahlen

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Angesichts des aktuellen Höhenflugs der AfD stehen noch weiter rechts angesiedelte Wahlparteien auch in NRW vor einem Problem. Zwar hat es noch nie eine der ihren geschafft, in den Landtag einzuziehen, immerhin aber erzielten NPD, pro NRW und Die Republikaner bei früheren Landtagswahlen alle schon einmal Ergebnisse oberhalb von 1,0 Prozent. Bei 1,0 Prozent liegt bei Landtagswahlen auch die Hürde, um in den Genuss der heiß begehrten staatlichen Parteienfinanzierung zu kommen. Doch davon sind alle drei genannten Parteien weit entfernt, ebenso wie die neu hinzu gekommene Die Rechte.

Die Bürgerbewegung pro NRW“

„Ich bin davon überzeugt, daß wir mit unserer erneuerten Mannschaft nun hochmotiviert in Richtung Landtagswahl 2017 marschieren. Es gilt, unser Wahlergebnis von 1,5 % zu verteidigen und auszubauen“, so der pro NRW-Parteivorsitzende Markus Beisicht aus Leverkusen am 21. Dezember 2015 in einem der zahlreichen „Interviews“ der Marke „Beisicht spricht mit Beisicht“. Doch schon Ende 2015 war klar, dass seine 2007 gegründete Partei ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte. Von den bei den Kommunalwahlen 2014 errungenen 65 Mandaten (26 in kreisfreien Städten und Kreistagen, 8 in kreisangehörigen Städten und 31 in Bezirksvertretungen) gingen bis heute etwa zwei Drittel verloren, fast alle durch Austritte aufgrund von Streitigkeiten innerhalb der Partei. Viele der Ausgetretenen schlossen sich der Konkurrenzpartei pro Deutschland (pro D) um den ehemaligen Weggefährten Beisichts, Manfred Rouhs, an. Von den 26 Mandaten in kreisfreien Städten und Kreistagen sind formell nur noch je zwei in Leverkusen, Essen und im Rhein-Erft-Kreis sowie je eins in Bonn, Bochum und nach temporärem Fremdgehen - Hagen übrig geblieben. Nur aus Leverkusen und Essen sind noch politische Aktivitäten vernehmbar. Die Parteistrukturen im Rhein-Erft-Kreis scheinen ebenfalls noch einigermaßen zu funktionieren, auch wenn kaum etwas von ihnen zu hören ist.

Am 22. März 2016 erklärte Beisicht dann in einem weiteren Selbstgespräch, „die nordrhein-westfälische Regionalpartei PRO NRW“ gratuliere „ausdrücklich der AfD zu ihren teilweise phänomenalen Wahlerfolgen“. Und weiter: „Wir bieten der AfD in NRW eine Kooperation an. […] Ich stehe persönlich mit [...] AfD-Funktionären in Kontakt und habe von diesen viele positive Signale erhalten.“ Offenbar aber glaubte er selber nicht an diese „Signale“: „Sollte jedoch eine Zusammenarbeit [...] nicht möglich sein, wird es selbstverständlich eine eigenständige PRO NRW-Kandidatur [...] geben.“ Man sei „ausreichend kampagnenfähig“. Eben dieses ist pro NRW nicht, es fehlt an allem. Nach den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 18. September 2016, bei der pro D mit 0,4 Prozent untergegangen war und anschließend erklärt hatte, man werde „künftig mehr Bürgerbewegung sein und weniger Partei“, ruderte dann auch Beisicht zurück. Er erklärte, man werde in Kürze über einen eventuellen Wahlantritt entscheiden. Er empfehle, sich „strategisch auf die Kommunalpolitik zu konzentrieren“. Anschließend herrschte Funkstille zum Thema Landtagswahlen.

Die Republikaner (REP)

Ganz im Gegensatz zu pro NRW lässt der Landesverband der REP keine Gelegenheit ungenutzt, für seinen geplanten Antritt bei den Landtagswahlen zu trommeln. Seit vielen Monaten werden Unterstützungsunterschriften gesammelt, insbesondere in Düsseldorf, der Hochburg der REP in NRW. Von Sommer 2015 bis Ende 2016 führten die REP in der Landeshauptstadt zehn Kundgebungen und Demonstrationen durch, allesamt und von pro NRW-Positionen nicht unterscheidbar zum Themenbereich Asyl. Es nahmen bis zu 130 Personen teil, zuletzt um die 30.

Ihr bestes Ergebnis bei Landtagswahlen in NRW hatten die REP 1990 mit 1,8 Prozent erzielt. 2010 landete man bei 0,3 Prozent, 2012 scheiterte ein versuchter Antritt an zu wenigen Unterstützungsunterschriften. Auf kommunaler Ebene blieben 2014 drei Mandate in Stadträten kreisfreier Städte und Kreistagen (Düsseldorf, Wuppertal und Städteregion Aachen), zwei in Stadträten kreisangehöriger Städte und eins in einer der Düsseldorfer Bezirksvertretungen übrig. Die später durch Übertritte von pro NRW-Mandatsträger_innen hinzugekommenen zwei Stadtrats- und zwei Bezirksvertretungsmandate in Duisburg führten letztlich nicht zu einer Stärkung des Landesverbands, da Mario Malonn in Duisburg eine Art Eigenleben führt und zuletzt keine Gelegenheit ungenutzt ließ, gegen den Landesvorsitzenden André Maniera zu wettern. Ähnliche Störmanöver gab es im zeitweise wieder aktiven Kölner Kreisverband. In wenigen weiteren Städten gibt es aktuell zaghafte Aus- bzw. Aufbauversuche, Schwerpunkt ist das Ruhrgebiet, insbesondere Dortmund, Bochum, Essen und mit Abstrichen auch Oberhausen.

Seit Anfang November 2016 hat der REP-Landesverband NRW auch die Vorherrschaft im Bundesverband, mit nur 37:36 Stimmen und ohne Gegenkandidat gewählter Bundesvorsitzender ist nun der erst 25-jährige Ex-NPDler und Ex- pro NRWler Kevin Krieger aus dem Rhein-Erft-Kreis, Stellvertreter sein politischer Patron André Maniera, Schatzmeisterin die Düsseldorferin Tatjana Bahtiri. Damit einher geht augenscheinlich eine viele Jahre vermiedene Öffnung nach noch weiter rechts. Krieger, Landtagsspitzenkandidat und einer von vier Düsseldorfer Direktkandidaten seiner Partei, trat kurz vor seiner Wahl demonstrativ als Redner bei einer Kundgebung der eng mit pro NRW, NPD und rechten Hooligans verbandelten Gruppierung „Bürger gegen Politikwahnsinn“ in Oberhausen auf. Angesichts des Rückzugs der pro-Parteien und einer schwachen NPD in NRW rüsten die REP zum „Endkampf“, um das Ruder noch einmal herumzureißen. Man bietet sich dem AfD- und Neonazi-kritischen Rechtsaußen-Potenzial als „Original“ an, dessen langjährige Forderungen von der AfD nur kopiert worden seien. Angepeilt ist ein finanziell lebensnotwendiges Überspringen der Einprozenthürde. Sollte das nicht gelingen, werden die letztenNRW- Republikaner nach den Kommunalwahlen 2020 die Tür hinter sich zuziehen.

Die NPD

„Die Bürgerinnen und Bürger haben auch 2017 die Möglichkeit, der wirklichen Alternative für Deutschland die Stimme zu geben“, teilte der NPD-Landesverband am 28. Mai 2016 recht lustlos mit. Und da Selbstreflexion und Veränderungen noch nie die Stärke der NPD waren - erst recht nicht unter der Führung ihres stets nur knapp wiedergewählten Landesvorsitzenden Claus Cremer -, wird alles beim Alten bleiben oder noch weiter abwärts gehen. 2005 kam die NPD bei den Landtagswahlen auf 0,9 Prozent, ihr bestes NRW-Ergebnis nach 1970 (1,1 Prozent). 2010 waren es dann 0,7 Prozent, 2012 landete die Partei bei 0,5 Prozent. Auf kommunaler Ebene sind nach den Wahlen 2014 acht Mandate in acht Stadträten kreisfreier Städte bzw. Kreistagen (Bochum, Essen, Dortmund, Duisburg, Mönchengladbach, Kreis Heinsberg, Märkischer Kreis, Rhein-Sieg-Kreis) sechs Mandate in sechs Stadträten kreisangehöriger Städte und zwei Bezirksvertretungsmandate in Duisburg übriggeblieben. Im Gegensatz zu pro NRW gab es aber keine Abgänge von Mandatsträger_innen. Parlamentarisch sichtbar ist die NPD nur durch ihre Beteiligung an zwei Ratsgruppen, eine mit dem ehemaligen pro NRW-Abgeordneten Egon Rohmann (Bürger für Duisburg), die andere mit der Die Rechte in Dortmund. Als Spitzenkandidatin für die Landtagswahl wurde eine von zwei stellvertretenden Landesvorsitzenden, die Juristin Ariane Meise aus dem Rhein-Sieg-Kreis, aufgestellt. Auf den Plätzen 2 und 3 folgen Cremer und seine zweite Stellvertreterin, die Duisburger Stadtratsabgeordnete Melanie Händelkes aus Wachtendonk (Kreis Kleve).

Die Rechte (DR)

Ebenso lustlos wie die NPD ist die DR in ihren ersten Landtagswahlkampf in NRW eingestiegen. Verwunderlich ist das nicht, lehnen doch die in der DR organisierten Neonazis Parlamente eigentlich ab. Ihr Feld ist der „Kampf um die Straße“. Der Rückzug in eine bereits vorhandene Partei war nicht mehr als eine Notlösung für mehrere 2012 verbotene „Freie Kameradschaften“ in NRW. Um zumindest eine Zeitlang den Parteienschutz zu genießen, muss aber an der „politischen Willensbildung des Volkes“ aktiv teilgenommen werden, wie es Art. 21 des Grundgesetzes vorgibt. Bei den Bundestagswahlen 2013 stellte die DR nur in ihrer Hochburg NRW eine Landesliste auf und kam auf prozentual kaum messbare 2.245 Zweitstimmen. 2014 erzielte sie jedoch je ein Stadtratsmandat in Dortmund und Hamm sowie fünf Bezirksvertretungsmandate. Insbesondere in Dortmund, wo die Partei zusammen mit der NPD eine Ratsgruppe stellt, zeigt sie kontinuierlich Präsenz und verstand es zeitweise, das Stadtparlament als Podium für provokante und medienträchtig inszenierte Auftritte zu nutzen und damit ihre Anhänger_innenschaft bei Laune zu halten.

Angeführt werde die Landesliste, so die DR, vom „Wuppertaler Aktivisten Kevin Koch, ihm folgen die Dortmunder Siegfried Borchardt und Daniel Grebe“. Auf den Plätzen vier bis sechs stehen Sascha Krolzig (Bielefeld), Daniel Borchert (Wuppertal) und Markus Walter (Rhein-Erft-Kreis). Berücksichtigt man den Einfluss des DR-Landesvorsitzenden Sascha Krolzig in seiner Heimatstadt Hamm, so sind alle derzeitig aktiv nach außen auftretenden DR-Kreisverbände auf der Landesliste vertreten. „Eines der Ziele“ sei es, „die Verankerung als radikale Oppositionspartei weiter auszubauen“.

Sonstige und Ausblick

Der Vollständigkeit halber sei noch der angekündigte Wahlantritt der Rechtsaußen-Partei „Ab jetzt - Demokratie durch Volksabstimmung - Politik für die Menschen (Volksabstimmung)“, einst „Ab jetzt - Bündnis für Deutschland“, erwähnt. Immerhin hat es diese in einigen Kommunalparlamenten des Rhein-Sieg-Kreises anzutreffende Partei um den Siegburger Helmut Fleck schon einmal geschafft, (2004) die bei Europawahlen greifende 0,5-Prozent-Hürde für die staatliche Parteienfinanzierung zu überspringen, wenn auch knapp. Bei den letzten Landtagswahlen 2012 kam sie auf 0,1 Prozent, 2017 werden es vermutlich nicht mehr werden.

Unter dem Strich deutet alles darauf hin, dass neben pro D auch pro NRW nicht zu den Landtagswahlen antreten wird. Und dass NPD, DR und REP mit viel Glück auf 1,0 Prozent kommen könnten - wenn man ihre Stimmenanteile addieren würde. Spannend ist nur, wie die AfD und in einigen Regionen die DR abschneiden werden. Und ob die Rechtsaußenparteien eher 10 oder eher 15 Prozent auf sich vereinen können. Dass REP, pro NRW, pro D, NPD und DR hierzu sehr wenig oder auch gar nichts beisteuern können, ist kein wirklicher Trost.

(Nicht)Aufklärung mit vielen Fragen | Der Düsseldorfer Wehrhahn-Anschlag im Jahr 2000

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Am 27. Juli 2000 soll Ralf S. auf dem S-Bahnhof Wehrhahn per Fernsteuerung und mit Sicht auf die Opfergruppe einen selbst gebauten TNT-Sprengsatz zur Detonation gebracht haben. Am 1. Februar 2017 wurde er in seinem Wohnort Ratingen verhaftet. Der Hauptvorwurf: Zwölffacher Mordversuch – heimtückisch, gemeingefährlich, aus niederen Beweggründen und „in fremdenfeindlicher Absicht“.

Ziel des Anschlags war eine Gruppe Migrant_innen aus der ehemaligen UdSSR, die meisten von ihnen Jüdinnen und Juden. Zehn von ihnen wurden teilweise lebensgefährlich verletzt, das ungeborene Kind einer Frau wurde getötet. Alle besuchten einen Sprachkurs der Bildungseinrichtung ASG, der unweit des S-Bahnhofs auf der Ackerstraße angeboten wurde. Im Gegensatz zu den späteren NSU-Morden und -Anschlägen wurde in den Medien und von führenden Politiker_innen ein rechter Hintergrund als möglich bis wahrscheinlich eingeschätzt.

Nachdem Polizei und Staatsanwaltschaft Anfang Februar 2017 mit reichlich Lob überschüttet worden waren, legten sich während der 52. und 53. Sitzung des Parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschusses (PUA) des NRW-Landtags am 7. und 17. Februar dieses Jahres Schatten über das Geschehen. Offen blieb, woran es gescheitert war, dass der mutmaßliche Täter nicht schon viele Jahre früher dingfest gemacht werden konnte. Und welche Rolle die Inlandsgeheimdienste beim Tatkomplex Wehrhahn gespielt haben.

Waffennarr und Zeitsoldat

Schon am Tag nach dem Anschlag wurde von antifaschistischen Gruppen und Bewohner_innen des Stadtteils auf Ralf S. aufmerksam gemacht. Der Verdacht beschränkte sich aber auf ein „dem wäre so etwas zuzutrauen“. Der damals 34-jährige Waffennarr und ehemalige Zeitsoldat, der keinen Hehl aus seinem Hass auf „Ausländer“ machte, war vielen aufgrund seiner patrouillenartigen Rundgänge mit Hund und seines militärhaften Outfits bekannt.

S. wohnte in der Nähe des S‑Bahnhofs, bot Security- und Wachschutzdienste an, betrieb ein Ladengeschäft für „Polizei-Armee-Sicherheit-Zusatzausrüstungen“ und Militaria – und nebenbei auch RechtsRock-CDs – und war eng mit der lokalen Neonaziszene, insbesondere mit dem Kreis der „Kameradschaft Düsseldorf“ um Sven Skoda verbunden. Er brachte damals seine Gesinnung unter anderem durch eindeutige Tätowierungen und das massenhafte Anbringen von einschlägigen Aufklebern zum Ausdruck. Neonazis gingen in seinem Laden ein und aus. Auf Aufmärschen wurde er jedoch nicht gesichtet.

Unbekannt ist, ob er Mitglied einer extrem rechten Partei war bzw. ob er sich als Aktivist der „Kameradschaft Düsseldorf“ verstand. Insgesamt aber machte er wohl lieber sein „eigenes Ding“, gehörte jedoch zur lokalen Neonaziszene, die Ende der 1990er Jahre – hartnäckig ignoriert von Polizei und Stadtoberen – aktiver und zahlenmäßig stärker geworden war und immer dreister in Erscheinung trat. Etwa drei Wochen vor dem Wehrhahn-Anschlag hatte beispielsweise eine siebenköpfige Gruppe um die Mitglieder der Düsseldorfer Band „Reichswehr“ zwei Migranten auf dem S-Bahnhof Derendorf angegriffen. Hierbei wurde eines der Opfer auf die Schienen gestoßen und zusammengetreten.

Die wenige Tage nach dem Wehrhahn-Anschlag eingerichtete „Ermittlungskommission Acker“ („EK Acker“) verfolgte als eine unter vielen Spuren auch die Spur Ralf S.. Noch vor der Einrichtung der EK hatte bereits der Polizeiliche Staatsschutz am 29. Juli 2000 eine offenbar halbherzige und erfolglose Hausdurchsuchung bei S. durchgeführt. Dabei habe es sich eher um einen „oberflächlichen Stubendurchgang“ gehandelt, kritisierte der frühere EK-Leiter Dietmar Wixfort bei seiner Befragung bei der 52. PUA-Sitzung. Näheres zu dieser Durchsuchung, beispielsweise zur Verantwortung und zu den Gründen für das stümperhafte Vorgehen, blieben der Öffentlichkeit verborgen und schienen den PUA auch nicht sonderlich zu interessieren.

Für die EK sei es in der Folgezeit schwer gewesen, so Wixfort, Durchsuchungen und Telekommunikationsüberwachungen (TKÜ) gegen S. richterlich genehmigt zu bekommen. Dem Richter hätte sich ein „konkreter Tatverdacht“ nur „zögerlich“ erschlossen. Vielleicht wäre es rückblickend ja schneller gegangen, wenn die „EK Acker“ recherchiert hätte, dass S. während seiner vierjährigen Bundeswehrzeit eine Sprengstoffausbildung genossen hatte und sich mit Sprengfallen auskannte. Ob auch der MAD dazu etwas hätte beitragen können, ist unbekannt.

„Da der benutzte Sprengstoff laut nicht dementierten Presseberichten aus Bundeswehrbeständen stammt“, sei es „höchst merkwürdig“, so das „Antifaschistische Infoblatt“ damals (Ausgabe 51 vom 21.08.2000) „dass diese Spur zu keinerlei Ermittlungsergebnissen geführt“ habe. Ein Gutachten stellte bezüglich der Fertigung des Sprengsatzes eine „erhebliche Sachkunde“ fest, auch „die beim Schweißen entstandenen Nähte“ seien „fachmännisch bei 800 Grad gehärtet worden“. S. war des Schweißens mächtig und verfügte zur Tatzeit über ein Schweißgerät, wie von den Ermittlungsbehörden im Februar 2017 bekannt gegeben wurde. Wie lange das schon bekannt war, verrieten sie nicht.

Der zweite Anlauf

Im Frühjahr 2002 fasste die Staatsanwaltschaft zusammen, dass sich keine „objektivierbaren Anhaltspunkte für eine Beteiligung“ von S. „an der Straftat“ ergeben hätten. Dieser sei „offenbar nicht in der Lage“ gewesen, „ausgefallene Gegenstände aus dem Waffenbereich herzustellen oder auf Bestellung zu besorgen“. Die Spur S. wurde aufgegeben. Ein extrem rechter Hintergrund des Wehrhahn-Anschlags war damit aus dem Rennen. Stattdessen liebäugelte die „EK Acker“ offenbar mit dem Tathintergrund „osteuropäische organisierte Kriminalität“, ohne hierbei Ergebnisse erzielen zu können.

Ende 2014 wurde dann hinter den Kulissen die „EK Furche“ eingerichtet. Anlass für ihre Einrichtung war, dass sich Ralf S. während der Verbüßung einer Haftstrafe im Herbst 2014 gegenüber einem Mithäftling damit gebrüstet hatte, den Wehrhahn-Anschlag begangen zu haben und hierbei Täterwissen präsentiert hatte. Die „EK Furche“ unter der Führung des Leiters des Polizeilichen Staatsschutzes und ehemaligen Mordkommissionsleiters Udo Moll bemühte sich von nun an mangels Beweisen um eine „geschlossene Indizienkette“, um eine Anklage zu ermöglichen.

Um hierbei nicht vom zwischenzeitlich eingerichteten PUA behindert zu werden, wurde mit diesem eine Art Geheimabkommen geschlossen. Der PUA zögerte die Behandlung des Themas „Wehrhahn“ so lange hinaus, bis der „Zugriff“ erfolgt war, hatte aber offenbar nicht damit gerechnet, dass dies so lange dauern würde. Für eine gründliche „Untersuchung eines möglichen Fehlverhaltens nordrhein-westfälischer Sicherheits- und Justizbehörden einschließlich der zuständigen Ministerien und der Staatskanzlei und anderer Verantwortlicher“ im Fall „Wehrhahn-Anschlag“ blieb angesichts der Landtagswahlen im Mai 2017 kaum noch Zeit.

Hinweise auf einen Zusammenhang mit dem NSU haben die beiden EK nicht entdecken können, Staatsanwaltschaft und EK-Leiter sind sich aber sicher, dass „der Richtige“ dingfest gemacht wurde. Man sei ab 2014 alle Akten noch einmal durchgegangen, habe alle Zeug_innen von damals noch einmal verhört und auch neue Zeug_innen ausfindig gemacht. Damals nicht sehr aussagefreudige Personen wären mit Abstand zum Tatgeschehen und zu S. gesprächiger und glaubwürdiger gewesen. Ein Alibi, so Oberstaatsanwalt Ralf Herrenbrück auf der 53. PUA-Sitzung, habe S. ohnehin nie gehabt. „Es habe sich allein um die Schilderung des Tagesablaufs des Beschuldigten gehandelt“, notierte NSU-Watch NRW das Gesagte: „Es habe auch niemand ein Alibi widerrufen, da es keins gegeben habe. Es sei darum gegangen, ob die Tat mit dem geschilderten Zeitablauf vereinbar gewesen wäre, es sei schwierig gewesen, Ralf S. um 15.03 Uhr an den Tatort zu kriegen.“

Zum Motiv für die Wahl der Opfer führten die Ermittlungsbehörden Anfang Februar einen Vorfall im Herbst 1999 an. In einem direkt gegenüber dem Ladenlokal von S. gelegenen Gebäude habe ein ASG-Sprachkurs stattgefunden. Zwei bis heute nicht identifizierbare Neonazis aus dem direkten Umfeld von S. hätten die Sprachschüler_innen über einen längeren Zeitraum belästigt und bedroht – bis sich diese erfolgreich zur Wehr gesetzt hätten. Dieser Vorfall sei für S. der Auslöser für die Planung der Tat gewesen. Das Geschehen 1999 war auch der „EK Acker“ bekannt gewesen, diese hatte es aber aufgrund des „großen zeitlichen Abstands“ zum Anschlag nicht in Verbindung mit der Tat gebracht. Und das obwohl eine der Sprachlehrerinnen mehrfach auf einen möglichen Zusammenhang aufmerksam gemacht hatte.

V-Mann „Apollo“

Den Aussagen der beiden EK-Leiter „Acker“ und „Furche“ zufolge haben die Verfassungsschutzämter nicht zu einer möglichen Aufklärung beitragen können. Allerdings fand Anfang 2012 – und damit über elf Jahre nach dem Anschlag und kurz nach der Selbstenttarnung des NSU – ein Gespräch zwischen dem VS NRW und dem temporär reaktivierten Dietmar Wixfort statt. Das Stattfinden des Gesprächs wurde auf der 52. PUA-Sitzung kurz thematisiert, nicht aber der Inhalt. Darüber müsse in nichtöffentlicher Sitzung gesprochen werden, so der Ausschussvorsitzende Sven Wolf (SPD).

Vier Tage später enthüllte dann „Der Spiegel“, dass es 1999/2000 einen V-Mann des NRW-Landesamts im direkten Umfeld von S. gegeben habe, der „im Sommer 2000 als Wachmann für den Rechtsextremisten“ gearbeitet habe. Als V-Mann tätig gewesen sein soll M. alias „Apollo“ von August 1999 bis Mai 2000, habe aber offenbar nur „Substanzfreies“ geliefert. „Allerdings halten sich in Sicherheitskreisen Zweifel“, so „Der Spiegel“, „ob der Informant tatsächlich im Frühjahr 2000 abgeschaltet worden war. Ein V-Mann-Führer will sich nämlich auch später noch mit seinem Schützling getroffen haben: Er sei ‚zur Tatzeit‘ mit M. zusammengewesen, der im Hafen Flugblätter verteilt habe.“

Düsseldorfer Antifaschist_innen teilten am 12. Februar 2017 in einer Pressemitteilung mit, M. sei „an diversen Aktionen der Kameradschaft Düsseldorf beteiligt“ und „auch in der Düsseldorfer Fußballfanszene als Neonazi bekannt“ gewesen, leicht zu erkennen an seinem „Blood & Honour“-Tattoo über dem linken Ohr. Bei polizeilichen Vernehmungen hatte M. wiederholt angegeben, nichts über die Hintergründe des Wehrhahn-Anschlags zu wissen.

Was bleibt?

„EK Furche“ und Staatsanwaltschaft gehen davon aus, dass S. die Tat zwar alleine durchgeführt hat, aber dass es „Mitwisser“ gegeben haben könnte. Zu erwarten ist, dass während des anstehenden Strafprozesses Zeug_innen präsentiert werden, die angesichts von Verjährungsfristen mehr oder weniger freiwillig zu bekunden wissen, dass ihnen S. von der Tat berichtet hatte beziehungsweise dass sie rückblickend Gehörtes oder Gesehenes anders interpretieren würden, als sie das damals getan hatten. Spannend ist, ob sich auch Sven Skoda unter ihnen befinden wird. Möglicherweise ist die Staatsanwaltschaft auf solche Aussagen auch angewiesen, um ihre angeblich „geschlossene Indizienkette“ bruchsicher zu machen. Ein Freispruch für S. käme einem Desaster gleich.

Unterzugehen droht die Aufklärung der Rolle der Inlandsgeheimdienste. „Lagen dem VS tatsächlich keine Hinweise auf den Anschlag vor? Oder gibt es Gründe zu der Annahme, dass V-Mann M[...] ihm bekannte Hinweise auf den Täter nicht weitergegeben hat?“, fragen Düsseldorfer Antifaschist_innen: „Es wäre Aufgabe des Parlamentarischen NSU-Untersuchungsausschusses in NRW oder eines neu einzurichtenden Untersuchungsausschusses zum Komplex Wehrhahn-Anschlag, Antworten auf diese Fragen zu finden.“

„3:1 für Deutschland“ | Der Polizistenmörder Michael Berger war Teil der Neonazi-Szene

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Am 14. Juni 2000 erschoss Michael Berger in Dortmund und Waltrop drei Polizist_innen, anschließend richtete er sich selbst. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags (PUA) befasste sich im April mit den Taten, die das Innenministerium nicht zu den rechtsmotivierten Morden zählt. Dabei wurde deutlich, dass sich die Polizei bei ihren Ermittlungen nicht für Bergers Einbindung in die Neonazi-Szene interessierte – trotz drei toter Kolleg_innen, einem beim Täter aufgefundenen Waffenarsenal und Hinweisen auf Schießübungen mit Neonazis.

14. Juni 2000, wenige Minuten vor 10 Uhr in Dortmund-Brackel. Der Besatzung eines Streifenwagens fällt ein silberner 3er BMW auf, dessen Fahrer nicht angeschnallt ist. Als sie das Auto stoppen und den Fahrer ansprechen, schießt dieser unvermittelt auf die beiden Beamt_innen. Thomas Goretzky verstirbt wenig später am Tatort. Seine Kollegin Nicole Hartmann hingegen überlebt die Schussverletzungen und kann Hinweise auf das Tatfahrzeug geben, sie wird 2012 im Alter von erst 37 Jahren einer Krankheit erliegen.

Der Täter flüchtet aus der Stadt. Eine halbe Stunde später trifft er in Waltrop auf einen weiteren Streifenwagen. Er eröffnet das Feuer und tötet die Polizist_innen Matthias Larisch von Woitowitz und Ivonne Hachtkemper. Nach einer Großfahndung entdeckt die Polizei gegen 16:30 Uhr den BMW in einem Waldstück bei Olfen. In dem Auto befindet sich die Leiche des Täters, der sich mit einem Kopfschuss umgebracht hat: Michael Berger, arbeitslos, 31 Jahre alt, am Morgen des Tattags aus dem Krankenhaus entlassen. Jetzt beginnen die Ermittlungen der Polizei Dortmund, die, das zeigte die Beweisaufnahme des Untersuchungsausschusses, von allgemeiner Nachlässigkeit und Desinteresse an den Kontakten des Täters zur Neonazi-Szene geprägt sind.

Waffen und NS-Devotionalien

Bereits bei der Durchsuchung von Bergers PKW fanden die Ermittler_innen Hinweise auf eine neonazistische Gesinnung. An der Heckscheibe klebte ein Aufkleber mit dem Titel des Landser-Albums „Republik der Strolche“, am Handschuhfach prangte der SS-Spruch „Meine Ehre heißt Treue“, in Bergers Portemonnaie fand sich neben Kontaktdaten von Neonazis wie Sebastian Seemann auch ein Mitgliedsausweis der NPD.

In der Wohnung des 31-jährigen stellten die Ermittler_innen weitere Nazi-Devotionalien und einschlägige Literatur sicher. Im Auto und in der Wohnung befand sich zudem ein ganzes Waffenarsenal, bestehend aus scharfen Pistolen und Revolvern sowie einer Übungshandgranate. Wenige Tage später wurde in der Wohnung seiner Eltern sogar ein Sturmgewehr AK47 nebst Munition sichergestellt. Für keine dieser Waffen hatte Berger eine waffenrechtliche Erlaubnis.

Michael Schenk, der damalige Leiter der mit den Ermittlungen betrauten Mordkommission und spätere Ermittlungsleiter beim Mord an Mehmet Kubaşık, erklärte vor dem PUA, man habe mittels einer „Verkaufswegefeststellung“ herausfinden wollen, woher die Waffen stammten. Zeitweise habe man nach einem Waffenhändler aus Recklinghausen gesucht. Ohne Erfolg. Die Herkunft der Waffen blieb ungeklärt. Nach polizeilich bekannten Waffenhändlern mit rechter Gesinnung aus dem Bereich Dortmund, wie etwa Fred S., erkundigte sich Schenk nicht. Dass die Westfälische Rundschau damals berichtete, Berger habe Kontakt zum ehemaligen Kroatien-Söldner und Neonazi Michael K. gehabt, spielte in den Ermittlungen keine Rolle, obwohl es sich bei Bergers AK47 um ein jugoslawisches Fabrikat handelte.

Auch der gegenüber der Polizei geäußerte Hinweis eines Zeugen aus der rechten Szene, Berger habe ihm eine Waffe zum Kauf angeboten, zog keine Ermittlungen nach sich. Einzig, nach dem Hinweis von Sebastian Seemann, er habe gemeinsam mit Berger Schießübungen an der Lippe durchgeführt, suchte man den Ort auf und fand die Angaben bestätigt. Aber die naheliegende Frage, mit wie vielen anderen Neonazis der Mörder ebenfalls Schießübungen machte, stellte sich die Mordkommission nicht. Auch die Fragen, ob Berger womöglich die Neonazi-Szene mit Waffen versorgte oder ob es weitere, ähnlich schwer bewaffnete Neonazis in Dortmund gab, lagen nicht im Interesse der Mordkommission. Ermittlungen zur rechten Szene habe man nicht durchgeführt, erklärte Ermittlungsleiter Schenk. „Das ist Aufgabe des Staatsschutz gewesen.“ Informationen habe der Staatsschutz aber nicht geliefert.

Bergers Kontakte zur Neonazi-Szene

Dabei finden sich in den Ermittlungsakten zahlreiche Hinweise auf Bergers Kontakte zur lokalen Neonazi-Szene. Die Mordkommission ging ihnen aber nie systematisch nach. Über 20 Neonazis werden in den Akten erwähnt, mit denen Berger, den Schenk als „mehr oder weniger Einzelgänger“ bezeichnete, in Kontakt stand. Der Vergleich einer im Januar 2000 bei Pascal Zinn aufgefundenen Mitgliederliste des Nationalen Widerstands Ruhrgebiet mit Bergers Telefonbuch ergab eine Übereinstimmung von neun Personen. Auf der Liste tauchte Bergers Name nicht auf, gleichwohl fand sich sein Name auf einer ebenfalls bei Zinn aufgefundenen Telefonkette. Auf Bergers Einbindung in die Dortmunder Szene verweist auch seine Teilnahme an Kameradschaftsabenden in der Kneipe „Schützeneck“.

Die Mordkommission wollte Pascal Zinn, der damals nicht nur führend in der Kameradschaft sondern auch als Kreisvorsitzender der NPD tätig war, über Berger befragen. Als man ihn zuhause nicht antraf und auch auf dem Festnetz nicht erreichte, stellte die Polizei ihre Bemühungen ein. Eine Kontaktaufnahme auf Zinns Handy versuchte man gar nicht erst.

Auch Sabine B., sie kandidierte bei der Kommunalwahl 2009 für die NPD Dortmund und heiratete den NPD-Funktionär Martin M. wurde nicht vernommen, obwohl ein an Berger adressierter Briefumschlag mit ihrem Absender gefunden wurde. Ein ebenfalls in Bergers Wohnung sichergestelltes Foto zeigt Berger, Sabine B. und sechs weitere Neonazis vor einer Hakenkreuzfahne. Auf dem Foto legt Berger seinen Arm freundschaftlich um den Selmer Sven Oliver A. Auch mit ihm sprach die Polizei nicht über den Mörder.

Sven Oliver A. betätigte sich wenige Jahre später in den Reihen der Oidoxie Streetfighting Crew, ebenso wie der ebenfalls in den Berger-Ermittlungen auftauchende Falk Harry P., der später als Schlagzeuger bei Extressiv und Oidoxie spielte. P. gehörte zu einer Gruppe junger Neonazis, die sich am 22. Juni 2000 an der Stelle versammelten, wo sich Berger erschossen hatte. Die Versammlung findet sich zwar in den Spurenakten, weitere Ermittlungen dazu führte die Mordkommission aber nicht durch. Aus einem Vermerk des Verfassungsschutzes geht zudem hervor, dass P. auch am Rande der Trauerfeier für die getöteten Polizist_innen festgestellt wurde. Doch auch mit P. sprach die Polizei nicht. P. wie A. zählten 2000 zu einer Gruppe von Neonazis aus Selm, die sich zuerst Borker Terrorszene und dann Lippefront Bork nannte. Der gut zehn Jahre ältere Berger, der in Selm aufgewachsen war, wird auf die Jugendlichen aus der Kleinstadt sicherlich Eindruck gemacht haben.

Im Umfeld dieser Neonazi-Clique bewegte sich auch der vom PUA vernommene Zeuge Patrick Dittmann, Spitzname „Langer“. Der 37-Jährige war damals Mitglied der Kameradschaft Dortmund und ein enger Freund Bergers. Heute bezeichnet er sich als „Aussteiger“. Er bestätigte, dass Berger zur Kameradschaft zählte und berichtete, dass sie gemeinsam an einem großen Neonazi-Zeltlager bei Lünen oder Coesfeld teilgenommen hätten. Ob in der Dortmunder Kameradschaft über den bewaffneten Kampf gesprochen wurde, daran konnte sich der Zeuge – wie an so vieles – aber nicht erinnern. Über Combat 18 und Blood & Honour hätten damals aber „im Grunde alle“ gesprochen, es seien auch Hefte und Kopien über Combat 18 in der Szene kursiert.

Dittmann offenbarte erstaunliche „Erinnerungslücken“: Obwohl erder Polizei 2000 den entscheidenden Hinweis auf die AK47 gab, behauptete er im PUA, sich daran nicht erinnern zu können – ebenso wenig wie an irgendetwas anders, was mit Bergers Waffen oder Schießübungen zusammenhing. Überraschenderweise ließen die Abgeordneten den Zeugen mit seiner Verweigerungshaltung gewähren.

Keine Ermittlungen des Staatsschutzes

Mordkommissions-Leiter Schenk verwies bei allen Fragen zur Neonazi-Szene stets auf die Zuständigkeit des in die Ermittlungen eingebundenen Polizeilichen Staatsschutzes. Der Auftritt des damaligen Staatsschutz-Leiters Georg Anders vor dem PUA war allerdings eine Farce: Auf die Frage, was seine Abteilung im Fall Berger ermittelt habe, antwortete Anders, er könne sich gar nicht mehr erinnern, ihm würde selbst der Name nichts mehr sagen, hätte er ihn nicht vor einiger Zeit in der Zeitung gelesen. Auf die meisten Fragen erwiderte er: „Daran kann ich mich nicht erinnern.“ Auch vorgehaltene Faxe und Vermerke, die unter anderem belegten, dass er sich im Fall Berger mit dem NRW-Verfassungsschutz austauschte, entlockten dem Zeugen keine Erinnerung. Schließlich platzte dem Vorsitzenden Sven Wolf der Kragen, er herrschte den pensionierten Polizisten an, er müsse zumindest versuchen, sich zu erinnern, und drohte ihm mit einem Ordnungsgeld. Das Aussageverhalten von Anders änderte sich dadurch jedoch nicht.

Auch der stellvertretende Leiter des Dortmunder Staatsschutzes, Heribert Seck, machte vor dem PUA immer wieder „Erinnerungslücken“ geltend, aber zumindest konnte er angeben, was der Staatsschutz alles nicht tat: Die aufgefundenen NS-Devotionalien waren kein Anlass für Ermittlungen zum politischen Hintergrund der Tat; die Kontakte Bergers zur Kameradschaft und zur Lippefront wurden nicht überprüft, ebenso wenigdie Identität der Neonazis auf dem bei Berger aufgefundenen Foto; es gab keine Ermittlungen in Richtung Neonazi-Szene, und schon gar nicht wurde die Tat in den Kontext des Rechtsterrorismus gestellt.

Ein politisches Motiv sehe er bei Berger nicht, so Seck vor dem PUA. Zu den von Dortmunder Neonazis verteilten Flugzetteln mit der Aufschrift: „Berger war ein Freund von uns. 3:1 für Deutschland“ konnte der Zeuge nur ausführen, dass die Staatsanwaltschaft die strafrechtliche Relevanz bewerten sollte. Was aus dem Verfahren geworden sei, wisse er nicht mehr.

Nach Secks Ansicht sei der Staatsschutz nur am Rande, etwa bei der Wohnungsdurchsuchung, involviert gewesen. Die Ermittlungen habe die Mordkommission verantwortet, eine Abklärung von Bergers Einbindung in die Neonazi-Szene sei Aufgabe des Verfassungsschutzes gewesen, so Seck. Dem Staatsschutz sei Berger vor den Morden gar nicht bekannt gewesen. Ein im PUA vernommener ehemaliger Staatsschutz-Beamter hatte einige Monate zuvor allerdings ausgesagt, er habe Berger bei einem Treffen im „Schützeneck“ festgestellt.

Die fehlende Zeugin

Drei Polizist_innen wurden ermordet, der Täter war ein Neonazi – doch der Staatsschutz zeigt keinerlei Engagement, die Hintergründe der Taten aufzuklären. Dieses an Arbeitsverweigerung grenzende Verhalten des Staatsschutzes ist nicht die einzige Merkwürdigkeit bei den Ermittlungen. Noch während die Polizei nach dem flüchtigen Mörder fahndete, vernahm sie dessen Eltern. Sie gaben Auskunft über das Leben ihres Sohnes und seine Probleme und erwähnten dabei auch zwei Ex-Freundinnen. Ihr Sohn soll die eine Frau einmal mit einem Polizisten im Bett erwischt haben. Die andere Frau mit Namen Claudia soll ihn vor kurzem noch in Dortmund besucht haben. Sogar eine Heirat sei im Gespräch gewesen, berichteten die Eltern.

Die Polizei machte daraufhin die erste Frau in Niedersachsen ausfindig, doch in ihrer Vernehmung stellte sich heraus, dass sie Berger nie mit einem Polizisten betrogen hatte, sondern vor der Beziehung zu Berger mit einem Polizisten liiert gewesen war. Ihre Beziehung Anfang der 1990er Jahre lag lange zurück. Die zweite Freundin, Claudia, die noch vor kurzem Kontakt mit Berger hatte, wurde hingegen nie von der Polizei vernommen. In den Akten findet sich eine falsche Schreibweise ihres Namens.

Über Michael Berger äußerte sie sich erstmals, nachdem der PUA sie ausfindig gemacht hatte. Sie charakterisierte Berger als „Waffennarr“ mit „ausländerfeindlicher Haltung“. Er habe große Mengen Alkohol getrunken und Antidepressiva genommen. Sie habe ihn nur verbal aggressiv erlebt und ihm eine solche Tat nicht zugetraut. Ihr letzter Kontakt zu Berger war ein kurzes Telefonat vor den Morden. Berger befand sich damals im Krankenhaus in Dortmund. „Ich habe nie erfahren, was im Krankenhaus passiert ist. Er wollte mich anrufen, wenn er entlassen ist, und ich wollte dann ja auch nach Dortmund fahren“, so die Zeugin. Auf die Frage, ob sie Anzeichen von suizidalen Tendenzen bemerkt habe, antwortete sie: „Er kommt aus dem Krankenhaus und geht los und erschießt Menschen. Das habe ich bis heute nicht verstanden.“

Was war Bergers Motiv?

Berger litt unter Depressionen, so viel steht fest. In Waltrop war er seit 1997 bei einem Therapeuten in Behandlung, als Akutpatient erschien er dort aber nur äußerst selten und nahm an keinen Psychotherapie-Sitzungen teil. Er kam nur, um sich Antidepressiva verschreiben zu lassen. Zuletzt ließ er sich Ende Mai 2000 eine Überweisung für die freiwillige stationäre Aufnahme in der Psychiatrie ausstellen, wo er nur einige Tage blieb. Die Psychiatrie stellte ihn dann in ein reguläres Krankenhaus über, am Entlassungstag verübte er die drei Morde. Dass Berger eine solch aggressive Tat begehen könnte, daran habe er damals nicht gedacht, so der Therapeut vor dem PUA. Auch für einen erweiterten Suizid, bei dem Fremde bzw. konkret Polizist_innen zum Opfer würden, habe es keine Anzeichen gegeben.

Was Berger letztendlich zu seinen Mordtaten trieb, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Dass der Hintergrund seiner Taten ausschließlich in seiner psychischen Erkrankung liegt, dafür gibt es keine Belege. Die in den Medien kolportierte Erklärung, Berger habe einen Hass auf Polizisten entwickelt, weil seine Freundin ihn mit einem Polizisten betrogen hatte, ist nicht durch Fakten gestützt. Ebenso wenig gibt es aber Belege, dass Berger seine Taten im Vorfeld plante und als politische Morde verstanden wissen wollte.

Für die Ermittler war der Fall Berger schnell gelöst. „Der Tod schließt die Akten“, meinte der verantwortliche Staatsanwalt Heiko Artkämper dazu. Und Mordkommissions-Leiter Schenk bilanzierte: „Wir haben nachweisen können, dass Berger derjenige war, der die Kollegen erschossen hat, dass er als Täter in Frage kam und sich selber gerichtet hat. “ Auch das Motiv hätten sie „einigermaßen“ herausgearbeitet. Es könne „unter anderem“ in seiner Erkrankung oder in einer „Kurzschlussreaktion“ liegen.

War Berger ein Informant?

In der Neonazi-Szene kursiert seit Jahren das Gerücht, dass Berger ein V-Mann gewesen sein soll. Belege für diese Behauptung fand auch der PUA nicht. Der Zeuge Schenk sagte dazu: „Also ich weiß nicht. Es war gerüchteweise, dass er Spitzel sein sollte. Ich habe das nicht herausbekommen.“ Auch die ehemalige Freundin wusste nichts darüber. Sollte Berger als Zuträger der Polizei gearbeitet haben, dann ergibt das Verhalten des Staatsschutzes einen Sinn: dann hätte nicht bekannt werden dürfen, dass Polizist_innen von einem Informanten getötet wurden, folglich wäre es angezeigt gewesen, in Bezug auf die Person Berger bloß keinen Staub aufzuwirbeln.

Aber da es weder Belege noch überzeugende Indizien für eine V-Mann-Tätigkeit gibt, bleibt als Fazit vorerst festzuhalten, dass der Staatsschutz selbst im Angesicht von drei toten Kolleg_innen die Gefahr bewaffneter Neonazis in Dortmund ignorierte.

Von wegen „gegen die Elite“ | Die AfD-Sozialpolitik ist eine Hommage an die Reichen

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Die AfD gibt sich als Partei, die im Namen des Volkes gegen die korrupten Eliten der Republik ins Feld zieht. Doch die AfD hat — trotz einiger symbolpolitischer Einsprengsel — weiter ein neoliberales Sozial- und Wirtschaftsprogramm, das soziale Ungleichheit verschärft, rassistisch diskriminiert und die Interessen der Reichen in diesem Land fördert.

Ähnlich wie Donald Trump im Wahlkampf in den USA wendet sich auch die AfD gegen die etablierte Politik und die sogenannten Altparteien. Doch schaut man sich das Grundsatzprogramm der Bundespartei und das Wahlprogramm der AfD-NRW jenseits öffentlicher Rhetorik an, so merkt man schnell, dass sich ihre Politik ausschließlich gegen das politische Establishment richtet, sicherlich aber nicht gegen die Vermögenden.

Nachtwächterstaat bleibt Leitbild

Bereits in den Grundwerten des Parteiprogramms wird deutlich, dass das Staatsverständnis der AfD wie in der ersten Phase unter Bernd Lucke als Parteivorsitzendem weiter neoliberal ist. Die Vorstellung eines Nachtwächterstaats, der Rechtssicherheit über einen ausgeprägten Polizeiapparat garantiert, schlank ist und sich ansonsten zurückhält, ja sich sogar zugunsten von privaten Anbietern zurückzieht, bleibt das Leitbild der Partei. Strikt nach dem Motto: „Nur ein schlanker Staat kann ein guter Staat sein.“ Damit unterscheidet sie sich grundlegend von anderen, derzeit erfolgreichen rechtsnationalistischen Parteien in Europa, wie etwa dem französischen Front National, der einem starken Staat eine bedeutende Rolle im gesellschaftlichen Zusammenleben zuschreibt.

Diese Linie schlägt sich auch in den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Partei nieder. Dort heißt es etwa: „Je mehr Wettbewerb und je geringer die Staatsquote, desto besser für alle.“ Die AfD bezieht sich dabei explizit auf die Gründungsväter des deutschen Neoliberalismus und beruft sich auf „eine Ordnungsethik auf der Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft, wie sie von Walter Eucken, Alfred Müller-Armack und Wilhelm Röpke entwickelt und von Ludwig Ehrhard umgesetzt wurde.“ Darin unterscheidet sie sich nicht von der CDU. Sie ist gleichwohl sehr viel marktradikaler in ihren konkreten Forderungen. Da Obergrenzen auch bei der AfD in Mode sind, fordert sie neben der Befürwortung von Schäubles Schuldenbremse zusätzlich eine sogenannte „Obergrenze für Steuern und Abgaben.“ Damit soll die Handlungsfähigkeit des Staates auf der Einnahmeseite weiter beschnitten werden und Umverteilung von Vermögen begrenzt werden.

Steuerpolitik: Hommage an die Reichen

Das spiegelt sich auch in der AfD-Forderung wider, die Vermögenssteuer nicht einzuführen und die Erbschaftssteuer abzuschaffen. Erbschaften nicht zu besteuern ist jedoch keine neoliberale Forderung, sondern vielmehr eine Hommage an die Reichen. Während die FDP beispielsweise aus Chancengleichheitsmotiven eine „mittelstandsfreundliche Erbschaftssteuer“ fordert, will die AfD offensichtlich Vermögende und ihren Reichtum abschirmen und aus der Bringschuld gegenüber dem Gemeinwesen befreien. Das ist ein ernstzunehmendes Signal an die Mächtigen in unserer Gesellschaft: Von der AfD haben sie nichts zu befürchten.

Begründet wird die Zurückhaltung bei Steuern vor allem mit der Förderung des Mittelstands als dem „Herz unserer Wirtschaftskraft.“ Überhaupt steht die Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) im Mittelpunkt der Wirtschafts- und Sozialpolitik der AfD. Um jeden Preis soll hier deutlich werden, dass die Partei diesen Kernbestandteil der Marktwirtschaft unangetastet lassen und fördern will — eine sehr populäre Forderung im Übrigen, die von allen großen Volksparteien stets betont wird, und ohne die man in Deutschland seit 1949 keine Wahlen mehr gewinnen kann.

Wenn aber nicht durch Steuereinnahmen, woher soll dann das Geld kommen, um die von der AfD NRW beklagten „Verrottung, Verschmutzung und Vernachlässigung“ und „kaputten Straßen“ in den Griff zu bekommen? Der Landesverband suggeriert eine einfache Lösung, die sich mit der von ihr als Bedrohung des eigenen Volkes gezeichneten „Masseneinwanderung“ verbindet und sich gegen Geflüchtete und andere Zugewanderte richtet. Denn zu D-Mark-Zeiten sei Deutschland „wegen seiner eigenen starken Währung, und nicht trotz, sondern wegen gesicherter Grenzen zu einer der erfolgreichsten und wohlhabendsten Nationen der Welt“ geworden.

Deutliches Signal an die Arbeiterklasse

Die Ablehnung der Erbschaftssteuer ist nicht der einzige Bruch mit einem neoliberalen Programm. Auch bei sensiblen, für die Öffentlichkeit sichtbaren sozialpolitischen Positionen hat die AfD reagiert und sich gewandelt. Lehnte sie im Europawahlkampf 2014 noch eindeutig den Mindestlohn ab, so steht im aktuellen Grundsatzprogramm, dass man den Mindestlohn „beibehalten“ wolle. Begründet wird dies vor allem damit, dass er Niedriglohnempfänger_innen „vor dem durch die derzeitige Massenmigration zu erwartenden Lohndruck“ schütze. Hier werden also sozialpolitische Forderungen mit rassistischen Reflexen gemischt.
Auch die ursprünglich geforderte Privatisierung des Arbeitslosengelds I (ALG I) ist nicht mehr im aktuellen Programm zu finden. Das wäre dann doch ein zu offensichtlicher Tabubruch, der nicht mit dem Image der Volksverbundenheit zu vereinbaren ist. Das NRW-Wahlprogramm geht in dieser Hinsicht noch weiter. Der Landesverband fordert sowohl „eine längere Bezugsdauer von ALG1“ als auch „höhere ALG2-Leistungen“ und wappnet sich damit für den sozialpolitisch aufgeladenen Wahlkampf im Ruhrgebiet.

Ein Dreiklang aus Rassismus, Neoliberalismus und Förderung reicher Eliten

Die AfD ist und bleibt dennoch eine neoliberale Partei, die ihre Forderungen aus der Lucke-Ära nach einem Nachtwächterstaat im Kern beibehält. Auch soziale Kürzungen sind im aktuellen Programm weiter vorgesehen. Gesellschaftliche Grundsicherungen wie der Mindestlohn bleiben gleichwohl unangetastet und dienen der Partei als sozialpolitisches Aushängeschild. Die Begründungen dafür sind rassistisch aufgeladen. Steuerpolitisch ist zudem offensichtlich, dass Reiche von der AfD nichts zu fürchten haben. Eines ist damit klar: Die AfD ist sicherlich keine Partei der „kleinen Leute“. Aber mit ihrer neuen sozialpolitischen Symbolpolitik und ihrer Umgarnung der Vermögenden unserer Gesellschaft bleibt sie brandgefährlich.

„Gender-Wahn“ | Geschlechter-, familien- und sexualpolitische Forderungen der AfD

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„Gender-Wahn“, „Homo-Lobby“, „Frühsexualisierung“… Die AfD sieht sich massiv bedroht durch geschlechter-, familien- und sexualpolitische Fortschritte der letzten Jahrzehnte. Ihre Antworten: Förderungen abschaffen, Aufklärung ist Elternsache, Rückbesinnung auf die traditionelle Familie und die „natürlichen“ Geschlechterrollen.

„Die Gender-Ideologie und die damit verbundene Frühsexualisierung, staatliche Ausgaben für pseudowissenschaftliche ‘Gender-Studies’, Quotenregelungen und eine Verunstaltung der deutschen Sprache sind zu stoppen. Gleichberechtigung muss wieder Chancengleichheit bedeuten“, heißt es im Grundsatzprogramm der AfD. Diese „Chancengleichheit“ bedeutet nichts anderes als die Fortschreibung männlicher und heterosexueller Privilegien, da eben die Instrumente, die zu mehr echter Chancengleichheit gedacht sind, abgeschafft werden sollen.

Der Begriff „Familie“wird gerne und häufig von der AfD verwendet und stark ideologisch aufgeladen. In der Präambel des Grundsatzprogramms heißt es, man wolle „die Würde des Menschen, die Familie mit Kindern, unsere abendländische christliche Kultur, unsere Sprache und Tradition in einem friedlichen, demokratischen und souveränen Nationalstaat des deutschen Volkes dauerhaft erhalten“. Dass hier nur ganz bestimmte Familien gemeint sind, liegt auf der Hand: Es geht um Familien, die aus zusammenlebenden, verheirateten, heterosexuellen Paaren, also Mutter und Vater, und deren Kindern bestehen. Die Berufung auf Christentum und „Abendland“verweist auf weitere Einschränkungen.

Die Wahlprogramm-Thesen der AfD NRW

Die AfD NRW widmet in ihrem Wahlprogramm dem Themenkomplex Gender mehrere Punkte. Unter dem Titel „Bildung, Forschung & Kultur“trägt, heißt es: „Die AfD steht für eine altersgemäße Sexualerziehung ohne (Gender-)Ideologie.“Behauptet wird, „unter dem Vorwand der Antidiskriminierung und der Toleranz“werde mit „Gender-Mainstreaming“versucht, „dem Bürger sein Privatleben und seine Vorlieben vorzuschreiben“. Aufklärung sollte ausschließlich in der Familie stattfinden und zwar „gemäß den weltanschaulichen Überzeugungen“der Eltern. Unter „Familie, Demographie & Gleichberechtigung“ werden „Wahlfreiheit bei der Betreuung von Kleinkindern“und „Erziehungsgehalt“gefordert. Die Wahlfreiheit sei aktuell nicht gegeben, da „Fremdbetreuung einseitig gefördert“ werde, was mit einer Entwertung „klassischer Familienkonstellationen“einher gehe.

Nicht fehlen darf auch der „Schutz der Familie als Fundament unserer Gesellschaft“. „Dem bewährten Familienmodell“drohe „die Zerstörung durch die aktuelle ideologisierte Politik“. Im nächs­ten Punkt zeigt sich die AfD jedoch großzügig. „Wir respektieren eingetragene Lebenspartnerschaften“, verkündet sie, stellt aber klar, dass diese keinesfalls mit der Ehe gleichgestellt werden dürften. Obwohl ja eigentlich gegen die Förderung einzelner Gruppen argumentiert wird, macht die AfD beim Thema „Entwicklungschancen von Jungen und Männern“eine Ausnahme. Diese sollen gefördert werden, da sie durch „den ideologischen Genderismus“ besonders benachteiligt würden.

Auch in den Verlautbarungen einzelner AfD-Politiker_innen taucht das Thema Gender immer wieder auf. Björn Höcke möchte lieber von einem „Verblödungsplan“ als von einem Bildungsplan sprechen, wenn es um sexuelle Aufklärung und Akzeptanz geht. Gender Mainstreaming hält er für eine Geisteskrankheit. Steffen Königer machte sich im Brandenburger Landtag über Menschen lustig, die sich nicht in das starre Mann-Frau-Schema pressen lassen wollen, indem er zur Begrüßung alle auffindbaren nicht-binären Gender-Bezeichnungen aneinander reihte, um dann mit einem kurzen „nein“ den vorangegangenen Antrag abzulehnen.

Homosexuelle für Deutschland?

Immer wieder geht es aber auch offen gegen Homosexuelle. So findet Bundessprecherin Frauke Petry, im deutschen Fernsehen tauchten zu viele Schwule auf. Der Thüringer Landtagsabgeordnete Thomas Rudy kommentierte den Kölner Christopher Street Day wie folgt: „Was ist nur aus Deutschland geworden? Selbstachtung, Kultur und Stolz wurden gegen Dekadenz, Perversion und Selbsthass ausgetauscht.“ Hans-Thomas Tillschneider bezeichnete in einer Landtagsdebatte in Sachsen-Anhalt Homosexualität als „Fehler der Natur“.
Aber homophob sei die Partei nicht, was ihr immer wieder aus der Arbeitsgemeinschaft Homosexuelle in der AfD bestätigt wird. In ihren im Oktober 2016 verabschiedeten Leitlinien erklärt diese, „alle gegen Homosexuelle gerichteten Bedrohungen“ bekämpfen zu wollen, versichert aber vorsichtshalber: „Schwulen und Lesben liegt Deutschland genau so sehr am Herzen, wie jedem anderen liebenden Menschen mit einem Bezug zu Familie, Heimat und Nation.“ Man erteile „jedem Vereinnahmungsversuch der Homo-, Bi-, Inter- und Transsexuellen durch den linken Zeitgeist“ eine klare Absage. Protagonist_innen dieser Gruppierung verdammen ebenso wie die restliche AfD immer wieder Antidiskriminierungsmaßnahmen, LSBTIQ-Interessensvertretungen und Sexualpädagogik, für homosexuellenfeindliche Aussagen anderer AfDler_innen gibt es sogar Applaus. Lesben- und Schwulenfeindlichkeit wird hauptsächlich im Kontext von Migration zum Thema gemacht und damit rassistisch genutzt. Der Begriff Homophobie und „andere Entgleisungen sogenannter politischer Korrektheit“ werden abgelehnt, man experimentiert lieber mit neuen Wortschöpfungen wie „Personen mit abweichendem Sexualverhalten“.

„Gender-Wahn“?

Mit der Smartphone-App „Safe my place“brachte sich die AfD Ende 2016 in die Schlagzeilen. Die sexuellen Übergriffe an Silvester 2015/2016 wären mit dieser App nicht möglich gewesen, wird behauptet. Die AfD also doch als Kämpferin für Frauenrechte? Dies aber nur, wenn es um sexualisierte Gewalt durch Migranten geht. Das zeigen auch die Facebook-Posts der letzten Silvesternacht. Dass ein „Migrantenchor“in der Silvesternacht am Dom auftreten sollte, wurde auf der Facebook-Seite der AfD NRW beispielsweise als „pietätslos“bezeichnet. Die JA NRW postete ein Bild
einer Frau mit einer Waffe, darunter die Aussage „Deutschland freut sich auf Silvester“.

Bereits in der LOTTA-Ausgabe 57 legte Paula Stern dar, dass Antifeminismus zum dritten Markenzeichen der AfD geworden sei. Auch in den vergangenen Wahlkämpfen spielten antifeministische und geschlechter-, familien- und sexualpolitisch rückwärtsgewandte Forderungen und Äußerungen eine wichtige Rolle. Ähnlich wie mit kalkulierten Provokationen zum Thema Migration gelingt es hiermit, in die mediale Berichterstattung zu kommen. Insgeheim (oder auch offen) dürften viele Aussagen auch jenseits des Kreises überzeugter AfDler_innen auf Zustimmung stoßen . „Gender Mainstreaming“ und ähnlichen Konzepten wird seitens der AfD eine große Macht zugeschrieben, die bis zur völligen Zersetzung der Gesellschaft reichen soll. In Anbetracht dessen stellt sich die Frage, wer da eigentlich im „Gender-Wahn“ ist.

Auf den Spuren Sarrazins | Asyl- und Islamkritik der AfD

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Die verschiedenen rechten Strömungen, die sich in der AfD zusammenfinden, bergen ein erhebliches Streitpotenzial. Daher sind Konsensthemen, um die sich die unterschiedlichen Positionen gruppieren lassen, umso wichtiger. Nachdem die Eurorettungspolitik kaum noch eine Rolle auf der politischen Bühne spielte, fand die AfD fand im September 2015 ihr nächstes verbindendes Thema: die Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin. Auch das Thema Islam soll mediale Aufmerksamkeit bringen.

„Wir fordern, [...] den früheren Status Quo des Abstammungsprinzips (galt bis 2000) wieder einzuführen“, heißt es lapidar in einem Nebensatz auf Seite 26 des im Mai 2016 veröffentlichten Grundsatzprogramms der AfD. Dahinter verbirgt sich jedoch die Idee von der Nation als biologischer Gemeinschaft: Volk im biologistischen Sinne und Nation fallen hier zusammen. Diese Vorstellung zieht sich durch viele programmatische Äußerungen innerhalb der Partei.

Orientierung an Nützlichkeitskriterien

Die AfD spricht sich in ihrem Programm deutlich gegen „Masseneinwanderung“ aus. Diese helfe auch nicht, um dem demografischen Wandel zu begegnen, stattdessen müsse durch eine „aktivierende Familienpolitik eine höhere Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung als mittel- und langfristig einzig tragfähige Lösung erreicht werden“. Die Partei sorgt sich hier vor allem um die „von Bedarf und Qualifikation abgekoppelte Masseneinwanderung hauptsächlich aus islamischen Staaten“. Nicht die strukturelle Ungleichheit als Folge einer auf Konkurrenz basierenden kapitalistischen Produktionsweise ist Thema der AfD, sondern das angeblich falsche Kollektivverhalten einer vermeintlich homogenen Gruppe der (migrantischen) „Unterschicht“. Die AfD teilt wie die meisten etablierten Parteien das Mantra, Einwanderung müsse in erster Linie entlang von ökonomischen Nützlichkeitskriterien bewertet werden.

„Echte Flüchtlinge“ will die AfD zwar weiterhin schützen; der angeblich unkontrollierten Zuwanderung müsse jedoch ein Riegel vorgeschoben werden. Auf den Internet- und Facebookseiten aller Gliederungen der AfD sind Meldungen zum Thema Flucht mit einem Duktus des Kampfes gegen das „Versagen der Altparteien“ durchzogen. Der Politik wird unterstellt, Fakten umzudeuten, zu verschweigen oder direkt zu lügen: in Anbetracht des herrschenden „Asyldrangs“ steige die „Kriminalitätsrate [...] für die Menschen spürbar an, nur offizielle Zahlen verzerren augenscheinlich aufgrund politischer Interessen die Realität“, behauptet der Landesverband NRW kurz nach den Silvesterübergriffen 2015/2016.

Hier setzt die Partei auf „Grenzen dicht“-Parolen. Entsprechende Forderungen werden auch in die Kommunalpolitik eingebracht. In einem Ratsantrag forderte die Kölner AfD „angesichts der fortgesetzten Unwilligkeit der Bundesregierung, den anhaltenden Zustrom einwandernder Menschen zu stoppen“ die Kommune dazu auf, einen „kompletten Aufnahmestopp weiterer Asylbewerber in Köln“ zu verlangen.

„Unsere Kultur“

Werden in Köln als Begründung für einen „Aufnahmestopp“ die Kosten angeführt, sieht vor allem die völkische Strömung in der AfD eine „elementare Bedrohung unserer deutschen Nation“ durch den „immense[n] Zustrom von massenhaft integrationsunwilligen Migranten“ aus einem „uns völlig fremden Kulturkreis“. Dabei gehe es um „unsere Lebensweise, Wertvorstellungen, Ordnung, Kultur“, so der AfD-Bezirksverband Detmold im Oktober 2015 in einem Brief an Kommunal- und Landespolitiker.

Zwar gibt es unterschiedliche Vorstellungen der verschiedensten Flügel, was denn unter „deutscher Kultur“ tatsächlich zu verstehen sei, Einigkeit besteht indes in der Ablehnung der „Ideologie des Multikulturalismus“. Neben Forderungen zum Erhalt der deutschen Sprache und zur Abschaffung der GEZ befasst sich die AfD im Kapitel „Kultur“ ihres Grundsatzprogramms vor allem mit der Stellung des Islams in Deutschland. Die klare Botschaft: Der Islam gehört nicht zu Deutschland. „Man kommt auch nicht umhin festzustellen, dass im Islam verwurzelte Vorstellungen, wie z. B. der Dschihad, das Märtyrerwesen, das Verhalten gegenüber Ungläubigen und das Verhältnis von Mann und Frau, sich sehr von christlich europäischen Vorstellungen unterscheiden“, schreibt beispielhaft die AfD Euskirchen. Der Islam, so der NRW-Landesvorsitzender Marcus Pretzell, sei „mit seinem politischen Anspruch […] dem Grundgesetz nicht vereinbar.“

Die Behauptung der AfD einer „Islamisierung“ wird sich in dieser Vehemenz kaum in den Programmatiken von CDU/CSU und SPD finden lassen. Allerdings bemüht sich die AfD, an die verbreitete Trennung von „guter Muslim“ vs. „schlechter Muslim“ anzuknüpfen, wenn sie betont, dass viele Muslime „rechtstreu sowie integriert“ leben und „akzeptierte und geschätzte Mitglieder unserer Gesellschaft“ sind.

Nicht nur die AfD ist das Problem

Unabhängig davon, ob die AfD jemals in Regierungsverantwortung kommt, gelingt es ihr bereits jetzt, den Diskurs um Einwanderung, Flucht und Integration anzuheizen - so etwa Ende Januar 2016, als AfD-Spitzenpolitikerinnen öffentlich über den Einsatz von Schusswaffen an deutschen Außengrenzen nachdachten. Die Parteivorsitzende Frauke Petry sagte in einem Interview, die Grenzpolizei müsse illegale Grenzübertritte verhindern und „notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen“. Beatrix von Storch legte kurz darauf nach. Auf ihrer Facebook-Seite wurde sie gefragt, ob Frauen und Kinder auch mit Waffengewalt am Grenzübertritt gehindert werden sollten. Ihre Antwort: „Ja“.

Beide mussten sich von ihren Äußerungen distanzieren, dennoch erreichten sie ihr Ziel —- die AfD im Gespräch zu halten. Die Schusswaffen-Debatte brachte den erwünschten Effekt: Die Partei war Topthema auf den Nachrichtenseiten und in den Fernsehsendungen. Indem weite Teile der Medien und der etablierten Politik auf die AfD reagieren und die Partei somit die Diskussionen vorstrukturieren kann, verschiebt sich die Debatte um Geflüchtete und Einwanderung immer weiter nach rechts. Von Tagesschau über FAZ bis BILD dominierte Ende Januar 2016 die Frage, ob es legal sei, auf Flüchtlinge zu schießen. So gelingt es der AfD, sagbar zu machen, was zuvor unmöglich gewesen wäre. Die rechte Diskursmaschinerie läuft auf Hochtouren: Die AfD rennt mit ihren Vorstößen einst geschlossene Türen ein, entschuldigt sich anschließend dafür, doch ist das Schloss ist einmal kaputt, bleibt die Tür offen.

Hinzu kommt, dass der Fokus auf die AfD und die von ihr gesetzten Themen ablenkt von der Politik der Bundesregierung, die bewusst den Tod von unzähligen Menschen in Kauf nimmt. Zwar sterben an den deutschen Grenzen bisher keine Menschen, doch die erweiterte deutsche Grenze, die EU-Außengrenze, ist immer noch ein Massengrab für Migrant_innen und Geflüchtete. Was im Sommer 2015 selbst konservative Tageszeitungen empörte, ist in der Öffentlichkeit längst in Vergessenheit geraten: Im Jahr 2016 sind auf dem Mittelmeer UN-Schätzungen zufolge über 5.000 Menschen ums Leben gekommen. Ganz ohne Schießbefehl.

Solange der Kitt hält | Landtagsarbeit der AfD am Beispiel Rheinland-Pfalz

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„Die AfD ist die einzige konservative Alternative“, verkündete Uwe Junge beim Wahlkampfauftakt zur Landtagswahl am 5. Januar 2016 in Mainz. Anschließend bezichtigte er die Bundesregierung, „Verrat am deutschen Volk“ begangen zu haben. Damit bediente der Landesvorsitzende sowohl die Rechtskonservativen wie auch die völkisch-nationalistischen Dogmatiker in der rheinland-pfälzischen AfD. Der Spagat zwischen den Flügeln spiegelt sich auch in der Landtagsarbeit wider.

Am 13. März 2016 erzielte die AfD bei den Landtagswahlen Rheinland-Pfalz (RLP) 12,6 Prozent und errang 14 Mandate. Die Fraktion versuchte sich seit der ersten Sitzung am 18. Mai, als die „wahre Opposition“ und den sympathischen Underdog zu präsentieren — von der CDU nicht gewollt und von der regierenden Ampelkoalition offen angegriffen. Im Verlauf der Legislaturperiode wurde sie jedoch deutlich selbstbewusster. Waren es zu Beginn fast ausschließlich kleine Anfragen (bis Dezember insgesamt 199), kamen ab Oktober deutlich mehr Anträge (insgesamt 47) und damit offensivere Forderungen hinzu.

Rundumschlag

Die Arbeitsweise der Fraktion an einem Beispiel: Es geht um die Ankündigung eines Auftritts von Feine Sahne Fischfilet (FSF) im WDR. Die Band, die inzwischen große Hallen füllt, wird von der AfD aufgrund ihrer Texte, die sich auch explizit gegen die AfD richten, immer wieder angegangen. Im November sieht auch die rheinland-pfälzische AfD eine Gelegenheit, sich in einem Antrag als Mahner gegen „Linksextremismus in den öffentlich-rechtlichen Medien“ zu inszenieren. Die Begründung ist schnell verfasst, gab es doch in Hamburg oder Frankfurt schon ähnliche Anträge. FSF schreibe Texte wie „Deutschland ist Dreck“, daher solle die Landesregierung Stellung dazu nehmen, wie sie die Ausstrahlung eines Konzerts dieser „offen antideutschen Gruppe“ bewerte. Gleichzeitig will die AfD wissen, „wie es dem GEZ-Zahler zu vermitteln“ sei, „dass ihm für seine Zwangsgebühren Hetze gegen das eigene Gemeinwesen“ angeboten werde. Flankierend dazu veröffentlicht der Landtagsabgeordnete Heribert Friedmann eine Pressemitteilung, in der er FSF und die SPD in die Nähe von Gewalt rückt. Damit ist der AfD-Rundumschlag gegen das kulturelle, mediale und politische Establishment, das sich vom „Normalbürger“ entfremdet habe, perfekt.

Die Konservativen

Friedmann sitzt zwar im Ausschuss für Medien, Digitale Infrastruktur und Netzpolitik, zu seinen politischen Schwerpunkten im Wahlkampf zählten jedoch Familienpolitik und Innere Sicherheit. Letzteres wurde zur Chefsache, drei Anfragen hat er dazu gestellt. Wenn er die Unterbesetzung der Polizei im Land beklagt, betont er regelmäßig, dass er selbst aus dem aktiven Polizeidienst komme. Friedmann wahrt den Anschein des bodenständigen Politikertypus in der AfD.

Während AfD-Politiker*innen in vielen parlamentarischen Auftritten Geflüchtete als tendenziell kriminell, kostenintensiv und mit der Gesellschaft nicht kompatibel darstellen, geht Dr. Sylvia Groß noch einen Schritt weiter. Sie betrachtet Geflohene als gesundheitliche Gefahr. In einer kleinen Anfrage im August 2016 heißt es: „Ist es verantwortbar, die Entscheidung zur Durchführung eines HIV-Tests den Migranten zu überlassen, selbst wenn sie aus Hochprävalenzländern einreisen und später möglicherweise ‘unentdeckt‘ in Gemeinschaftsunterkünften leben?“ Daher fordere sie durchgehende Grenzkontrollen.

Uwe Junge gibt den authentischen Konservativen und ist das Aushängeschild der Fraktion. Der eloquente Bundeswehroffizier lächelt, redet und leidet an vorderster Front ohne sichtbar viel inhaltliche Arbeit zu leisten. Unter ihm können die ideologisch Gefestigten in aller Ruhe agieren.

Die Dogmatiker

Das ökologische Verständnis der AfD scheint sich neben „eingewanderten naturraumfremden Arten“ auf das Thema Windkraft zu konzentrieren. Die Hälfte der kleinen Anfragen zur Ökologie in RLP richtet sich gegen Windkraftanlagen. Erneuerbare Energien gelten als Projekte der 68er, die zu den erklärten Feindbilder der AfD zählen. 

In ihren Anträgen zur Bildungspolitik stellt sich die Partei gegen „Feminisierung von Kitas und Schulen“, gegen das „ideologisierte“ Bildungssystem und gegen Inklusion. De facto tritt sie so selbst für Elitenbildung ein. Vorne beim Thema Bildung dabei ist Michael Frisch, fachpolitischer Sprecher für Kirche und Religion, Kommunalpolitik und Familie. Bis 2005 war der Lehrer im Bundesvorstand der erklärten Abtreibungsgegner*innen von Aktion Lebensrecht für Alle e.V., wo er — ebenso wie im Trierer Bündnis für Lebensrecht und Menschenwürde — bis heute aktiv ist. Das Bündnis stellt Abtreibungen als Euthanasie mit der Vernichtungsindustrie des NS auf eine Stufe. Zusammen mit der Pius-Bruderschaft organisiert es den „Marsch für das Leben“ in Saarbrücken, an dem im Oktober 2016 auch der NPD-Landesvorsitzende Peter Marx teilnahm.

Obwohl er im Landeswahlprogramm nicht vorkommt, ist der „Linksextremismus“ ein wichtiges Anliegen der AfD. Die meisten Anfragen stammen von Joachim Paul, alter Herr der extrem rechten Burschenschaft der Raczeks zu Bonn. Schon früh bekannte sich der schmissige Neuwieder Gymnasiallehrer zum völkischen Flügel. 2014 führte er ein auf der Homepage des Landesverbandes veröffentlichtes Interview mit Björn Höcke, der früher die Schule besuchte, an der Paul später unterrichtete.
In der kleinen Anfrage „VHS-Neuwied ,Kurs: Rechtspopulismus und rechten Parolen die rote Karte zeigen‘“ fragte er nach der Rechtsgültigkeit der Ausschlussklausel (die der Bewerbung beigefügt wird, um Störer*innen den Zutritt zur Veranstaltung zu verwehren).

Den Abgeordneten geht es dabei vor allem um die Diffamierung dessen, was sie als „links“ und damit als Feindbild ausgemacht haben. So bezeichnete der ehemalige stellvertretende Bundesvorsitzender der Jungen Alternative, Damian Lohr, in einer Pressemitteilung die vom Landesjugendring geförderten Falken als „Deutschland-Hasser“ und begründete dies mit der Aussage der Bundesvorsitzenden der Falken „Wir sagen nein zu Deutschland. Unsere Alternative heißt Sozialismus.“ Die pauschalisierende Schlussfolgerung: „Ein Großteil der Mitgliedsverbände“ des Landesjugendrings gehöre „dem linksradikalen Spektrum“ an. Daher müsse die Förderwürdigkeit „grundsätzlich hinterfragt werden.“

Netzwerke

Neben Lohr sind Paul und Frisch die Aktiven der Fraktion. Sie sind auch außerhalb der AfD aktiv und in Netzwerken der extremen Rechten verankert. Hier findet sich ebenso Alexander Jungbluth als Vorsitzender der Jungen Alternative Mainz wieder. Das Raczeks-Mitglied war vor einem Jahr noch im Vorstand der Aachener AfD. Die Nähe zu einem Verbandsbruder im Landtag verspricht Jungbluth offenbar größere Karrierechancen als in NRW.

Die AfD Fraktion schaffte es in RLP ohne große Skandale durch das erste halbe Jahr im Landtag. Trotz des Beamtenstatus’ vieler Abgeordneter stellt sie sich weiterhin als Partei der Ausgegrenzten dar. Hinter den konservativen Aushängeschildern dient sie extrem rechten Netzwerker*innen als Instrument, ihre Inhalte an „den kleinen Mann“ zu bringen.


Marcus Pretzell | Der Zocker

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Wer jemanden in der Bielefelder FDP sucht, der etwas über Marcus Pretzell zu berichten weiß, muss Ausdauer mitbringen. Zwar war er dort fünf Jahre Mitglied. Spuren hat er aber keine hinterlassen. Nach vielen Telefonaten erinnert sich ein Jahrzehnt später dann doch noch einer an den jungen Juristen von damals. Seinen Namen habe der eine oder andere in der FDP sehr wohl im Hinterkopf gehabt: für den Fall, dass mal ein Mandat in einer Bezirksvertretung freiwerden würde.

Statt sich in Bielefeld-Schildesche um Straßenschilder und Kanaldeckel zu kümmern, spielt Pretzell mittlerweile in der großen Politik mit. Als einer von 751 Europaabgeordneten ist es zwar nur eine kleine Nebenrolle. Aber besser als Schildesche ist das allemal. Im Mai soll es mit dem nächsten Karrieresprung klappen. Dann will er in den Landtag einrücken und dort womöglich den Oppositionsführer geben.

Unter den Rechtspopulisten in Deutschland und Europa darf er jetzt schon in der ersten Reihe mitspielen. In Europa treibt er die Suche seiner Partei nach rechten Bündnispartnern voran, sitzt mit Front National-Chefin Marine Le Pen an einem Tisch und steht mit FPÖ- Obmann Heinz-Christian Strache auf der Bühne. In Deutschland ist er wichtigster Bündnispartner - und frisch vermählter Ehegatte - von AfD-Bundessprecherin Frauke Petry.

Früher als viele andere begann er, sich rechts von Parteigründer Bernd Lucke zu profilieren. Beim AfD-Parteitag, der ihn Anfang 2014 als Kandidaten fürs EU-Parlament nominierte, erklärte er demonstrativ seine Ablehnung gegen die Bildung einer Fraktion mit den britischen Konservativen, die Lucke favorisierte. Pretzells Vorwurf: Die Tories würden mit „germanophoben“ Parteien in Polen und Tschechien zusammenarbeiten. In Brüssel fügte er sich dann aber doch Luckes Willen.

Im Jahr darauf standen die Zeichen für einen Frontalangriff gegen den Parteichef günstiger. Der Essener Parteitag vom Juli 2015, bei dem Lucke abgewählt wurde, war auch sein ganz persönlicher Triumph. Pretzell gab den Ton vor, als er an die Diskussion, ob die AfD „Euro-Partei“ oder „Pegida-Partei“ sei, erinnerte und seine Antwort gab: „Wir sind beides - und noch viel mehr!“ Als „kleine Volkspartei“ könne die AfD „vor keinem Thema davonlaufen“, rief er und nannte Zuwanderung und Asyl als Beispiele: „Wir müssen die Themen, die es gibt, bedienen.“

Fortan trieb es die AfD immer weiter nach rechts. Auf europäischem Feld stets mit Pretzells Zutun. Sichtbarstes Zeichen war im Februar 2016 ein in Düsseldorf stattfindender Kongress mit Petry, Strache und dem FPÖ-Generalsekretär Harald Vilimsky. Nach dem kurz darauf folgenden Rauswurf aus den Reihen der konservativen Abgeordneten wurde Pretzell Mitglied der Fraktion Europa der Nationen und der Freiheit (ENF), die vom französischen Front National dominiert wird und der Mitglieder der FPÖ, der italienischen Lega Nord, der Wilders-Partei PVV und des Vlaams Belang angehören.

Pretzell praktiziert eine Art Doppelstrategie. Während er international die Zusammenarbeit von Rechtspopulisten vorantreibt, pflegt er im heimischen NRW softere Töne. Das missfällt den Anhängern von „rechteren“ Gruppen im Landesverband. Zuweilen erinnern sie an seine privaten Kalamitäten, etwa an Pretzells Probleme mit dem Finanzamt, die dazu führten, dass das Landesverbandskonto vorübergehend gepfändet war. Über die Monate entstand in der Partei das Bild eines Tricksers. Auch nach den Turbulenzen rund um die letzten Landesparteitage dürfte er dieses Image nicht so schnell loswerden.

Vom Kampf gegen Windmühlen | Die AfD und der Klimaschutz

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Die Klimaschutzpolitik sei ein Irrweg, lässt die AfD in ihrem Grundsatzprogramm verlautbaren. Schließlich wandle sich das Klima seit Anbeginn der Erde. Der Mensch und seine Wirtschaftsweise haben darauf laut AfD keinen Einfluss, weil C02 „kein Schadstoff, sondern ein unverzichtbarer Bestandteil allen Lebens“ sei. Die Partei meint sogar: „Je mehr es davon in der Atmosphäre gibt, umso kräftiger fällt das Pflanzenwachstum aus.“

An der Formulierung dieser Positionen wirkte maßgeblich Christian Blex aus Wadersloh-Liesborn mit, Sprecher und Gründungsmitglied des seit Ende 2013 bestehenden AfD-Kreisverbandes Warendorf im Münsterland, wo er 2014 als einer von zwei AfD-Vertretern in den Kreistag gewählt wurde. Der Lehrer an einem Gymnasium in Ennigerloh und promovierte Mathematiker ist Mitglied des AfD-Bundesfachausschusses Energie, Technik und Infrastruktur und gilt als innerparteilicher Experte für Energiepolitik. In seiner Bewerbungsrede bei der Landeswahlversammlung in Werl nannte Blex das Thema Kernenergie in Deutschland derzeit so „verbrannt“, dass man sich mit Äußerungen dazu besser vorerst zurückhalte. Gleichwohl lehnt die AfD in ihrem Bundespogramm die Ausstiegsbeschlüsse ab und setzt sich für längere Laufzeiten und neue Forschung zur Kernenergie ein.

Blex greift in seinen zahlreichen Vorträgen vor allem die von der Bundesregierung angestrebte Energiewende und das Erneuerbare Energie Gesetz (EEG) an, das die Förderung von Wind- und Solarenergie regelt. Für ihn handelt es sich dabei um „grüne Weltrettungsfantasien“, die technisch unmöglich und nicht finanzierbar seien. Er wisse, im Gegensatz zur „grünen Bessermenschin“, dass „der Wind weht, wann er will“ und dass „nachts keine Sonne scheint“. „Der eigentliche Zweck von Wind und Voltaik“ sei es, auf Kosten der steuerzahlenden Bevölkerung „die Taschen der grünen Ökoprofiteure zu füllen“, so Blex bei einer Veranstaltung des compact-Magazins im August 2016 in Lage.

Blex behauptet, die „kleinen Leute“ müssten mit den „Zwangssubventionen“ für die Ideen einer inkompetenten Elite und weniger Profiteure zahlen. Dieselbe „ökoreligiöse“ Elite enthalte den Leuten „günstige Energie“ vor. Er ordnet die Energiewende-Politik als Teil der „ideologischen Bevormundung“ durch diese Eliten ein. Das EEG bezeichnet er als „Ökoplanwirtschaft par excellance“, entwickelt von dem „Sozialisten“ Jürgen Trittin. In einer Rede am 16. März 2016 in Erfurt meinte Blex gar: „Der Geist der grün-bessermenschlichen Unfreiheit der dafür [die Energiewende] verantwortlich ist, ist der gleiche, der auch für die Masseneinwanderung verantwortlich ist.“

Zwar versucht Blex stets technische Argumente gegen die Nutzung erneuerbarer Energien anzubringen. Da er aber, wie er beiläufig in seinem compact-Vortrag sagte, „nicht an den menschengemachten Klimawandel glaube“, sieht er gar keine Notwendigkeit, die Nutzung fossiler Energie zu problematisieren und über Alternativen nachzudenken. Blex bedient also die Thesen der „Klimaskeptiker“, die den anthropogenen Klimawandel für eine Verschwörung halten. Eine weitere Leerstelle fällt ins Auge: Während Blex gegen die „Ökoprofiteure“ wettert, erwähnt er die auf Profitmaximierung ausgerichteten Energiekonzerne mit keinem Wort.

Die AfD versucht zudem, sich zum Sprachrohr von Bürgerinitiativen gegen Windenergie zu machen. Im April 2015 stellte Blex bei der Landespressekonferenz die Volksinitiative „Windkraft auf Abstand — Ja zu 10 H“ vor. Das Projekt ist mittlerweile eingeschlafen.

Innerparteilich gehört Blex zu den Anhängern von Björn Höcke. Mit seinem Bruder Klaus zählte er zu den ersten fünf Amts- und Mandatsträgern aus NRW, die die „Erfurter Resolution“ der völkisch-nationalistischen Sammlungsbewegung „Der Flügel“ unterschrieben. Mit weiteren westfälischen Funktionären initiierte er im Winter 2015 eine eigene „Demonstrationspolitik“ nach thüringischem Vorbild (vgl. LOTTA # 61, S. 18f). Christian Blex wurde auf Platz 14 der AfD-Liste für die Landtagswahl gewählt.

Gehirnwäsche-Forscher und Chemtrail-Experten | Das verschwörungstheoretische Umfeld der AfD

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Vor zwei Jahren galt es noch als unschicklich, in der AfD allzu verschwörungstheoretisch unterwegs zu sein. Im Herbst 2016 war es hingegen förderlich, wenn man in den Landtag will.

In den fünf Bezirksvorständen der AfD hatte man im Herbst 2014 eine Idee. Der AfD sollte Wissen vermittelt werden. Und wie es sich für eine Partei gehört, die das „Alternative“ im Namen trägt: alternatives Wissen. „DIE Plattform für ,Alternatives Denken“ wollte man schaffen: mit einem „Alternativen Wissenskongress“ (AWK) in Witten und mit Referenten, die „Klartext statt 'politisch korrekt' reden“.

Dies waren unter anderem: Compact-Chef Jürgen Elsässer, Andreas Popp, einer der Macher der Wissensmanufaktur, und Eberhard Hamer, der Leiter eines Mittelstandsinstituts Niedersachsen, dessen „krudes Weltbild“ die FAZ so zusammenfasst: „Eine Weltregierung aus wenigen wohlhabenden amerikanischen Familien habe einst den Plan ausgeheckt, sich die Welt untertan zu machen.““

Den auf ein halbwegs seriöses Erscheinungsbild bedachten Parteigründer Bernd Lucke packte das Grausen. „Unter den Referenten scheinen sich Verschwörungstheoretiker und Wirrköpfe zu befinden“, befand er. Sogar Landeschef Marcus Pretzell setzte sich ein wenig von den Initiatoren ab. Ihm fehlte die „Ausgewogenheit“: „Man kann über alles diskutieren, aber dann müssen auch Vertreter unterschiedlicher Auffassungen an einen Tisch.“ Sein Landesvorstand habe mit der Veranstaltung nichts zu tun.

Luckes Rat, ihr Konzept zu überdenken, schlugen die Organisatoren in den Wind. Allerdings wurde der Veranstalter „formal“ ausgetauscht. Statt der AfD-Bezirke lud ein eilig gegründeter Verein zur Förderung des politischen Dialogs ein. Die Crew der Organisatoren blieb zusammen: Sebastian Schulze, Vorsitzender des Vereins und Vize-Sprecher im AfD-Bezirk Arnsberg, Udo Hemmelgarn und Ingo Schumacher, Chefs der AfD-Bezirke Detmold und Köln, sowie Nic Vogel, damals stellvertretender Sprecher des Bezirks Düsseldorf.

Sie hatten Erfolg. Ihr Kongress wurde schon nach der ersten Auflage zu einem Event für die Rechtsaußen in der Partei und für Verschwörungstheoretiker jeder Couleur. Beim zweiten AWK Ende Februar 2016 trat unter anderem Michael Vogt (vgl. LOTTA #60) auf, der zuweilen für eine „revolutionäre Neuordnung“ und die „Abschaffung des Parteienstaates“ zur „Herstellung wirklicher Volksherrschaft“ plädiert. Mit von der Partie war auch Christoph Hörstel. Verschwörungsgläubige empfinden ihre helle Freude, wenn er „Schluss mit 'Chemtrail'-Einsätzen gegen die Bevölkerung!“ fordert. „Seien Sie dabei, erfahren Sie alternatives Wissen aus erster Hand“, warben die Kongress-Organisatoren für ihre Veranstaltung.

Derlei Wissen sollte es auch beim ersten „Alternativen Netzwerktreffen“ der AWK-Organisatoren Mitte November geben. Als „Quelle des Wissens rund um die Souveränitätsbewegung“ priesen sie ihren Referenten Arne Freiherr von Hinkelbein an, von dem zu erfahren ist, dass Staaten nur Vereine, die Gesetze der letzten 60 Jahre nichtig und die Regierungsmitglieder „Putschisten“ sind. Erwartet wurde auch Wolfgang R. Grunwald, der „Gründer des 'Instituts für politische Gehirnwäsche-Forschung und Befreiungs-Psychologie'“.

Die Delegierten der NRW-AfD wählten Nic Vogel auf Platz neun ihrer Landesliste. Vorgestellt hatte er sich als Mitglied im Gründungsausschuss und im AWK-Orga-Team. Das Mandat ist ihm so gut wie sicher. Bleibt die Frage, ob künftig bei Expertenanhörungen im Landtag auch Gehirnwäsche-Forscher oder Chemtrail-Experten auftreten werden.

Besetzung des öffentlichen Raums | Die Straßenpolitik der AfD am Beispiel Ostwestfalen

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Seit Herbst 2015 führte die AfD insgesamt 19 Demonstrationen und Kundgebungen in NRW durch, die überwiegende Mehrheit davon organisierten die AfD-Kreisverbände Warendorf und Paderborn. Gerade in der ostwestfälischen Domstadt entwickelte die AfD eine eigene Straßenpolitik.

Inspiriert wurden die ersten Demonstrationen der AfD in NRW im Herbst 2015 von den wöchentlichen „Spaziergängen“ in Erfurt mit bis zu 8.000 Personen. In den Kleinstädten Oelde und Salzkotten versammelten sich im November und Dezember nur wenige hundert DemonstrantInnen. Im Zuge der rassistischen Mobilisierungen nach den sexualisierten Übergriffen in der Silvesternacht 2015/16 stieg die Zahl der Teilnehmenden in Paderborn am 15. Januar 2016 zwar auf 800, in den folgenden Monaten sank sie jedoch kontinuierlich. Selbst als die AfD anlässlich einer Ansprache Merkels auf dem „Deutschlandtag“ der Jungen Union am 15. Oktober 2016 gegen die Politik der Kanzlerin mobilisierte, fiel diese Demonstration mit etwa 250 AnhängerInnen deutlich kleiner aus als die zu Beginn des Jahres. Zu einer als Wahlkampfauftakt für die Landtagswahlen 2017 deklarierten Kundgebung am 25.11.2016 in Paderborn kamen dann nur noch 60 Interessierte.

Als Organisatoren der von Januar bis Mai monatlich stattfindenden Demonstrationen trat der AfD Kreisverband (KV) Paderborn in Erscheinung, der dabei rege Unterstützung durch den KV Warendorf erhielt. Mehrfach traten der Vorsitzende des KV Warendorf, Christian Blex, als auch die Vorsitzenden aus Paderborn, Günter Koch und Minden-Lübecke, Thomas Röckemann, als Redner auf. Auch überregionale Parteiprominenz erklomm den als Bühne fungierenden Anhänger. Unter anderem sprachen die NRW-Landesvorsitzenden Marcus Pretzell und Martin Renner sowie der Essener Stadt-
rat Guido Reil. Im Mai 2016 trat mit Björn Höcke der völkische Rechtsaußen der AfD als „Star“-Redner auf. Unter den TeilnehmerInnen, die Höckes Hetze gegen Geflüchtete und die Demokratie lauschten, befanden sich auch ehemalige Aktivisten der verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend und der neonazistischen Artgemeinschaft.

An den ersten Demonstrationen der AfD Ende 2015 beteiligten sich Aktivisten der Partei Die Rechte und dominierten diese mit Nazi-Parolen, die auch von anderen TeilnehmerInnen aufgegriffen wurden. Bei ihrer zweiten Demonstration versuchte sich die AfD verbal von der militanten Naziszene abzugrenzen, indem Die Rechte-Funktionär Sascha Krolzig vom Anmelder medienwirksam ausgeschlossen wurde. Andere Nazis konnten jedoch ohne Probleme teilnehmen. Das Interesse der organisierten Nazis an den AfD-Demonstrationen verschwand jedoch schnell. Anlässlichdes Merkel-Besuchs beim Deutschlandtag der JU organisierte Die Rechte eine eigene unangemeldete Kundgebung zeitgleich zur AfD-Veranstaltung.

Der AfD in Ostwestfalen gelang es, sowohl rassistische WutbürgerInnen, verschwörungsideologische „Reichs-
bürger“, rechte Hooligans, PEGIDA-AktivistInnen, AnhängerInnen der Identitären Bewegung als auch militante Nazis für ihre Kundgebungen und Demonstrationen zu mobilisieren und sich als Teil einer rechten Bewegung und außerparlamentarischen Opposition gegen das „Establishment“ darzustellen.

Zwischen provokativ und staatstragend | Die „Junge Alternative“

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Die „Junge Alternative“ (JA) tut das, was alle Jugendorganisationen tun: Sie positioniert sich ein Stück jenseits der offiziellen Linie der Mutterpartei, sie bietet eine Spielwiese für den Nachwuchs und bindet gleichermaßen die Führungskräfte von morgen ein.

„Wir sind es den Soldaten, Polizisten und Beamten unter uns schuldig, eine klare Linie zu ziehen. Und das machen wir auch“, ließ Sven Tritschler aus Köln, einer der beiden Bundesvorsitzenden der JA mit Blick auf die Identitäre Bewegung (IB) verlauten, nachdem die Verfassungsschutzbehörden erklärt hatten, die Organisation beobachten zu wollen. Die Realität sieht jedoch anders aus: An vielen Orten mischt die IB bei der AfD-Jugendorganisation mit — so bei der Gründung der JA in Paderborn im Januar 2014 (siehe LOTTA #64, S. 14).

Die taktisch motivierte Aussage ist vielmehr einer Arbeitsteilung geschuldet. Trischtler gibt den staatstragenden Nachwuchspolitiker, während sein Kollege Markus Frohnmaier mit Aufstandsparolen und Pöbeleien gegen Politiker*innen anderer Parteien die mediale Aufmerksamkeit sichert und den rechten Rand einbindet. Damit inszeniert sich die JA innerhalb der AfD auch als stabilisierende Säule, die angeblich über einem Flügelstreit stehe.

Tritschler und Frohnmaier galten schon immer als Lucke-Gegner. Schon früher als andere Funktionäre der AfD suchten sie den direkten Kontakt zu den Jugendorganisationen extrem rechter und rechtspopulistischen Parteien wie der FPÖ und SVP, dem Front National, den Wahren Finnen und Putins Einiges Russland. Bereits 2014 fand in Köln eine JA-Veranstaltung mit Nigel Farage von der UKIP statt — damals noch gegen den erklärten Willen Luckes. Die JA probiert aus, was politisch möglich ist und fungiert damit als eine der rechten Triebkräfte innerhalb der AfD.

Das gilt auch für die vielen „Provokationen“ aus den Reihen der JA, die rassistische Positionen und auch entsprechende politische Lösungsvorschläge sagbar und damit gesellschaftsfähiger machen sollen. Am 31. Dezember 2016 postete die JA NRW ein Foto einer jungen  Frau mit einer Repetierflinte in der Hand. „Wir wünschen allzeit eine Armlänge Abstand“ stand darunter, eine Anspielung auf die Silvesterereignisse 2015/16. Die Kölner Oberbürgermeisterin hatte im Nachgang empfohlen, als Frau in Zukunft eine „Armlänge Abstand“ zu halten, um möglichst nicht belästigt zu werden.

Die 2013 gegründete und 2015 offiziell als Jugendverband der AfD anerkannte JA versucht sich im jugendgemäßen Aktionismus. Im Juli 2016 führte sie beispielsweise einen   „Flashmob“ gegen eine Kundgebung von AKP-Anhänger*innen durch, bei dem JA-Mitglieder vollverschleiert oder mit Plakaten wie „Scharia statt Grundgesetz“ durch die Kölner Innenstadt liefen. Die JA in Köln, eine der Hochburgen der Jungen Alternativen, berichtet im Netz regelmäßig über ihre Aktivitäten: Wandertag, Fußballturnier, Weihnachtsmarkt… Natürlich gibt es auch Vortragsveranstaltungen. Dass diese insbesondere finanzpolitische Themen berühren, ist kein Zufall. Ist doch der Lehramtsstudent Carlo Clemens nicht nur Vorsitzender des JA-Bezirksverbandes Köln, sondern auch Leiter des Kölner Hayek Clubs. Der Verfasser von Texten im neurechten Jugendmagazin Blaue Narzisse ist gleichzeitig Beisitzer in der Kölner AfD. Auch über andere Personen ist die JA im Zentrum des lokalen und bundesweiten Apparates verankert. Die Wege für Parteikarrieren sind bereitet.

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